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Aus: Antifaschismus, Beilage der jW vom 06.05.2020
75 Jahre Tag der Befreiung

Es geht nicht um Geschichte

Für die Mehrheit der Menschheit bleibt die Befreiung Europas vom Faschismus ein Festtag. Der Frieden, für den er steht, ist aber so gefährdet wie lange nicht
Von Arnold Schölzel
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Farbe für Parolen hatten die Nazis bis zum Schluss: Erinnerungsfoto mit Major Rogatschewski in der Einbecker Straße in Berlin-Lichtenberg, Mai 1945

Vor 75 Jahren wurde Europa vom Faschismus befreit. Im Jahr 2020 aber ist der Kontinent weiter von einem System kollektiver Sicherheit unter Einschluss Russlands entfernt als im Kalten Krieg. Ein solches Vertragsgeflecht mit Einbindung der Sowjetunion wurde in den 30er Jahren systematisch von den Westmächten, osteuropäischen Staaten sowie von Nazideutschland verhindert. Diese Politik gipfelte 1938 im Münchener Abkommen, mit dem Großbritannien und Frankreich die Tschechoslowakei Hitler zum Fraß vorwarfen. Polen und Ungarn bedienten sich ebenfalls territorial. Klar war damit: Der Faschismus sollte auf die Sowjetunion, die bereits Kämpfe mit Japan im Osten austrug, losgelassen werden. Heute ist die Frage berechtigt, ob diejenigen in NATO und EU, die für »Nie wieder Frieden mit Russland« und »Faschismus war im Kampf gegen den Kommunismus legitim« stehen, bestimmenden Einfluss auch auf die deutsche Außenpolitik gewinnen.

Das hängt von Interessen der Herrschenden und vom Widerstand in der Bevölkerung ab. Die Tendenz zu nationalem Größenwahn und das Gefallen Finden an militaristischem »Säbelrasseln«, so Frank-Walter Steinmeier 2016, sind jedoch unübersehbar. Lehren aus dem 8. Mai 1945 zu ziehen, sieht anders aus.

Genauer gesagt: Alles deutet darauf hin, dass sich Unheil zusammenbraut. Hier seien drei Belege genannt. Am 19. September 2019 verabschiedete das EU-Parlament mit 535 Ja- gegen 66 Neinstimmen bei 52 Enthaltungen eine Erklärung, in der zu lesen ist, dass der Zweite Weltkrieg »als unmittelbare Folge des auch als ›Hitler-Stalin-Pakt‹ bezeichneten berüchtigten Nichtangriffsvertrags zwischen dem nationalsozialistischen Deutschen Reich und der Sowjetunion vom 23. August 1939 und seiner geheimen Zusatzprotokolle ausbrach.« Beide Regimes hätten nämlich »gleichermaßen das Ziel der Welteroberung« verfolgt. Woraus sich schließen lässt, dass Hitler und seine Generäle nach Ansicht der Urheber dieses Papiers den Krieg zwar nicht geplant hatten, sich aber dennoch einen Wettlauf mit der Sowjetunion um dessen Entfesselung lieferten. Geschichtsrevisionismus muss nicht in sich folgerichtig sein. Es geht nicht um Geschichte.

Der Propaganda folgten reale Soldaten und Panzer. Rund um den 8. Mai 2020 sollte das US- und NATO-Manöver »Defender 2020« stattfinden, das größte Manöver seit 25 Jahren, laut Deutschlandfunk eine »blitzartige Truppenverlegung«. Die Pandemie kam dazwischen. Den Planern war der 75. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus zumindest gleichgültig, hier sollte vor allem signalisiert werden: Wir können Krieg.

Welche Bedeutung der 9. Mai als »Tag des Sieges« für Russland hat, das wird ganz bewusst gegenüber der Bevölkerung Westeuropas kaum thematisiert. In der alten wie in der seit 1990 erweiterten Bundesrepublik hat es offiziell nie eine besondere Rolle gespielt, dass mehr als 27 Millionen Einwohner der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg ihr Leben verloren. Im Gegenteil: NATO und EU sind auf antisowjetischem Hass aufgebaut, heute auf antirussischem.

Dafür steht auch das, was in Prag am 3. April geschah: An diesem Tag wurde das Denkmal für Iwan Konew, Marschall der Sowjetunion und Befreier der tschechischen Hauptstadt, abgerissen. Wer die Bilder und Filmaufnahmen kennt, die zeigen, wie Konew von begeisterten Menschen 1945 gefeiert wurde, ahnt, woher die heutigen Vandalen ihre Motive beziehen. Um Frieden geht es ihnen keinesfalls.

Sie alle – EU-Abgeordnete, NATO-Strategen und Denkmalstürmer – machen aber ihre Rechnung ohne die Kraft, die nach wie vor von den Geschehnissen und Bildern des 8. Mai 1945 weltweit ausgeht. Neben der Oktoberrevolution von 1917 war der Sieg über den Faschismus das bedeutendste Ereignis des 20. Jahrhunderts. Die Kette imperialistischer Kriege schien zerrissen. Dieses Erbe aber ist gefährdet wie lange nicht.

Die Bilder dieser Beilage entnahmen wir dem Band »Berlin Mai 1945 – Valery Faminsky«, erschienen bei Buchkunst Berlin (184 Seiten, 48 Euro). Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung zum Abdruck.

Valery Faminsky (1914-1993) war Frontfotograf für das Militärmedizinische Museum der Roten Armee. In Berlin arbeitete er vom 22. April bis zum 24. Mai 1945. Sein Archiv wurde 2016 in Moskau wiederentdeckt.

buchkunst-berlin.de

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Leserbriefe zu diesem Artikel:

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