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No G20

No G20

Hamburg empfing am 7. und 8. Juli 2017 Staatschefs und Vertreter der EU zum G-20-Gipfel der wichtigsten Industrie- und Schwellenländer. Sie erwartete eine große und kreative Protestbewegung.

  • · Berichte

    »GAU für den Rechtsstaat«

    Wissenschaftler und Juristen sehen nach Skandalen beim G-20-Gipfel drohende Verfassungskrise
    Anselm Lenz
    G20_Protest_Camp_in_53938330.jpg
    Bereits am Sonntag vor dem Gipfel begann der Rechtsbruch, Polizeihundertschaften marschieren auf und stürmen Zeltlager in Entenwerder

    Das Treffen der Staats- und Regierungschefs der »G 20« hat nach Einschätzung von Juristen die Bundesrepublik in eine Verfassungskrise gebracht. Während Regierungsvertreter nach den Unruhen in Hamburg härteste Verfolgungen Verdächtiger verkündeten, sehen unabhängige Juristen den Rechtsstaat in grundsätzlicher Gefahr oder als teilweise nicht mehr gegeben an.

    Peer Stolle, Vorsitzender des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins, sieht die Bundesrepublik nach dem G-20-Gipfel in der Verfassungskrise, zentrale Grund- und Freiheitsrechte seien massiv verletzt worden. »Wenn Olaf Scholz (SPD, Regierungschef in Hamburg) sich jetzt hinstellt und sagt, die Polizei habe alles richtig gemacht, ist das schon eine Missachtung demokratischer und rechtsstaatlicher Prinzipien«, erklärte Stolle gegenüber jW. Das verfassungsmäßige Gewaltenteilungsprinzip sei bereits beim Angriff der Polizei auf das Zeltlager in Entenwerder am 2. Juli gebrochen worden. Stolle bearbeitet derzeit die willkürliche Inhaftierung von Demonstranten und Anwälten im eigens eingerichteten Gefangenenlager (»Gesa«) in Hamburg-Harburg.

    Auch Gabriele Heinecke, Rechtsanwältin vom Anwaltlichen Notdienst G 20, sieht das Grundrecht der Versammlungsfreiheit ernsthaft in der Krise. Insbesondere die anlässlich des G-20-Gipfels erdrückende Polizeipräsenz stelle das Demonstrationsrecht als Freiheitsrecht grundsätzlich in Frage. Im Zusammenhang mit dem Zeltlager in Entenwerder habe die Polizei »vorsätzlich und rechtswidrig einen entgegenstehenden Beschluss des Verwaltungsgerichts unterlaufen«, erklärte sie dieser Zeitung. Sie »vermisse den Respekt der Verantwortlichen der Polizei vor den Grundrechtsgaran­tien«. Für die Ausrichtung des Gipfels hätte es zudem zuvor ein Plebiszit geben müssen.

    Der Richter am Bundesgerichtshof a. D. Wolfgang Neskovic verwies gegenüber jW insbesondere auf eine Einschätzung des Juristen und Lehrbeauftragten an der Universität Düsseldorf Udo Vetter, der er sich voll und ganz anschließe. Der Verfassungsbruch durch die Polizei und die politisch Verantwortlichen habe bereits mit der Instrumentalisierung des sogenannten Vermummungsverbotes für massive Angriffe auf den Demonstrationszug und Passanten am vergangenen Donnerstag begonnen, wie Vetter der Tageszeitung Taz darlegte. Die Demonstration unter dem Motto »Welcome to Hell« war auf der St.-Pauli-Hafenstraße angehalten und angegriffen worden.

    Die Vermummung durch Mundtuch, Sonnenbrille und Mütze sei ein »Bagatelldelikt«, und komme etwa auch in Fußballstadien vor, die deshalb trotzdem nicht polizeilich gestürmt würden. Auch stelle sich die Frage, wie viele Menschen überhaupt ein Gesichtstuch getragen hätten. Es habe zudem angesichts der massiven Ausweitung der Erfassung durch Kameras und Dateisysteme auch Gründe dafür gegeben, sich unkenntlich zu machen. Die bislang noch nicht bewiesene Anwesenheit verdeckter Ermittler der Polizei im »schwarzen Block« – die laut Vetter eine aktive Rolle bei den Ausschreitungen gespielt haben könnten – »wäre ein absoluter GAU für unseren Rechtsstaat«. Diese Form der Infiltrierung habe in Hamburg bereits eine »schmerzliche Geschichte«. Neskovic erklärte, dass er sich all diesen Einschätzungen vollständig anschließe.

    Der Linke-Politiker Gregor Gysi hatte sich bereits 2015 dementsprechend geäußert: »Ich bin kein Verschwörungstheoretiker, aber ich habe immer den Eindruck, dass bestimmte V-Leute geradezu zur Gewalt animieren, um das politische Anliegen totzumachen«, hatte er damals der Deutschen Presseagentur gesagt. »Denn dann diskutieren wir hinterher bloß noch über die Gewalt – und nicht mehr über das eigentliche Anliegen.« Zuletzt war die Hamburger LKA-Beamtin Iris Plate enttarnt worden, die unter dem Namen Iris Schneider sechs Jahre lang einen unabhängigen Radiosender und das Kulturzentrum Rote Flora aktiv unterwandert hatte.

    Auch beim G-8-Gipfel 2007 in Heiligendamm soll es verkleidete Polizisten im sogenannten schwarzen Block gegeben haben, die als taktische Provokateure aufgetreten sind, um einen Anlass zur Räumung zu fingieren.

  • · Interviews

    »Polizei ging mit Gewalt gegen Personen vor«

    G-20-Gipfel: Grundrechtekomitee beobachtete Demonstrationen. Versammlungsfreiheit immer wieder eingeschränkt. Gespräch mit Elke Steven
    Markus Bernhardt
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    Wasserwerfer der Polizei werden gegen Protestierende bei der »Welcome to Hell«-Demonstration eingesetzt (6. Juli)

    Als Vertreterin des Komitees für Grundrechte und Demokratie haben Sie in den vergangenen Tagen die Polizeieinsätze rund um den G-20-Gipfel in Hamburg beobachtet. Wie fällt Ihr Fazit aus?

    Wir haben gesehen, in welchem Maße die Polizei in diesen Tagen das Geschehen in der Stadt bestimmt hat. Sie hat die Situation eskaliert, Bürger- und Menschenrechte ignoriert. Sie informierte die Öffentlichkeit falsch und ging mit Gewalt gegen Personen vor. Das, was wir in dieser Woche erlebt haben, geht noch über das hinaus, was wir befürchtet hatten. Es wurden nicht nur die Grund- und Menschenrechte auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit durch eine Allgemeinverfügung außer Kraft gesetzt. Sondern die Polizei hat, gedeckt von der hamburgischen Regierung und vermutlich auch im Sinne der Innen- und Sicherheitsbehörden des Bundes, den Ausnahmezustand geprobt.

    Haben Sie Beispiele?

    Es gab Versammlungen, bei denen die Polizei Grundrechte zugestand. Das gilt etwa für die Nachttanzdemo am vergangenen Mittwoch abend. Bei anderen Veranstaltungen, etwa jener am Samstag, kontrollierte die Polizei das Geschehen mehrfach und griff regulierend ein. Und es gab die »Wellcome to Hell«-Demo, die die Polizei nach wenigen Metern stoppte und regelrecht angriff. Das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit ist jedoch ein Menschenrecht, das nicht nach polizeilichen Vorstellungen und Gutdünken gewährt oder verwehrt werden kann. Im Gegenteil, es ist das Recht der Bürger, selbst über Zeit, Ort und Gestaltung ihres Protestes zu entscheiden.

    Schon im Vorfeld des Gipfels setzte die Polizei sich über Gerichtsurteile hinweg und verhinderte den Aufbau eines Camps. Inwiefern hat das gewalttätige Proteste befördert?

    Eine solche Kausalität würde ich nicht herstellen. Viele Bürger waren empört, als die Polizei sich über das Urteil des Verwaltungsgerichts hinwegsetzte und die Menschen nicht wenigstens in das Camp ließ, das das Gericht ihnen zugestanden hatte. Das widerspricht dem Gebot der Rechtsstaatlichkeit. Sie waren auch aufgebracht wegen der Gewalt, mit der die Polizei die »Wellcome to Hell«-Demonstration angriff. Erstaunlich war viel eher, dass sich trotzdem immer wieder große Gruppen zum friedlichen Protest zusammenfanden und sich das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit nahmen. Am letzten Samstag kamen mehr als 70.000 Menschen zur Großdemonstration »Grenzenlose Solidarität statt G 20«. Selbst die hat die Polizei angegriffen und eine Gruppe aus dem Zug herausgerissen.

    Aus manchen Demonstrationen heraus wurden auch Gegenständen geworfen – als Reaktion auf diese polizeiliche Gewalt, aber die Versammlungen blieben insgesamt weitgehend friedlich. Die Krawalle in den Nächten müssen anders betrachtet werden. Aber um diese »Riots« oder »urbanen Aufstände« zu verhindern, muss zunächst noch viel Aufklärungs- und Analysearbeit geleistet werden. Über Ausmaß, Hintergrund und Zusammensetzung können wir, die wir die Versammlungen beobachtet haben, nichts sagen.

    Vielerorts kam es auch zu polizeilichen Übergriffen auf Journalisten, Rechtsanwälte und sogar Sanitäter. Hat Sie deren Ausmaß überrascht?

    Wirklich überraschend war das nicht, aber es scheint mehr und selbstverständlicher zu werden. Erst recht dann, wenn diese Berufsgruppen ihre Arbeit in solidarischem Bezug zu den Protesten ausüben.

    Auch mit Maschinenpistolen bewaffnete Beamte waren im Einsatz.

    Die für Antiterroreinsätze geschulten Spezialeinheiten SEK und GSG9 sind im Schanzenviertel eingesetzt worden. Aber gefährlich war an mehreren Stellen auch das Vorgehen gegen die Versammlungen. Polizeibeamte liefen ohne Zeitdruck, die Schlagstöcke schwingend, schnell in Versammlungen hinein und erzeugten Panik. Mehrmals liefen Menschen angsterfüllt Treppen und Wiesen hoch oder überkletterten Mauern. Schwere Verletzungen wurden bei solchen Einsätzen in Kauf genommen.

    Was sagt all das über die Achtung der Grund- und Freiheitsrechte in der Bundesrepublik aus?

    Um sie ist es schlecht bestellt. Aber es ist ermutigend, in welchem Ausmaße die Bürger trotz alledem selbst ihre Rechte verteidigen und sich nicht entmutigen lassen. Dafür steht auch die Großdemonstration von Samstag.

  • · Blog

    Sonderkommission zu G-20-Krawallen

    Bange Tage für Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz (l.), seinen Sitznachbarn Andy Grote (Innensenator) und – rechtsaußen – G-20-Einsatzleiter Hartmut Dudde

    Müssen Bürgermeister Olaf Scholz, Innensenator Andy Grote (beide SPD) und Einsatzleiter Hartmut Dudde nun zittern? Nach den schweren Ausschreitungen beim G-20-Gipfel in Hamburg richtet die dortige Polizei eine Sonderkommission ein. Ermittelt werden soll, wie es dazu kommen konnte, welche Strukturen sie ermöglichten und wer die Hintermänner sind. Hunderte Demonstranten und Polizeibeamte wurden während der Chaostage an der Alster verletzt, einige schwer. Es entstanden hohe Sachschäden durch zerstörte Autos und Geschäfte. Vorausgegangen waren repressive politische Entscheidungen, Rechtsbrüche und zahlreiche Übergriffe von Sicherheitskräften auf Demonstranten und Anwohner. Die Gewalttäter und jene, die sie führten und deckten, können sich dank der Einrichtung der Kommission nicht länger sicher fühlen. Die Aufenthaltsorte von mindestens drei Verantwortlichen dürften den Behörden bekannt sein.

  • · Berichte

    Knäckebrot, Wasser und drei Quadratmeter

    Kristian Stemmler
    Unsere Solidarität gegen ihre Repression: Demonstration zur Gefangenensammelstelle am Sonntag in Hamburg
    Für eine Welt ohne Knäste und Kapitalismus: Demonstration zur Gefangenensammelstelle am Sonntag in Hamburg
    Die Demonstration gegen die Repression zog auch am Büro der SPD Hamburg-Harburg vorbei

    Hinter dem Harburger Bahnhof ist es an diesem sonnigen Sonntag, einen Tag nach dem Gipfel, ruhig, fast idyllisch. Möwen kreischen, in der Ferne ist ein Hubschrauber zu hören, ab und zu Martinshörner. Die Ruhe nach dem Sturm? Tatsächlich zeigt das G-20-Treffen auch nach seinem Ende hier noch sein hässliches Gesicht. An dem abgelegenen Ort hat die Polizei in einem früheren Lager und in Containern einen provisorischen Gipfelknast mit 400 Haftplätzen errichtet, die sogenannte Gefangenensammelstelle (Gesa).

    Der Anwaltliche Notdienst (AND) erklärte gegenüber jW am Sonntag nachmittag, dass in der Gesa zu diesem Zeitpunkt noch schätzungsweise 100 Aktivisten festgehalten werden. Weitere rund 190 Gipfelgegner seien in Justizvollzugsanstalten in Hamburg-Billwerder, auf der Elbinsel Hahnöfersand und in anderen Bundesländern verlegt worden.

    Ihre Solidarität mit den Gefangenen bewiesen am Sonntag nachmittag mehrere hundert Gipfelgegner, die von der Harburger Innenstadt zur Gesa zogen. In einem kleinen Camp, dem »Prison Support« auf einem Parkplatz neben der Gesa, werden entlassene Häftlinge von Aktivisten empfangen, mit Essen und Trinken versorgt.

    Eine Anwältin und ein Anwalt, die jW vor den Toren des Knasts traf, schilderten die Haftbedingungen. Ihre Mandantin sei seit Stunden in einer etwa drei Quadratmeter großen, fensterlosen Einzelzelle mit weißen Wänden eingepfercht. »Sie sagte mir, sie fühle sich sehr beengt und dass man da jedes Zeitgefühl verliert«, so die Anwältin. Als Verpflegung gebe es nur Knäckebrot und Wasser. Der Anwalt sagte jW, Aktivisten hätten im Schnitt 14 bis 18 Stunden, zum Teil bis zu 30 Stunden in der Gesa verbringen müssen. Die Zusage der Polizei vor dem Gipfel, keiner werde mehr als zehn Stunden in dem Knast sitzen, sei nicht eingehalten worden.

    Die Gesa erinnert an einen Hochsicherheitstrakt in der Wildnis. Massive Stahlzäune umgeben das Areal, überall mit NATO-Draht verstärkt. Hier und in der benachbarten Außenstelle Neuland des Amtsgerichts Hamburg-Mitte, einer Art Schnellgericht, ist es laut Berichten zu Übergriffen auf Gefangene und einen Anwalt gekommen.

    Der G-20-Ermittlungsausschuss berichtete, Anwälte seien fünf Stunden lang nicht zu ihren Mandanten vorgelassen worden. Die Polizei habe die Situation genutzt, um erkennungsdienstliche Behandlungen durchzuführen, ärztliche Untersuchungen zu verschleppen und die Betroffenen in Unwissenheit über die Vorwürfe und das weitere Verfahren zu lassen. In der Nacht zum Sonnabend kam es in der Gesa zu einem Übergriff von mehreren Polizisten auf einen Anwalt. Ihm sei »ins Gesicht gegriffen« worden, berichtete der Anwaltsnotdienst (AND), man habe ihm den Arm verdreht und ihn »aus der Gesa geschleift«. Das »Vergehen«: Der Anwalt hatte der polizeilichen Anordnung widersprochen, dass sein Mandant sich nackt ausziehen sollte.

    Von einer willkürlichen Festnahme berichtete die Hamburger Anwältin Gabriele Heinecke auf einer Pressekonferenz im unabhängigen Pressezentrum am Sonnabend. Die Polizei habe 73 Gipfelgegner, die vom Camp im Volkspark zur Gesa ziehen wollten, in Gewahrsam genommen und in den Knast gebracht. Die Staatsanwaltschaft habe »flächendeckend« Haftbefehle beantragt – mit »den absurdesten Vorträgen«, so Heinecke. Den Festgenommenen sei »schwerer Landfriedensbruch« vorgeworfen worden, doch die Richter hätten keine Haftbefehle erlassen.

    Die Außenstelle Neuland bezeichnete Heinecke als »ein Sondergericht, das G-20-Gericht«. Dort herrsche »die Atmosphäre eines in der Wüste befindlichen Kriegsgerichts. Die Justiz trägt blaue Westen, die Verteidigung rosa Westen, die Polizei gelbe Westen.« Die Polizei zeige ein Freund-Feind-Denken, das den zivilen Umgang in den provisorischen Verhandlungssälen erschwere.

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    Heimfahrt zwischen Polizeikontrollen

    Am Rasthof Stolpe (A 24 in Mecklenburg-Vorpommern): Polizisten stoppen Busse aus Hamburg nach Berlin und kontrollieren Mitreisende. 9. Juli 2017
    Am Rasthof Stolpe (A 24 in Mecklenburg-Vorpommern): Polizisten stoppen Busse aus Hamburg nach Berlin und kontrollieren Mitreisende. 9. Juli 2017
    Am Rasthof Stolpe (A 24 in Mecklenburg-Vorpommern): Polizisten stoppen Busse aus Hamburg nach Berlin und kontrollieren Mitreisende. 9. Juli 2017

    Auch nach den G-20-Gipfelprotesten setzt sich die Verfolgung linker Aktivisten durch die Polizei fort. Auf der Rückfahrt von Hamburg nach Berlin über die A 24 werden aktuell Busse von der Polizei dazu aufgefordert, auf den Autobahnparkplatz Stolpe zu fahren. Dort sollen Kontrollen der Mitfahrenden durchgeführt werden, um »mögliche Verbrechen in Berlin« zu verhindern, teilte die Polizei mit. (jW)

  • · Berichte

    Provozierte Eskalation

    Im Hamburger Schanzenviertel organisierte sich die Polizei Bilder, die sie sonst nicht bekommen hätte
    André Scheer, Georg Hoppe und Lina Leistenschneider, Hamburg
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    Mit Sturmgewehren bewaffnet im Schanzenviertel: Polizisten einer Sondereinheit am Freitag abend

    Es waren Bilder wie aus einem Bürgerkrieg: Schwerbewaffnete Angehörige paramilitärischer Sondereinheiten beteiligten sich mit Schnellfeuergewehren an der Erstürmung eines Stadtviertels. Tausende Menschen wurden von der Außenwelt abgeschnitten, weil Straßen gesperrt und Bahnverbindungen eingestellt waren. Räumpanzer und Wasserwerfer sowie Tausende für den Straßenkampf ausgerüstete Polizisten bezogen Stellung. Das Schanzenviertel in Hamburg wurde am Wochenende zum Schauplatz einer Machtdemonstration des Polizeistaates.

    Zwei Nächte in Folge stürmten die Einsatzkräfte Straßen und Häuser in dem für sein alternatives und multikulturelles Ambiente bekannten und beliebten Stadtteil. Auslöser dafür war nach Darstellung der Polizei vom Freitag, dass »Störer« – in den Medien wurde das gleichgesetzt mit »militanten Autonomen« – in dem Viertel randaliert und Drogeriemärkte geplündert hätten. Die Rede war davon, dass auf den Dächern Molotowcocktails und Gehwegplatten deponiert worden sein sollen, um sie auf Polizisten zu werfen – vorgeführt wurden diese von der Polizei jedoch bislang nicht. »Ich bin fassungslos, dass linksradikale Straftäter offenkundig keine Hemmung haben, sehenden Auges das Leben von Polizeibeamten zu gefährden«, wetterte trotzdem der CSU-Innenexperte Stephan Mayer. Bild schlagzeilte am Sonnabend: »Keiner stoppt den linken Hass!«

    Es war nicht auszuschließen, dass nach den tagelangen Übergriffen der Polizei auf die friedlichen Protestdemonstrationen gegen den G-20-Gipfel einige Leute die Nerven verlieren, um in ihrer Wut zu nützlichen Idioten der Staatsmacht zu werden. Auf die teilweise offen rechtswidrigen Polizeieinsätze gegen die Camps und gegen spontane Kundgebungen hatten die Aktivisten durchgehend besonnen reagiert und damit das Konzept der Sicherheitskräfte durchkreuzt. Selbst die autonome Demonstration »Welcome to Hell« am Donnerstag lieferte den Boulevardmedien nicht die gewünschten Bilder – dafür aber Kommentare in Medien wie Deutschlandfunk und NDR, dass die Polizei die Gewalt provoziert habe. Die Scharfmacher brauchten jedoch die Eskalation.

    Ohnehin lassen Augenzeugenberichte das, was am Freitag und Sonnabend im Schanzenviertel und der Umgebung geschah, in einem anderen Licht erscheinen als die Auskünfte von Polizei und Senat.

    Am Neuen Pferdemarkt und im »Arrivati-Park« unweit des U-Bahnhofs Feldstraße hatten sich am Freitag abend etwa 1.000 Gegner des G-20-Gipfels versammelt. Obwohl von ihnen keine Gewalt ausging, wurden sie von der Polizei mit Wasserwerfern und Pfefferspray attackiert. Viele Demonstranten zogen sich daraufhin in das Schanzenviertel zurück, vereinzelt flogen Flaschen und Böller. Während die Scharmützel auf dem Platz weitergingen, ließ sich im Schanzenviertel über Stunden keine Polizei blicken. Sogar als auf der Straße Schulterblatt an drei Stellen Feuer entzündet wurden, reagierte weder die Feuerwehr noch die Polizei. Ebenfalls frei war der Weg zu den Messehallen, dem Austragungsort des G-20-Gipfels – trotzdem nutzte niemand diese »Chance«. Unter den mehreren tausend Menschen, die sich im Viertel auf den Straßen aufhielten, waren linke Aktivisten kaum zu sehen. Statt dessen allerdings Personen, die von Anwohnern als Fußballhooligans beschrieben wurden. In der Sternstraße wurde der Hitlergruß gezeigt, in der Bartelsstraße wurde ein Geschäft mit Antifa-T-Shirts im Schaufenster offenbar gezielt attackiert. Nach »Linken« klingt das nicht.

    Kurz vor Mitternacht stürmte die Polizei das Schanzenviertel. Wasserwerfer, Räumfahrzeuge und Polizeiketten drangen in das Viertel vor. Beteiligt waren auch Angehörige von Sondereinsatzkommandos mit Schnellfeuergewehren. Es flogen Steine, Flaschen und Feuerwerkskörper. Ein Polizeihelikopter richtete seinen Scheinwerfer auf die Szenerie. Tränengas lag in der Luft.

    In der Roten Flora wurden in der Nacht Verletzte versorgt. Spiegel online zitierte den Sprecher des Veranstaltungszentrums, Andreas Blechschmidt, mit der Aussage, die »sinnbefreite Gewalt« sei Selbstzweck und falsch.

    Déjà-vu am Sonnabend

    Der Tag danach begann zunächst ruhig. Zehntausende Menschen beteiligten sich an der Großdemonstration gegen den G-20-Gipfel von den Deichtorhallen zum Millerntor. Trotz wiederholter Polizeiübergriffe blieb der Zug geschlossen und mündete in ein fröhliches Volksfest. Bis in den Abend hinein saßen viele Menschen auf der Straße in der Sonne, tranken Bier und aßen Döner.

    Zugleich wiederholte sich jedoch das Muster vom Vortag. Gegen 19 Uhr hatte eine Beweis- und Festnahmeeinheit der Polizei die Eingänge des Flora-Parks am Schulterblatt abgesperrt und durchkämmt. Es wurden mehrere Menschen kontrolliert, von einigen wurden die Personalien aufgenommen. Herumliegende Rucksäcke wurden durchsucht. Offenbar wurden zwei Menschen festgenommen. Zwei Stunden später hatte sich die Lage jedoch wieder beruhigt. Tausende Menschen, vor allem Touristen und Partygänger, bevölkerten das Schulterblatt und die Seitenstraßen des Schanzenviertels. Es herrschte eine merkwürdig angespannte, sich zugleich jedoch nach einem typischen Wochenendvergnügen anfühlende Atmosphäre. Zu sehen waren weder Polizei noch »Autonome«.

    Am Neuen Pferdemarkt ging die Polizei am späteren Abend dann wieder mit Wasserwerfern gegen dort vollkommen gewaltfrei versammelte Menschen vor. Selbst die Hamburger Morgenpost empörte sich über das Vorgehen der Polizei gegen friedlich auf der Straße sitzende Jugendliche. Viele wurden in die Straße Schulterblatt getrieben und saßen damit in der Falle. Denn auf der entgegensetzten Seite, an der Altonaer Straße, versperrten Polizeiketten, Wasserwerfer und ein Räumpanzer den Fluchtweg.

    Im Gespräch mit junge Welt zeigten sich Opfer des Polizeieinsatzes entsetzt. Ein englischsprachiger Tourist war fassungslos: »Die Menschen haben einfach nur auf der Straße gesessen und getrunken, da war nichts!« Ein anderer Mann, der sich eine Verletzung an der Hand zugezogen hatte, berichtete, dass er mit fünf Bekannten vor einer Gaststätte gesessen habe, als plötzlich und ohne jeden Anlass Polizisten die Straße gestürmt hätten. »Das war eine reine Provokation«, sagte er. Niemand dürfe sich wundern, wenn nach diesem Vorgehen die Lage in der Nacht endgültig eskaliert sei.

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    Steinmeier und Scholz loben Polizei

    Voll des Lobes für die Polizei: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (r.) und Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf Scholz (SPD, l.) am 9.7.2017 in Hamburg vor den Messehallen
    Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf Scholz (SPD, l.) am 9.7.2017 in Hamburg nach einem Gespräch mit Einsatzkräften der Polizei
    Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz am 9. Juli 2017 beim Besuch im Bundeswehrkrankenhaus. Dort werden unter anderem verletzte Polizisten behandelt

    Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat die Auswahl Hamburgs als G20-Standort trotz der Krawalle mit Hunderten Verletzten vehement verteidigt. Ihn mache besorgt, »dass allzu viele den scheinbar leichten Ausweg gehen wollen und sagen: Warum müssen denn solche Konferenzen eigentlich in Deutschland stattfinden?«, sagte er am Sonntag beim Besuch bei Einsatzkräften mit Bürgermeister Olaf Scholz (SPD).

    Der nach dem desaströs verlaufenen Polizeieinsatz der vergangenen Tage unter Druck stehende Scholz feierte einem »heldenhaften Einsatz« der Sicherheitskräfte. Er wies jede Kritik an der Polizeitaktik zurück. Scholz sagte beim gemeinsamen Auftritt mit Steinmeier, die Polizei habe »alles richtig gemacht«.

    Nach Angaben der Hamburger Polizei sind beim Einsatz rund um den G-20-Gipfel bisher 476 Beamte verletzt worden. Es handele sich dabei um Polizisten aus den Ländern und um Bundespolizisten, hieß es am Sonntag.

    Seit Beginn des Polizeieinsatzes am 22. Juni seien insgesamt 186 Menschen fest- und 225 in Gewahrsam genommen worden; insgesamt seien 37 Haftbefehle gegen Verdächtige erwirkt worden. Das sagte der Hamburger Einsatzleiter Hartmut Dudde am Sonntag. Wie viele Verletzte es unter den G-20-Gegendemonstranten gab, wurde nicht mitgeteilt.

    Auch am Sonntag, dem ersten Tag nach dem Ende des Gipfels, geht die Polizei rigoros gegen abreisende Demonstranten vor. So heißt es in einer Mitteilung des »Internationalistischen Blocks«, dass die Polizei auf der Autobahn Busse zum Halt an Raststätten zwinge, um die Mitreisenden zu kontrollieren. (dpa/jW)

  • · Blog

    EU-Abgeordnete: Protest gegen Festnahme

    Eleonora Forenza (mit Plakat), hier bei einem Treffen der Europäischen Vereinigten Linken/Nordische Grüne Linke, am 7. Oktober 2015

    Die Linke im Europaparlament hat der Hamburger Polizei die grundlose Festnahme ihrer italienischen Abgeordneten Eleonora Forenza am Rande des G-20-Gipfels vorgeworfen. »Eleonora beteiligte sich an einem friedlichen Protest und wurde mit 14 weiteren Personen ohne besonderen Grund festgenommen«, erklärte die deutsche Linke-Fraktionschefin Gabi Zimmer. »Ich verurteile dieses Verhalten der Hamburger Polizei.« Die Bundesregierung solle für Konsequenzen sorgen. Forenza kam eigenen Angaben zufolge nach fünf Stunden am Samstag wieder frei. Auch sie kritisierte das Verhalten der Hamburger Polizei. Neben friedlichen Protesten hatte es am Rande des Treffens der 20 großen Wirtschaftsmächte am Wochenende massive Ausschreitungen gegeben. Die Polizei nahm Hunderte Menschen zeitweise in Gewahrsam. (dpa/jW)

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    Manöverzone Schanzenviertel

    Die Polizei will Bürgerkrieg, und Randalierer geben ihr die Gelegenheit: In der dritten Nacht in Folge ist es im Hamburger Schanzenviertel in der Nacht zu Sonntag wieder zu Ausschreitungen gekommen.

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    Polizei terrorisiert das Schanzenviertel

    André Scheer und Georg Hoppe
    Wasserwerfer und Räumpanzer am Schulterblatt

    Nach einem weitgehend friedlichen Ausklang der Großdemonstration gegen den G-20-Gipfel in Hamburg ist die Lage am späten Abend erneut eskaliert. Die Polizei riegelte mit einem Großaufgebot das Schanzenviertel komplett ab, setzte Wasserwerfer und Pfefferspray ein. Bis zum jetzigen Zeitpunkt in der Nacht wird die Belagerung aufrechterhalten. Greiftrupps machten Jagd auf einzelne Menschen, jW-Journalisten wurden von den Einsatzkräften abgedrängt. Medienberichten zufolge waren auch erneut mit Schnellfeuergewehren ausgerüstete Angehörige der GSG 9 im Einsatz.

    Wie die jW-Reporter vor Ort beobachteten, ging die Polizei am Neuen Pferdemarkt mehrfach mit Wasserwerfern gegen die dort vollkommen gewaltfrei versammelten Menschen vor. Viele wurden in die Straße Schulterblatt getrieben und saßen damit in der Falle. Denn auf der entgegensetzten Seite, an der Altonaer Straße, versperrten Polizeiketten, Wasserwerfer und ein Räumpanzer den Fluchtweg.

    Über Twitter begründete die Polizei ihr Vorgehen mit dem Einsatz gegen »Störer«, der NDR berichtete, dass erneut ein Supermarkt geplündert worden sei. Demgegenüber schrieb das Boulevardblatt Hamburger Morgenpost, dass die Polizei am Neuen Pferdemarkt Pfefferspray gegen Personen eingesetzt habe, die friedlich auf der Straße gesessen hätten und problemlos von den Beamten hätten weggetragen werden können.

    Schon gegen 19 Uhr hatte eine Beweis- und Festnahmeeinheit die Eingänge des Flora-Parks am Schulterblatt abgesperrt und durchkämmt. Es wurden mehrere Menschen kontrolliert, von einigen wurden die Personalien aufgenommen. Herumliegende Rucksäcke wurden durchsucht. Offenbar wurden zwei Menschen festgenommen.

    Wenig später führte eine weitere vom Schulterblatt kommende Einheit einen Mann durch die Juliusstraße in Richtung Lippmannstraße ab. Die auf dem Platz vor der Roten Flora versammelte Menge bekundete lautstark ihren Unmut.

    Gegen 21 Uhr hatte sich die Lage jedoch wieder beruhigt. Während rund um das Schanzenviertel starke Polizeikräfte positioniert waren, sah man im Viertel selbst keine Beamten. Auf der Straße vergnügten sich Tausende Menschen, dem Anschein nach ganz normale Wochenend-Partygänger, keine Angehörige einer »autonomen Szene«. Es wurde getrunken und geredet.

    Im Gespräch mit junge Welt zeigten sich Opfer des Polizeieinsatzes entsetzt. Ein englischsprachiger Tourist zeigte sich fassungslos: »Die Menschen haben einfach nur auf der Straße gesessen und getrunken, da war nichts!« Ein anderer Mann, der sich eine Verletzung an der Hand zugezogen hatte, berichtete, dass er mit fünf Bekannten vor einer Gaststätte gesessen habe, als plötzlich und ohne jeden Anlass die Polizisten die Straße gestürmt hätten. »Ich war bisher immer für solche Einsätze, aber das war eine reine Provokation«, sagte er. Niemand dürfe sich wundern, wenn nach diesem Vorgehen die Lage in der Nacht endgültig eskaliere.

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    Schikane gegen Hamburgs Gäste

    Keine guten Gastgeber waren Senat, Behörden und Polizei der Freien und Hansestadt Hamburg: Abreise von Gipfelgegnern im Sonderzug nach Süddeutschland
    Drohungen der Hamburger Polizei gegen Gäste der Stadt: Hauptbahnhof am Samstag abend

    Zugverspätungen sind im Hamburger Hauptbahnhof keine Seltenheit. Doch am Sonnabend provozierte die Polizei die Verzögerungen im Betriebsablauf. Die Einsatzleitung hatte sich nämlich eine besondere Überraschung für die Passagiere des Sonderzugs zur Großdemonstration gegen den G-20-Gipfel ausgedacht.

    Die Fahrgäste für die Rückreise sollten sich auf einem abgesperrten Bahnsteig einzeln mit Video und Foto registrieren lassen. Die Polizei kündigte an, die Aufnahmen mit einem Register abgleichen zu wollen, in dem Straftaten im Zusammenhang mit den Protesten festgehalten seien, und drohte mit Festnahmen. Die Stimmung wurde zudem dadurch angeheizt, dass die Beamten kurz vor Mitternacht verlangten, der Zug müsse in zehn Minuten abfahren – obwohl zu diesem Zeitpunkt nur eine Minderheit der Passagiere den Zug hatte besteigen können.

    Letztlich konnte das Hamburger Legal Team die Beamten überzeugen, auf eine vollständige Kontrolle aller Fahrgäste zu verzichten. Unter »Anticapitalista«-Rufen enterten die Wartenden daraufhin den Bahnsteig und den Sonderzug, der endlich seine Reise nach Süddeutschland und in die Schweiz aufnehmen konnte. (jW)

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    Das war der Gipfel – der Protest bleibt

    Bilder vom Geschehen am zweiten Tag des ersten und letzten G20-Meetings in der Freien und Hansestadt Hamburg

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    76.000 für eine andere Welt

    Hamburg erlebte eine beeindruckende Großdemonstration für »Grenzenlose Solidarität statt G20« und gegen die Unvernunft und das Unrecht kapitalistischer Verhältnisse.

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    Randfigur früh verschwunden

    Peter Steiniger
    Auch auf der heutigen Demo in Hamburg für »Grenzenlose Solidarität« hieß es »Fora Temer« (Weg mit Temer)
    Der Ruf der brasilianischen Demokratiebewegung nach direkten Neuwahlen war auch an der Alster zu hören (Hamburg, 8.Juli 2017)
    Brasiliens Arbeiterbewegung steht im Kampf gegen die neoliberalen Reformen der Mächtigen und Korrupten (Demonstration von Transportarbeitern in São Paulo, 30.6.2017)
    Ein Fall für den Staatsanwalt: Brasiliens Präsident Michel Temer

    Der Präsident blieb nicht zum Essen. Gleich nach der Arbeitssitzung der G-20-Repräsentanten am heutigen Vormittag entschwand Brasiliens Staatschef Michel Temer in Richtung Flughafen, um die Heimreise anzutreten. Bereits zuvor wirkte er wie der Wirklichkeit entrückt. Sein Land blühte in seinen Worten auf. Die Wirtschaft brumme dank der Politik seiner Regierung wieder, die Inflation würde sinken, Arbeitsplätze seien im Entstehen. Tatsächlich hat die Erwerbslosigkeit im Vergleich zum Vorjahr stark zugenommen und schließt offiziell 14 Millionen – in der Realität weit mehr Brasilianer – vom Arbeitsmarkt aus.

    Während eines Treffens der Chefs der BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) am Freitag hatte Temer behauptet: »Brasilien überwindet gerade eine der schwersten Krisen seiner Geschichte, dank der ambitionierten Reformagenda, die Wachstum und Beschäftigung zurückbringt.« Diese sogenannten Reformen zielen auf eine Demontage der Sozialsysteme und des Arbeitsrechts. Fragen der Presse zur politischen Krise in seinem Land unterband der Präsident mit erhobenem Zeigefinger. Er verwies während des Gipfels auch mehrfach auf die großartigen Möglichkeiten, die sein Land Geschäftemachern böte.

    Nun muss Temer sich dringend wieder den eigenen Geschäften widmen. Spezialisiert ist er auf die schmutzigen. Ihm droht ein Prozess wegen Korruption und weiterer krimineller Machenschaften und damit der Amtsverlust. In Brasilien wird bereits diskutiert, wer dann die Geschäfte führt. Während seines kurzen Abstechers nach Hamburg – seine Teilnahme am Gipfel hatte er zwischenzeitlich sogar abgesagt – hat sich das Kräfteverhältnis im Kongress, der einer Klage des Generalstaatsanwalts grünes Licht geben muss, weiter zu seinen Ungunsten verschoben. Auch das rechte Lager ist in der Causa Temer gespalten. Erst im Mai vergangenen Jahres war dieser im Bündnis mit den konservativen Wahlverlierern von 2014 durch eine Amtsenthebung der legitimen Präsidentin Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei an die Macht gelangt. Nun könnte er die Sonne bald quadratisch aufgehen sehen, wie man in Brasilien sagt.

  • · Blog

    G 20 ohne Antworten auf Krise

    Bundeskanzlerin Angela Merkel und Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf Scholz im Kreis ihrer Helden

    Danke für nichts: Die Staats- und Regierungschefs der G 20 haben in Hamburg vor allem heiße Luft produziert. Auf dem Gipfel wurde das Pariser Klimaabkommen de facto beerdigt. Die Weltwirtschaft soll weiter im Krisenmodus laufen. Ein Handelskrieg zwischen der EU und den USA schwelt. Das und monströse Kosten von mindestens 400 Millionen Euro für die zwei Tage mit den Herrschaften im Hamburger Karolinenviertel sind die Bilanz der deutschen G-20-Präsidentschaft.

    Die Auswahl des Ortes für das Treffen der Imperialisten, ergänzt durch eine Handvoll ausgewählter Regierungsvertreter aus Schwellenländern, war entweder eine große Dummheit oder Kalkül. Seit der Entscheidung für Hamburg war klar, dass es zu einer Konfrontation von historischem Ausmaß kommen würde. Sie forderte Hunderte Verletzte. Merkel fand’s trotzdem prima in ihrer »exterritorialen Zone«.

    Für die Durchsetzung des G-20-Gipfels wurden monströse Mittel aufgefahren, riesige Polizeitruppen, schwerbewaffnete Spezialmilizen und Geheimdienste. Die Mächtigen werden trotz der deutlichen Auflehnung gegen den Kapitalismus weitermachen wollen wie zuvor. Bis sie ihren Bankrott erklären müssen, bleibt vorläufig nur: Unregierbar werden, unverwertbar. Und im Alltag solidarisch sein.

    Der »Hamburger Aufstand« von 2017 hat mit der Beteiligung Zigtausender gezeigt, dass es eine entschiedener werdende Gegenkraft gibt, die für eine soziale Weltordnung mit anderen Eigentumsverhältnissen eintritt. (jW)

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    »Ärzte ohne Grenzen« sind enttäuscht

    Ärzte ohne Grenzen demonstrieren gegen die Bombardierung eines ihrer Krankenhäuser durch US-Jets in Kundus. Das Bild entstand auf der Kundgebung inGenua 2015

    Die weltweit agierende Hilfsorganisation »Ärzte ohne Grenzen« ist »enttäuscht« vom G-20-Gipfeltreffen der mächtigsten imperialistischen Staaten und einiger Schwellenländer in Hamburg. Die Staats- und Regierungschefs hätten es versäumt, »Angriffe auf medizinisches Personal und medizinische Einrichtungen in ihrer Abschlusserklärung zu verurteilen«, teilte die Organisation am Samstag abend mit. »Während die Stärkung von Gesundheitssystemen in der Erklärung eine Rolle spielt, wird deren verheerende Zerstörung in Konfliktgebieten wie dem Jemen, Syrien oder Afghanistan vollständig ignoriert.«

    Die Ärzte forderten die G20 erneut auf, sich zu konkreten Schritten zur Umsetzung der Resolution 2286 des UN-Sicherheitsrates zum Schutz von Zivilpersonen in bewaffneten Konflikten zu verpflichten. Nur so sei unparteiische medizinische Hilfe möglich. Es ist inakzeptabel, dass bewaffnete Angriffe auf medizinische Einrichtungen bewusst als Kriegsstrategie eingesetzt werden.

    Zudem monierten die Ärzte ohne Grenzen, dass kein Fortschritt bei der Vorbeugung gegen Epidemien erzielt worden sei. »Tuberkulose, Gesundheitsforschung und antimikrobielle Resistenzen« würden zwar in der Abschlusserklärung der G20 erwähnt, allerdings sei es enttäuschend, dass sich die G20 nicht zu einer konkreten Steigerung der Forschungsanstrengungen durchringen konnten. (jW)

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    Putin zu Syrien und der Ukraine

    Simon Zeise

    Wladimir Putin bezog in seiner Abschlusserklärung am Samstag Position zum Krieg in Syrien. »Das Wichtigste ist, die territoriale Integrität Syriens zu gewährleisten«, sagte der russische Präsident. Die Deeskalationszonen im Land sollten als Vorbild dienen für eine »Lösung der syrischen Problematik mit politischen Mitteln«. US-Außenminister Rex Tillerson hatte am Freitag erklärt, Syriens Präsident Baschar Al-Assad habe keine Zukunft. Tillerson sei »ein hochverehrter Mensch, aber kein syrischer Bürger. Die Zukunft Assads soll das syrische Volk bestimmen«, äußerte der russische Präsident. Sein Land stehe in Kontakt mit vielen kurdischen Gruppen und mache auch keinen Hehl daraus. »Was die kämpferische Versorgung angeht, haben unsere amerikanischen Kollegen die Nase vorn«, erklärte Putin.

    Über die Lage in der Ukraine sagte Putin, »die Interessen des ukrainischen und des russischen Volkes stimmen absolut überein«. Vielleicht nicht die der heutigen Führung der Ukraine und einiger politischer Kreise. Es gebe aber objektive Interessen, die auf der wirtschaftlichen Kooperation während der Sowjetzeit basierten. Die heutigen ukrainischen Kollegen würden das ignorieren. »Die einzige Ware, die sie erfolgreich weiter verhökern, das ist die Russophobie«, so Putin

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    »Nicht auf der Nudelsuppe geschwommen«

    Polizeitruppen auf der Wiese in Entenwerder. Ihr nächtliches Ziel: Die elf legalen Zelte des dortigen Camps der Demonstranten
    Statement vom 07.07.2017

    Der Jurist und Christdemokrat Christian Säfken hat die polizeistaatlichen Angriffe auf Demonstranten, Journalisten und Juristen während des G-20-Gipfels von einem bürgerrechtlichen Standpunkt aus deutlich kritisiert. Er sieht den Ausgangspunkt für die Gewalttätigkeiten eindeutig im Handeln der politischen und polizeilichen Verantwortungsträger begründet.

    So stellt Säfken zunächst fest, dass »ein verwaltungsgerichtlich genehmigtes Protestcamp widerrechtlich von der Polizei geräumt« wurde. Gemeint ist der Angriff auf die Zeltenden in Entenwerder am vergangenen Sonntag, mit dem die Eskalationsspirale in Gang gesetzt worden war. Ab Donnerstag dann seien Journalisten »zusammengeknüppelt« worden; auch der Demonstrationszug an der Hafenstraße sei »ohne Not wegen ein paar vermummter Teilnehmer gestürmt« worden, »wodurch Gewalttätigkeiten ausgelöst wurden«.

    Er sei als Jurist »nicht auf der Nudelsuppe daher geschwommen«: »Was die Polizeiführung in Hamburg derzeit veranstaltet, würde man im Zivilrecht als Minderleistung bezeichnen, manche Vertreter des öffentlichen Rechts sprechen schon von einer offensichtlichen Verletzung der Gewaltenteilung und einem gewollten Verfassungsbruch.«

    Säfkens Einschätzungen wurden zuerst am Freitag um 11.48 Uhr auf dem Onlinenetzwerk »Facebook« veröffentlicht. (jW)

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    Protestbewegung ließ sich nicht spalten

    Claudia Wangerin und André Scheer
    Junge Mitglieder der DIDF bei der Großdemonstration gegen den G-20-Gipfel
    Solidarität gegen das Massensterben im Mittelmeer
    Protest gegen die Übergriffe der Polizei
    Mit Spaß gegen den Polizeistaat: Clowns während der Demonstration
    Solidarität mit Kurdistan auf der Abschlusskundgebung

    Es war sicher keine Übertreibung, als das Veranstalterbündnis der Demonstration »Grenzenlose Solidarität statt G20« auf der Abschlusskundgebung am Millerntor von »handgezählten 76.000 Teilnehmern« sprach. Selbst die Polizei korrigierte ihre Schätzungen auf mehr als 50.000 Menschen, die von den Deichtorhallen zum Millerntor marschiert seien. Das Boulevardblatt Hamburger Morgenpost schrieb von über 100.000 Teilnehmern. Eine Mitorganisatorin sagte am Nachmittag, alle könnten sich gegenseitig gratulieren, weil es nicht gelungen sei, die Protestbewegung zu spalten.

    Mit einem kurdisch-internationalistischen Block an der Spitze war die Demonstration um die Mittagszeit gestartet. Es folgte ein endloser, vielfältiger und bunter Zug: Fans des FC St. Pauli, Klimaschützer, ein Block von gewerkschaftlichen und linken Jugendverbänden, kommunistische Parteien und viele Menschen, die »einfach so« ihren Protest gegen die Politik der G20 auf die Straße tragen wollten.

    Entgegen mancher Befürchtungen hatten die Ereignisse der vergangenen Nacht im Schanzenviertel die Mobilisierung für die Großdemonstration offenkundig nicht bremsen können. Manche Teilnehmer reagierten allerdings auf ihre Weise und forderten auf Schildern »friedlichen Protest«. Einer kommentierte auf einer Pappe: »Wenn ihr euch über die Schanze empört, sagt nicht, Afghanistan sei sicher«.

    Die Polizei setzte trotz der friedlichen Stimmung ihre Provokationen gegen die G-20-Proteste fort. Schon zu Beginn zogen behelmte und gepanzerte Beamte auf. Polizeifahrzeuge steuerten mitten in die Menge und wendeten. Es kam zu mehreren Festnahmen, ohne dass dafür Anlässe erkennbar waren. Trotzdem blieb der Demonstrationszug geschlossen und ließ sich nicht provozieren.

    Zu einer größeren Störung kam es allerdings, als Greiftrupps der Polizei während des Marsches eine türkische kommunistische Gruppierung attackierte. Die Einsatzleitung begründete die Aggression damit, dass es in dem Block zu Vermummungen gekommen sei. Laut der Pressemitteilung der Polizei gelang es den Aktivisten jedoch, sich dem Zugriff der Beamten »in alle Richtungen« zu entziehen.

    Auch während der Abschlusskundgebung störte der staatliche schwarze Block die ordnungsgemäße Durchführung durch wiederholte Übergriffe. Unter anderem in der Nähe des Verkaufsstandes der jungen Welt kam es zu einem Einsatz von Wasserwerfern und Pfefferspray, Die Hintergründe waren zunächst unklar.

    Sollte das Ziel der Provokationen gewesen sein, das breite Bündnis zu spalten, ist diese Rechnung nicht aufgegangen. So solidarisierte sich beispielsweise der Klimaschutzblock mit den von der Polizei angegriffenen und direkt hinter ihnen gehenden Kommunisten. Die gesamte Demonstration stoppte, um ein Ende der Polizeiübergriffe zu erzwingen.

    Die Breite der Bewegung wurde auch während der Abschlusskundgebung deutlich, während der unter anderem Vertreter von »Black Lives Matter« aus den USA sowie der Hamburger Kampagne »Recht auf Stadt« das Wort ergriffen.

    Mit dieser Großdemonstration hat die Protestbewegung ein erfolgreiches und deutliches Signal gesetzt, dass sich der Widerstand gegen die unsoziale Politik der G20 nicht durch Polizei und Medienhetze spalten und schwächen lässt. Die Aktion am Sonnabend war ein großartiger (vorläufiger) Abschluss der Aktionswoche gegen das Gipfeltreffen in Hamburg.