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Leserbrief zum Artikel 75 Jahre Tag der Befreiung: Es geht nicht um Geschichte vom 06.05.2020:

Wichtige Erinnerung

Dank späterer Geburt erlebte ich diesen Tag selbst nicht. Aber die Erinnerung an ihn gehört zu unserer Familiengeschichte. Mutter erzählte oft von ihm: Es muss am 7. Mai 1945 gewesen sein. Die Rote Armee hatte unser kleines Dorf erreicht. Ein letztes Gefecht zwischen einer Wehrmachtseinheit und den Russen fand über die beiden Dorfanhöhen hinweg statt. Es gab heftigen Artillerieschusswechsel. Die Dörfler hatten sich vor Angst in die Keller verkrochen. Mutter war mit meiner sechsjährigen Schwester in den tiefen Kartoffelkeller das Nachbarbauern geflüchtet. Vater war in Gefangenschaft. Dort saß sie mit den Nachbarn und hörte die orgelnden Granaten. Da fiel Mutter ein, sie hatte ihre Tasche mit den Papieren und dem bisschen Geld in ihrer Dorfkate stehen lassen. Mit dem Kind läuft sie noch einmal hinüber, um die Tasche zu holen. Die Russen sind im Dorf. Als sie durch die Hintertür in Nachbars Haus zurückkommt, steht sie im Hausflur einem bewaffneten Russen gegenüber. Zwischen ihr und dem Russen plätschert das Wasser im Hauswassertrog. Ein Augenblick der Totenstille. Er hat die Maschinenpistole im Anschlag. Sie schreit auf. Drückt ihre Tochter angstvoll hinter sich und fleht den Russen an: »Wenn du schießt, dann erst auf mich.« Der schaut sie ruhig an. Er senkt das Gewehr, tritt besonnen auf sie zu und sagt: »Du Frau, dumm.« Er greift in seine Hosentasche und nimmt eine Handvoll Würfelzucker heraus, die er meiner Schwester in die Schürzentasche schiebt. Dann greift er nach den im Wassertrog schwimmenden gefüllten Buttermodeln, steckt sie in seinen Schultersack und geht hinaus. Das war Mutters Tag der Befreiung, von dem sie oft erzählte. Vielleicht waren in unserem Dorf nur »gute Russen«, wer weiß das heute so genau? Der Mai ’45 war warm, frühlingshaft. Die Russen konnten auf den Bauernwiesen bereits Gras für ihre Pferde mähen. Von Übergriffen hat Mutter später nichts erzählt, aber davon, dass Russen in ihren Gulaschkanonen Eintopf gekocht und die Kinder der Dorfarmut daraus manchen Schlag in ihre hinzu getragenen Milchkrüge bekommen haben. Aber es ist unstrittig, so war die Befreiung nicht überall, man hat auch anderes gehört, von jenen, die es erlebt haben.
Norbert Staffa, Großolbersdorf
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