Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2025
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No G20

No G20

Hamburg empfing am 7. und 8. Juli 2017 Staatschefs und Vertreter der EU zum G-20-Gipfel der wichtigsten Industrie- und Schwellenländer. Sie erwartete eine große und kreative Protestbewegung.

Hintergrund

  • · Hintergrund

    Großer Erfolg

    Anmerkungen zu den Protesten gegen den G-20-Gipfel
    Florian Wilde
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    Grenzenlos solidarisch. Mindestens 76.000 Menschen demonstrierten am Sonnabend, dem 8. Juli, in Hamburg gegen den G-20-Gipfel. In der Bundesrepublik war dies der bisher größte Protest gegen eine ­solche Zusammenkunft von Staats- und Regierungschefs

    Die Bilder der gewalttätigen Auseinandersetzungen, die die Berichterstattung über die Proteste gegen den Hamburger G-20-Gipfel prägten und nun für eine breitangelegte Kampagne gegen die gesamte Linke instrumentalisiert werden, dürfen nicht vergessen machen, dass die Proteste ein großer Erfolg waren. Trotz wochenlanger medial befeuerter Angstmache und trotz der Einschüchterung durch einen Polizeistaat ist es gelungen, den größten Protest gegen ein solches Spitzentreffen in der deutschen Geschichte zu organisieren und Zehntausende auf die Straße zu bringen. Die Demonstration »Grenzenlose Solidarität statt G 20« am Samstag, dem 8. Juli, mit 76.000 Teilnehmern, wie die Veranstalter angaben (die Hamburger Morgenpost zählte sogar 100.000) war die größte in Hamburg seit mehr als 30 Jahren.

    Tausenden Aktivisten war es einen Tag zuvor gelungen, Zufahrtswege zum Gipfel zu blockieren und den Ablauf der Tagung zumindest punktuell – leider nicht umfassend – zu stören. Etwa 1.000 hatten an jenem Freitag im Hafen demonstriert, rund 2.000 zogen unter dem Motto »Jugend gegen G 20« zeitgleich durch die Innenstadt. Bis zu ihrer Zerschlagung durch die Polizei hatten sich am Donnerstag zur antikapitalistischen »Welcome to Hell«-Demonstration bereits 12.000 Menschen versammelt; hätten sie weiterziehen können, wäre die Menge sicher auf mehr als 20.000 angewachsen. So viele waren es jedenfalls am Mittwoch zuvor gewesen, die bei »Lieber tanz’ ich als G 20« gegen den Gipfel ravten, nachdem am Dienstag bereits Tausende gegen den Gipfel »gecornert« hatten. Rund 2.500 Teilnehmer hatten am Mittwoch und Donnerstag den alternativen »Gipfel für globale Solidarität« besucht und mit Gästen aus aller Welt inhaltliche Kritik an der offiziellen Zusammenkunft diskutiert. Etwa 10.000 waren bereits am Sonntag, dem 2. Juli, dem Aufruf zur »G 20 Protestwelle« gefolgt. Die breite Ablehnung war in den Stadtteilen rund um die Messehallen deutlich sichtbar: Überall hingen Anti-G-20-Transparente aus den Fenstern, zahllose kleine Läden hatten ihre Schaufenster und Scheiben gegen den Gipfel dekoriert. Nachdem sich abgezeichnet hatte, dass der Senat keine Camps zulassen würde, solidarisierten sich etliche Hamburger mit den Protestierenden und boten ihnen Gästezimmer, Vorgärten und Lauben zur Übernachtung an.

    Eine Woche lang waren Tausende Aktivisten in fieberhafter Anspannung im Dauereinsatz, kämpften politisch um Camps, bereiteten zahllose Aktionen vor, demonstrierten und blockierten. Es war eine ganz beglückende Erfahrung, wie wenig sie sich dabei von der allgegenwärtigen polizeilichen Repression einschüchtern ließen. Eine authentische soziale Bewegungsdynamik durchbrach alle langweiligen Routinen linker und parlamentarischer Politik. Es war in vielem eine ganz wunderbare Woche.

    Der Spaltung getrotzt

    In der gegenwärtigen Inszenierung einer globalen Polarisierung zwischen neoliberaler Mitte und Rechtspopulismus waren linke Alternativen in den letzten Monaten nur selten sichtbar. Mit dem Protest konnte dieser Unsinn ad absurdum geführt werden und ein weltweit wahrnehmbares Signal für die Existenz und Lebendigkeit einer antikapitalistischen Linken gegeben werden. Doch dieser Erfolg soll nach dem Willen der herrschenden Meinung, die noch immer die Meinung der Herrschenden ist, keine Anerkennung finden. In der Absicht, von der eigenen Verantwortung für die Eskalation in Hamburg abzulenken, versuchen SPD und CDU, unterstützt von etlichen Medien, nun mit aller Macht, die Krawalle im Schanzenviertel und in Altona gegen die zahlreichen Aktivitäten auszuspielen, und sprechen fast ausschließlich von der Randale anstatt über den Massenprotest. Demgegenüber gilt es, auf die eigenen Erfolge zu verweisen und die Hauptverantwortlichen für die Eskalation zu benennen: Senat und Polizei.

    Im Vorfeld des G-20-Gipfels war immer wieder versucht worden, das Protestbündnis zu spalten – leider erfolgreich. Zunächst hatten sich namhafte Nichtregierungsorganisationen wie Campact, der Naturschutzbund und der WWF, außerdem der DGB aus Angst vor möglichen Krawallbildern verabschiedet und für Sonntag vor dem Gipfel zu einer eigenen Veranstaltung, der »Protestwelle«, mobilisiert. Dann haben auch die Grünen das Bündnis verlassen und parallel zur Großdemonstration mit der SPD zur Veranstaltung »Hamburg zeigt Haltung« aufgerufen. Die Abspaltungen waren eine politische Niederlage und durchaus gefährlich: Rechts von der Partei Die Linke und Attac brach fast das ganze Spektrum weg. Die gesamte Mobilisierung nach Hamburg wurde durch diese Manöver deutlich geschwächt.

    Die »Protestwelle« brachte schließlich mit großem finanziellen Aufwand gerade einmal 10.000 Menschen auf die Straße. Bei »Hamburg zeigt Haltung« sollen es sogar nur knapp 6.000 gewesen sein – gegenüber der mehr als zwölffachen Menge auf der Großdemo, die völlig friedlich verlief und bei der sich alle Bündnispartner an die Absprachen hielten. Es war zugleich eine sehr dynamische und kämpferische Demonstration. Massenhaft wurde auf ihr das Verbot der Symbole der kurdischen Freiheitsbewegung ignoriert. Fahnen der PKK wurden offen und sogar auf der Bühne der Abschlusskundgebung gezeigt, tausende von YPG-Fähnnchen prägten das Bild ganzer Blöcke. Gerade in Anbetracht der durch Spaltung, Verbote und Angstmacherei sehr erschwerten Bedingungen ist dem linken Lager in Deutschland ein beachtlicher Mobilisierungserfolg gelungen. Blamiert stehen hingegen die spaltenden Großorganisationen mit ihren Kleinprotesten da.

    Es war immer klar gewesen: Wer eine solche Tagung ausrichtet, der holt sich die Gewalt in die Stadt. Die Entscheidung für Hamburg als Austragungsort des G-20-Gipfels war auch eine Entscheidung für die in der Hansestadt heftigsten Riots seit Jahren. Denn Vermummte, die Scheiben einschlagen und Autos anzünden, traten seit der WTO-Konferenz in Seattle 1999 bei fast allen großen Protesten gegen Zusammenkünfte solchen Formats in Erscheinung.

    Das vorhersehbare Problem

    Nach Hamburg kommen zu wollen, das hatten entsprechende Gruppierungen schon frühzeitig angekündigt: Bereits Monate vor dem Gipfel gab es eine wahrnehmbare »militante Mobilisierung«, vor allem von anarchistisch-insurrektionalistischen sowie neomaoistischen Zusammenhängen. Und absehbar war auch, dass es während des Gipfels in der Schanze »knallen« würde: Ziemlich regelmäßig kommt es dort im Anschluss an Demonstrationen und Stadtteilfeste zu Auseinandersetzungen mit der Staatsgewalt. Allerdings waren auch nach Polizeiangaben zum »schwarzen Block« auf die Demo am Donnerstag höchstens 2.000 statt der angekündigten 8.000 als »gewaltbereit« klassifizierten »Linksextremisten« gekommen. Die Chancen für einen relativ friedlichen Protest gegen den Gipfel standen also überraschend gut. Es waren der Senat mit einer de facto Verhängung des Ausnahmezustands und die Polizei selbst mit völlig überzogenen Repressionen, die die Stimmung tagelang immer weiter aufheizten und dadurch viel dazu beitrugen, dass es dann doch noch zu Ausschreitungen kam.

    Für Protest gegen solche Zusammenkünfte in einer Großstadt fielen sie nicht ungewöhnlich heftig aus – da gab es beim G-8-Gipfel in Genua 2001 ganz andere Szenen. Tatsächlich traten – allerdings offensichtlich relativ kleine – organisierte Gruppen in Erscheinung, die gewalttätigen Formen der Auseinandersetzung politisch viel abgewinnen können und diese daher auch gezielt anstreben. Vermutlich hätten sie dies unabhängig vom Verhalten der Staatsgewalt getan. Dass sich aber neben bestenfalls rudimentär politisierten Jugendlichen, die einfach »Bock auf Action« hatten, sowie zahlreichen betrunkenen Schanzegängern auch Menschen an den Ausschreitungen beteiligten, die eigentlich für einen friedlichen Protest angereist waren, hat sehr viel mit dem Agieren des Senates in den Tagen zuvor zu tun: Die heftige Gewalterfahrung legitimierte in den Augen nicht weniger auch eine gewalttätige Antwort.

    Schaufensterscheiben kleiner Geschäfte einzuschlagen oder Kleinwagen anzuzünden ist indes wahrlich kein antikapitalistischer Akt, sondern schlichtweg bescheuert, Feuer in Läden zu legen verantwortungslos. Der Riot war weitgehend sinnentleert und damit unpolitisch, Parteien und Medien fiel es auf diese Weise leicht, den gesamten Protest und überhaupt linke Politik zu diskreditieren.

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    Grenzenlos brutal: Polizeigewalt hat es nach Meinung von Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz nicht gegeben. Dabei berichten etliche Augenzeugen und belegen zahlreiche Videos, wie ­rücksichtslos die hochgerüstete Beamte gegen Demonstranten vorgegangen sind

    Zum Glück standen die Ereignisse weder zeitlich noch geographisch und politisch in einem erkennbaren Zusammenhang mit den organisierten Protesten, so dass weder dem Bündnis, noch der Linkspartei, noch den organisierten Postautonomen der Interventionistischen Linken irgendeine Verantwortung für diese Ausschreitungen unterstellt werden konnte. Und daher gibt es auch keinen Grund, sich davon zu distanzieren: Man kann sich nur von Ereignissen, Maßnahmen, Gruppierungen etc. distanzieren, zu denen eine Nähe besteht. Die gab es ganz einfach nicht. Gleichwohl sind die Ausschreitungen zu verurteilen, weil sie kein zielführendes Mittel der politischen Auseinandersetzung sind, sondern dem Protest insgesamt erheblich geschadet haben. Die wieder und wieder gezeigten Aufnahmen von lodernden Feuern haben die Bilder des Massenprotests und des zivilen Ungehorsams völlig verdrängt, und noch im Nachgang des Gipfels wird die dringend notwendige Diskussion über die strukturelle Gewalt der G 20, über Polizeiübergriffe und Grundrechtsverletzungen von der Aufregung über »linke Gewalt« blockiert. Und dennoch sollte man die sozialen und politischen Ursachen in den Blick nehmen, die dazu führen, dass Menschen Steine auf Polizisten werfen oder Supermärkte plündern. Nun wird in völlig absehbarer und höchstens in der Heftigkeit unerwarteter Weise von SPD/CDU/AfD und vielen Medien versucht, der gesamten Linken die Schuld in die Schuhe zu schieben. Diesem Generalangriff gilt es standzuhalten – auch, indem auf die Mitverantwortung von Polizeiführung und Senat an der Eskalation hingewiesen wird.

    Der Polizeistaat

    Tatsächlich unvorbereitet traf etliche Gipfelgegner das Ausmaß der Polizeirepression. Dabei hätte die Ernennung von Hartmut Dudde zum Einsatzleiter allen eine Warnung seien müssen: Wie wohl kein anderer steht der Zögling des ehemaligen Hamburger Rechtsaußen-Senators Ronald Schill für Rechtsbrüche im Amt, für die berüchtigte repressive »Hamburger Linie« und für ein brutales Vorgehen auch gegen friedliche Demonstrationen.

    Bereits kurz vor der eigentlichen Gipfelwoche hatte die Polizei die Stimmung mit Hausdurchsuchungen bei Aktivisten, die in einem Taz-Interview Straftaten gerechtfertigt haben sollen, kräftig angeheizt. Es folgten die rüde durchgesetzten Campverbote. Die Polizei ging dabei nicht nur überaus brutal vor, sondern sie setzte sich auch eiskalt über Gerichtsentscheidungen hinweg. Viele konnten sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Exekutive die Urteile der Judikative schlicht scheißegal waren. Und viele empfanden die Verbote als Verletzung des Grundrechtes auf Versammlungsfreiheit. Die Polizei griff mehrfach Journalisten an, ignorierte Gerichtsentscheidungen und schlug immer wieder und offensichtlich auch wahllos Menschen zusammen. Die ganze Woche über heizte die Repression die Stimmung an und trieb viele Leute in eine verzweifelte Wut. Der aus vielen Tausend Kehlen erklingende Ruf »Ganz Hamburg hasst die Polizei!« wurde zum wohl meistskandierten Slogan.

    Manchen erschienen die Autonomen in dieser Situation sogar als Verteidiger des Rechtsstaates gegenüber der Polizei. So war in einem Kommentar des ARD-Magazin »Panorama« am 5. Juli zu lesen: »Nun also: wilde Protestcamps überall in der Stadt gegen eine Polizei, die nicht vor einem Rechtsbruch zurückschreckt. Der Frontverlauf also offenkundig: Gut gegen Böse – besser kann man die militante Szene nicht unterstützen. Aus selbstgerechten Krawalltouristen sind die Retter des Rechtsstaats geworden. Danke, Polizei Hamburg!«

    Am 6. Juli ließ die Polizeiführung – sicherlich mit politischer Rückendeckung des Senates – die bis dahin völlig friedliche »Welcome to Hell«-Demonstration wegen ein paar Vermummten noch vor dem Loslaufen so brutal zerschlagen, dass man froh sein konnte, dass nicht noch schlimmere Folgen eintraten. Die gewaltsame Auflösung einer angemeldeten, genehmigten und friedlichen Versammlung ist der eigentliche politische Skandal und erinnerte an das Vorgehen in autoritären Regimen. Die große Mehrheit der Protestierenden reagierte allerdings sehr besonnen. Dass sich so viele Menschen engagiert gegen die zeitweilige Errichtung eines Polizeistaates und gegen staatliche Anschläge auf Demokratie und Versammlungsfreiheit wehrten wie in der Hamburger Protestwoche, sollte jedem Demokraten Grund zur Freude sein. Die von der Staatsgewalt ausgehenden Attacken auf das Grundrecht der Versammlungsfreiheit während der Gipfelwoche müssen aufgearbeitet werden. Auch, weil sie ganz erheblich zur Eskalation am Freitag beitrugen.

    Angriff ist die beste Verteidigung

    Bei dem Generalangriff auf die gesamte Linke tut sich insbesondere die SPD hervor – aus sehr durchsichtigen Motiven: Damit niemand mehr über die von ihr mitverantworteten Grundrechtsverletzungen und Polizeiübergriffe spricht, klagt sie in geradezu hysterischer Weise die Partei Die Linke als »parlamentarischen Arm des schwarzen Blocks« an. Die Rote Flora wird mit Räumung bedroht, dem Gängeviertel soll Fördergeld gestrichen werden, die radikale Linke von ihren gesellschaftlichen Bündnispartnern isoliert werden.

    Das politisch-mediale Trommelfeuer wird noch eine Weile andauern, sich dann aber wieder legen, so wie die Rauchschwaden über der Schanze verzogen sind. Vielleicht tauchen Belege auf, dass auch dieses Mal wieder Zivilpolizisten und V-Leute des Verfassungsschutzes an den Krawallen beteiligt waren – so könnte die Debatte eine andere Richtung bekommen. All das ist schwer abzusehen.

    Klar ist lediglich, dass in der jetzigen Situation nur Standfestigkeit und Offensive helfen. Unter umgekehrten Vorzeichen wäre auf die Taktik zurückzugreifen, die auch die SPD anwendet: Angriff ist die beste Verteidigung. Die Partei die Linke etwa hat sich überhaupt nichts vorzuwerfen. Von Anfang an war sie als einzige Partei gegen den G-20-Gipfel in Hamburg als Austragungsort. Alle Aktionen, die von dem Bündnis, an dem Die Linke beteiligt war, vorbereitet wurden, verliefen so, wie sie angekündigt waren: entweder völlig friedlich, oder es gab kleinere Regelverletzungen durch zivilen Ungehorsam.

    Wir sollten auf die Verantwortlichen verweisen und Konsequenzen fordern. Die Partei Die Linke hat bereits den Rücktritt von Innensenator Andy Grote verlangt. Auch Olaf Scholz müsste seinen Hut nehmen: Wer angemeldete und friedliche Demonstrationen brutal zerschlagen lässt, wer das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit missachtet, wer die Sicherheit von Despoten über die Sicherheit der eigenen Bürger stellt, sollte nicht länger im Amt bleiben. Es ist alles dafür zu tun, dass öffentlich über den Erfolg des Großprotestes gesprochen wird – und zugleich über das polizeistaatsartige Vorgehen gegen die Proteste. Laut von Spiegel Online veröffentlichtem »Wahltrend« vom 11. Juli findet ein Viertel der Befragten den Polizeieinsatz zu hart. In Hamburg dürften diese Zahlen noch weit höher liegen. Das Entsetzen über das Vorgehen der Polizei ist bis weit ins bürgerliche Milieu hinein groß. Die Partei Die Linke sollte jene Kraft sein, die diesem Entsetzen als sozialistische Bürgerrechtspartei politischen Ausdruck verleiht, die Demokratie und Grundrechte einfordert und deren Verletzung konsequent thematisiert.

    Nötig ist eine linke Gegenerzählung gegen die Mainstreammärchen. Eine Erzählung der Erfolge, die der Reduktion eines Massenprotestes auf Ausschreitungen entgegengehalten wird. Eine Erzählung, die Polizeigewalt und Grundrechtsverletzung skandalisiert. Eine Erzählung vom Scheitern der Gegenseite. Gegenwärtig lässt sich damit nur eine gesellschaftliche Minderheit erreichen – zu stark ist das Sperrfeuer von Medien und SPD/CDU/AfD. Doch der Protest gegen den Hamburger G-20-Gipfel kann der Partei Die Linke auch für die Bundestagswahl reichlich Rückenwind geben – wenn sie angesichts der Hetze des politischen Gegners nicht einknickt.

  • · Hintergrund

    Altbekannte Hetze

    Reaktionen der Massenmedien auf Ereignisse zum G-20-Gipfel erinnern an 60er Jahre in BRD
    Bernd Oelsner
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    Damals wie heute richtig: Springer muss enteignet werden (Ostermarsch in Stuttgart, 15.4.1968)

    Die Kampagnen des bürgerlichen Medienkartells vor, während und nach dem ­G-20-Gipfel in Hamburg erinnern an die 1960er Jahre. Massenmedien, die anfangs noch über brutale Polizeiattacken auf friedlich Demonstrierende berichteten, waren binnen weniger Tage auf Linie. Die »Tagesschau« reduzierte den Protest auf »terroristische Gewaltorgien«, die FAZ warnte vor der »Kapitulation des Staates«. Bild übernahm die Funktion von Exekutive und Jurisdiktion, rief die Bevölkerung zur Menschenjagd auf und lieferte die Urteile zur Rechtfertigung möglicher Lynchopfer vorab gleich mit. Ähnliches durchlebte die BRD vor 50 Jahren schon einmal.

    Ende der 1960er Jahre begann sich eine zunehmend stärker werdende außerparlamentarische Opposition (APO) gegen den repressiven BRD-Staat und dessen auf Unterdrückung zielende Notstandsgesetzgebung zu wehren. Zigtausende demonstrierten gegen die Unterstützung des US-Massenmordes in Vietnam. Auch die unkontrollierte Macht privater Medienkonzerne geriet in den Fokus der Kritik. Springers Bild forderte daraufhin offen zur Beseitigung der »Störenfriede« auf. Es war nur eine Frage der Zeit, dass die systematisch erzeugte Pogromstimmung sich entlud. Am 2. Juni 1967 tötete der Polizist Karl-Heinz Kurras während einer Demonstration in Berlin den Studenten Benno Ohnesorg durch einen Schuss in den Hinterkopf. Doch Bild und andere Massenmedien hetzten weiter und stempelten nun den Studentenführer Rudi Dutschke zum »Volksfeind Nr. 1«.

    Anfang Februar 1968 gingen die Scheiben von sieben Springer-Filialen zu Bruch. Für den Konzern und den Westberliner Senat ein Vorwand, allen Linken den Krieg zu erklären. Die Berliner Morgenpost machte aus dem angekündigten Springer-Tribunal eine »Aufforderung zum Terror« und Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Schütz (SPD) warnte: »Unsere Gesetze … werden jeden mit aller Härte treffen, der bei uns Amok laufen will.« Als die APO für eine Großdemonstration gegen den Vietnamkrieg mobilisierte, forderte Bild unter der Überschrift »Stoppt den Terror der Jung-Roten jetzt!« am 7. Februar: »Man darf über das, was zur Zeit geschieht, nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Und man darf auch nicht die ganze Dreckarbeit der Polizei und ihren Wasserwerfern überlassen.«

    Zwei Monate später feuerte Bild-Leser Josef Bachmann drei Schüsse auf Rudi Dutschke ab. Dutschke sei »das Opfer des von ihm gepredigten Hasses geworden«, höhnte das Blatt nach der Tat. Brennende Auslieferungsfahrzeuge für Springer-Zeitungen lieferten bei den folgenden Protesten die gewünschten Bilder. Die Molotowcocktails, mit denen die Lieferwagen in Brand gesteckt wurden, stammten jedoch nicht von »linken Chaoten«, sondern waren von dem V-Mann des Berliner Verfassungsschutzes Peter Urbach verteilt worden. Während Bild und Politik trotzdem weiter gegen Linke hetzten, setzte sich Anstifter Urbach mit Hilfe des Verfassungsschutzes in die USA ab. Auch Bild-Chefredakteur Peter Boenisch wurde belohnt. Er wurde 1983 Mitglied der Bundesregierung, als deren Sprecher unter Helmut Kohl.

  • · Hintergrund

    G20 in Hamburg aus Sicht eines Polizisten

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    Auf dem Blog vionville.blogspot.de veröffentlichte der Polizist Oliver von Dobrowolski am Freitag seine Eindrücke von G 20 in Hamburg, wo er als einer von 30 Berliner »Kommunikationsteam«-Beamten im Einsatz war. Er ist zweiter Vorsitzender des Vereins »PolizeiGrün« von Polizisten, die bei den Grünen sind:

    Freilich wurde ich nicht wie viele Spezial- oder besondere Festnahmeeinheiten an »vorderster Front« eingesetzt, nachdem die Krawalle begannen. Zwar hatte ich neben meiner üblichen Schutzausrüstung auch meinen Helm mit, musste diesen jedoch nicht zum Schutz aufsetzen. Nichtsdestotrotz vermischten sich meine höchst persönlichen Impressionen mit den parallel verfolgten Twitterfeeds der Hamburger Polizei einerseits und der mutmaßlichen Gipfelgegner andererseits zu einem Gefühlspotpourri, das mitunter an Skurrilität nicht mehr zu übertreffen war. Völlig klar, dass die natürlich mit den Kollegen geführten Debatten und die über Funk eintreffenden Erkenntnisse für zusätzliche Würze sorgten.

    Wenn man dann noch den Blick gehoben hat und am bebauten Horizont dunkle Rauchschwaden über Altona und St. Pauli hochsteigen sieht, spätestens dann fragt man sich einfach: What the fucking hell mache ich hier eigentlich?! (...)

    Im Ergebnis bewerte ich meine Einsatzimpressionen sowie den Blick auf die bis dato erfolgten öffentlichen Bewertungen wie folgt: Dass in einem Land wie der Bundesrepublik Deutschland, das als führende Nation in verschiedenen Bündnissen zu Recht Defizite beim Demokratieverständnis sowie den Bürger- und Freiheitsrechten in Staaten wie der Türkei, Ungarn und Russland anprangert, ein Gipfeltreffen mit derartigen Einschränkungen eben dieser Rechte einhergeht und sowohl die politische als auch die polizeiliche Führung einen Rückfall in vergangen geglaubte Zeiten praktizieren, ist unfassbar und beschämend. (…) Die Diskussion, ob ein solcher Gipfel überhaupt in einer Metropolregion hätte stattfinden dürfen (meine Auffassung: nein!) ist müßig. Aber in Hamburg hat man mit der Plazierung des Hauptgeschehens in unmittelbarer Nähe zum Kiez sowie mit dem Transferkorridor und der Allgemeinverfügung gezeigt, dass man schlechte Bedingungen durch falsche Herangehensweisen immer noch verschlimmern kann. (…)

    Ich jedenfalls bin der Meinung, dass die Exekutive den unumstößlichen Auftrag hat, unsere Demokratie und die in ihr lebende Gesellschaft zu schützen. Es gilt, unsere Verfassungswerte und moralischen Grundsätze zu verteidigen. Dass in vielen Menschen nun der Eindruck entstanden ist, gerade die Polizei hat in Hamburg unter Aufbietung ihres gesamten Werkzeugkastens die temporäre Aufhebung von Grundrechten ermöglicht und gestützt, ist gleichermaßen heftig wie fatal. (…) Nun, nicht schwierig dürfte die Feststellung sein, dass es Polizeigewalt definitiv gab. Sorry, Olaf Scholz. Aber die x-fachen Foto- und Videoaufnahmen von meist eindeutigen Situationen, in der keine denkbare Rechtfertigung oder Entschuldigung für körperliche Gewalt vorliegen kann, sprechen eine eindeutige Sprache. Hinzu treten die vielen persönlichen Berichte von Journalisten und Aktivisten, die bei ihrer Tätigkeit behindert oder auch angegriffen wurden, die gewiss nicht in Gänze erfunden sein können.

  • · Hintergrund

    Eine Stadt im Ausnahmezustand

    Heute beginnen in Hamburg die Proteste gegen den G-20-Gipfel. Der Staat setzt auf massive Einschüchterung und Repression
    Kristian Stemmler
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    Temporärer Knast: »Menschenunwürdig, rechtswidrig und einen Skandal sondergleichen« nennt Alexandra Wichmann vom »Anwaltlichen Notdienst« die sogenannte ­Gefangenensammelstelle, die die Hamburger Polizeiführung eigens zum G-20-Gipfel errichtet hat (Aufnahme vom 24.6.2017)

    Wer im Fernzug oder der S-Bahn den Bahnhof Harburg im Süden Hamburgs verlässt, erblickt auf der rechten Seite ein Areal, das wie ein militärisches Sperrgebiet gesichert ist. Zwei Rollen NATO-Draht verdoppeln die Höhe des massiven Metallzauns um das Gelände, auf dem eine blassgelb angestrichene Halle, eine Reihe Container und Polizeifahrzeuge zu sehen sind. Zwischen den Gebäuden laufen einige Uniformträger herum, sonst tut sich wenig. Ein unscheinbar wirkendes Ensemble – und doch ein ebenso monströses wie treffendes Symbol für das Ereignis, das in Hamburg und dem Rest der Republik in diesen Tagen für große Aufmerksamkeit sorgt: das Gipfeltreffen der »Gruppe der 20«, kurz: »G 20«.

    Hinter dem NATO-Draht, das ist die »Gesa«, wie Polizisten und Linke gleichermaßen das Unwort »Gefangenensammelstelle« abkürzen. Ein provisorischer Knast, den Hamburgs Polizei mal eben für den Gipfel an der Peripherie hochgezogen hat. Die Kosten für den Umbau des früheren Großmarkts der Firma Fegro, der zuletzt als Flüchtlingsunterkunft genutzt wurde, belaufen sich auf fast fünf Millionen Euro. Gleichzeitig ist für Ausweichflächen, die das Stadtmagazin Hinz und Kunzt und die Wohlfahrtsverbände der Stadt seit langem händeringend für die Hamburger Obdachlosen fordern, um sie während der Gipfeltage aus dem Tohuwabohu in der City herauszuholen, kein Geld da.

    Schon das zeigt, wo die Herrschenden in Hamburg die Schwerpunkte setzen. Der offiziell als »Treffen der 19 Staats- und Regierungschefs der wichtigsten Industrie- und Schwellenländer und EU-Vertreter« bezeichnete Gipfel wird nicht als »Festival der Demokratie« in die Geschichte eingehen, wie Hamburgs Innensenator Andy Grote (SPD) delirierte, sondern als ein Gipfel der totalen Repression und Einschüchterung, der Suspendierung elementarer Grundrechte und des Demokratieabbaus.

    Eine grundrechtsfreie Veranstaltung

    Die Olympischen Spiele konnte der Erste Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) der Stadt nicht aufdrücken. Dafür hat er ihr eine Art Leistungsshow der deutschen Sicherheitsbehörden verpasst. Für die Zeit vor, während und nach dem Gipfel haben Polizei, Bundeswehr und Geheimdienste in der zweitgrößten Stadt des Landes faktisch das Kommando übernommen. Hamburgs Politiker sind längst zu Statisten degradiert. Die Gerichte nicken fast alles ab. Das Wort vom »Ausnahmezustand« ist darum längst mehr als die routinierte linke Kritik bei derartigen Gelegenheiten.

    Die Gesa ist so etwas wie die Endstation im Repressionssystem, das die Behörden für den Gipfel konstruiert haben. Schneller, als ihnen lieb ist, könnten sich Gipfelgegner in Harburg wiederfinden. Während Trump, Merkel und Co. ihre Köpfe zusammenstecken, werden sie hier für Stunden zusammengepfercht. Gerade einmal 3,23 Quadratmeter sind die 50 Einzelzellen groß; die 70 Sammelzellen für je fünf Personen umfassen neun Quadratmeter. Alle Zellen sind fensterlos. Anwältin Alexandra Wichmann vom »Anwaltlichen Notdienst« bezeichnete die Unterbringung als »menschenunwürdig, rechtswidrig und einen Skandal sondergleichen«. Sogar für Hunde sei ein Zwinger mit einer Mindestgröße von sechs Quadratmetern vorgeschrieben.

    Mit der berüchtigten deutschen Gründlichkeit haben die Behörden in Harburg eine perverse Fließbandabfertigung für festgesetzte Aktivisten aufgebaut. Allein 600 Beamte, schrieb die Welt, seien für den »Fahrdienst« abgestellt. Sie bringen Festgenommene über die Wilhelmsburger Reichsstraße, eine an die Innenstadt angebundene Schnellstraße, zur Gesa. Dort steht alles bereit, was Polizei und Justiz so brauchen: Kabinen zur Durchsuchung, Dolmetscher, neun Kripobeamte für Vernehmungen, Räume für Gespräche mit Anwälten.

    Die Gesa ist nur ein Baustein in der Repressionsstrategie der Polizei. Selbst altgediente Vertreter der linken Protestbewegung sind verblüfft über die Dreistigkeit, mit der die Behörden im Vorfeld des Gipfels agieren. »Noch nie habe ich es erlebt, dass eine ganze Polizei- und politische Führung vor Großereignissen komplett das Gespräch mit den Protestanmeldern verweigert«, sagte Werner Rätz von ATTAC, der seit Jahrzehnten eine Vielzahl von Gipfelprotesten mitgestaltet hat und die für Sonntag vorgesehene Großkundgebung organisiert. Das sei eine »Strategie des Kleinmachens der Proteste«.

    Eine treffende Diagnose. In einer Zeit, in der die soziale Desintegration der Gesellschaft weiter fortschreitet, darf ein fundierter linker Protest offenbar keinen Raum mehr bekommen. Das kann man buchstäblich verstehen, wie der verbissen geführte Krieg der Polizei gegen alle Versuche, anreisende Aktivisten in Camps unterzubringen, beweist. Vor Wochen hat Innensenator Grote bereits das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit in einem 38 Quadratkilometer großen Areal kassiert, der berühmten »blauen Zone«.

    Für Andreas Blechschmidt keine überraschende Entwicklung. Er ist Sprecher des bundesweit bekannten autonomen Kulturzentrums Rote Flora im Schanzenviertel. Den Gipfel nennt er eine »absolut grundrechtsfreie Veranstaltung«, das liege aber »in der Natur der Sache«. Jeder Protest solle abgewürgt werden, dafür fahre der Staat seinen Sicherheitsapparat hoch. Europaweit würde vor dem Gipfel mit Methoden gearbeitet, wie sie mittlerweile bei Fußballhooligans üblich sind: Datenabgleich zwischen den Staaten, Grenzkontrollen, Schleierfahndung, Meldeauflagen, Gefährderansprachen.

    Ähnlich sieht das Deniz Ergün, der Sprecher des Bündnisses »G 20 entern«. Die Strategie der Behörden bezeichnet er als »Sabotageaktion«. Es gehe den Herrschenden darum, jeden linken Protest, der über das Singen von »We Shall Overcome« hinausgeht, zu verhindern und zu kriminalisieren. Wie elementare Grundrechte zum Gipfel außer Kraft gesetzt würden, das sei »ein zivilgesellschaftliches Drama«, so der Aktivist.

    Am Vorabend des Gipfels könnte sich die Gesa in Harburg schnell füllen. Zehn Kilometer Luftlinie entfernt, beginnt heute auf dem Fischmarkt um 16 Uhr mit Musik und Redebeiträgen diejenige von den mehr als 25 angemeldeten Demonstrationen, die am ehesten Ärger verspricht: die antikapitalistische Kundgebung unter dem Motto »Welcome to Hell«. Andreas Blechschmidt ist ihr Anmelder. Er geht von bis zu 10.000 Teilnehmern aus. Die Mannschaftsstärke auf seiten der Polizei dürfte ähnlich hoch sein. Die Stimmung wird seit Wochen hochgekocht. Politiker, Polizei und Mainstreammedien beschwören Bürgerkriegsszenarien. Der Tenor ist altbekannt: Wer hat Angst vorm schwarzen Block? Mal ist die Rede von 4.000 »gewaltbereiten Autonomen«, die aus ganz Deutschland und dem europäischen Ausland anreisen wollen. Dann sind es wieder 8.000 oder gar 10.000. Wenn es zu Ausschreitungen kommen sollte, dürfte das aber nicht nur an der Teilnahme von militanten Aktivisten liegen – sondern vor allem an der Linie der Polizei, für die besonders ein Mann steht: Hartmut Dudde, der polizeiliche Gesamteinsatzleiter beim Gipfel.

    Duddes Welt

    »Duddes Welt wird von Regeln und Prinzipien bestimmt«, schrieb die Welt im Juni 2016, und das umreißt bereits das Problem. Er ist unter dem rechtspopulistischen Innensenator »Richter Gnadenlos« Ronald B. Schill und dessen Polizeipräsidenten Udo Nagel aufgestiegen und gilt als Erfinder der »Hamburger Linie«, die für Härte und Eskalation steht. Mehrfach bescheinigten Gerichte Dudde rechtswidrige Anordnungen, etwa Einkesselungen. Eine spontane Demonstration vor der Roten Flora löste er auf, weil ihm Spruchbänder auf Transparenten zu breit waren, eine Demo vor dem Kohlekraftwerk Moorburg erklärte er für beendet, weil sie ihm zu lange dauerte. Seine behelmten Hunderschaften versteht der Leitende Polizeidirektor als »Gefahrengemeinschaften«. Er verkörpert wie wohl kein anderer Polizeiführer Korpsgeist und Wagenburgmentalität.

    Der Auftritt Duddes auf einer Pressekonferenz am 15. Juni im Hamburger Polizeipräsidium konnte Kritik an seiner Agenda nicht zerstreuen – im Gegenteil. Er könne bei Rechtsverstößen, etwa einer Vermummung, gar nicht anders, als sofort einzuschreiten, behauptete der Spitzenpolizist. Damit leugnete Dudde, dass jeder Einsatzleiter einen Ermessensspielraum hat. Auch sonst sprach sein Verhalten während der Pressekonferenz Bände. Mit einem Dauergrinsen im Gesicht und einer flapsigen Ausdrucksweise, die dem Ernst des Anlasses in keiner Weise angemessen war, trug er vor, was die Sicherheitsbehörden so zu bieten haben. Zum Gipfel werde man »die größte Ballung von Dienstpferden deutschlandweit« haben, und »die Hubschrauberei wird da sein«. »Sie werden das gesamte deutsche Polizeiequipment hier in Hamburg sehen.«

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    Eines lässt sich jetzt schon sagen: Der Einsatz der Polizei wird unverhältnismäßig – martialisch ausgerüstete Einsatzkräfte räumen am Dienstag abend, den 4. Juli, eine Kreuzung in Hamburg

    Genug Einsatzkräfte hat Dudde tatsächlich bei der Hand. Mehr als 20.000 Polizisten aus den Bundesländern, von Bundespolizei und Bundes­kriminalamt, dazu Beamte aus Österreich und den Niederlanden, fast alle Sondereinsatzkommandos (SEK) der Länderpolizeien, die »GSG 9« des Bundes und die im Dezember 2015 aufgestellte Antiterroreinheit »BFE plus« (Beweis- und Festnahmeeinheit). Auch das Waffenarsenal ist beeindruckend: Tausende von Kleinwaffen, 43 Wasserwerfer, 20 Hubschrauber, davon drei von der Bundeswehr, diverse Räumpanzer, jede Menge Drohnen, ferner 120 Polizeipferde und 140 Diensthunde.

    Was bezwecken die Herrschenden damit, einen solchen Gipfel mitten in einer europäischen Metropole stattfinden zu lassen, direkt neben einem der profiliertesten linken Quartiere des Landes? Diese Frage beschäftigt nicht nur Linke seit Monaten. Die von Regierungssprecher Steffen Seibert, Hamburgs Erstem Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) und anderen gebetsmühlenartig vorgebrachte Begründung, nur eine Großstadt wie Hamburg könne einen solchen Gipfel stemmen, wirkt wenig überzeugend. Dass Scholz sich für die Schlappe beim Referendum über die Olympia-Bewerbung 2024 rächen und seine Stadt als weltweite Marke etablieren will, klingt schon plausibler. Aber aus linken Kreisen sind auch noch andere Vermutungen zu hören. Die Herrschenden, heißt es, nutzten die Gelegenheit, um in Hamburg den Bürgerkrieg und die Aufstandsbekämpfung zu üben.

    Willkommene Notstandsübung

    Für diese These spricht einiges. Der G-20-Gipfel ist für die Sicherheitsbehörden auf jeden Fall ideal, um das Zusammenspiel unter realistischen Bedingungen zu üben. Also etwa die Kooperation von Polizei, Bundeswehr und Geheimdiensten. In Hamburg kommt eine zumindest abstrakte Terrorgefahr wegen der Anwesenheit der am meisten gefährdeten Politiker der Welt mit der Gefahr von »autonomen Krawallen« zusammen. Das erlaubt den Behörden, alles aufzufahren, was sie haben. Aus Sicht der Polizei könnte man also über die »gewaltbereiten Militanten« sagen: Sie kommen wie gerufen.

    Angesichts des Polizeistaatsaufmarsches in Hamburg lässt sich die These von der Aufstandsbekämpfung aber noch zuspitzen. Wird sie in Hamburg nur geübt – oder ist der G-20-Einsatz nicht bereits ein Stück weit Aufstandsbekämpfung, präventiv sozusagen? Wenn Bundespolizisten mit Maschinenpistolen im Anschlag rund um den Hauptbahnhof patrouillieren, Hundertschaften mit Martinshorn durch die Stadt rasen und Polizeihubschrauber minutenlang in der Luft stehen, bekommt der Ausnahmezustand eine sinnlich fassbare Dimension.

    Ob die Herrschenden das konkret so geplant oder gewollt haben, ist im Grunde ohne Belang. Der Einsatz zum Gipfel kann kaum anders verstanden werden denn als Machtdemonstration. Dabei liegt auf der Hand, dass die Adressaten nicht die Hamburger sind, die in den teuren Boutiquen auf der Einkaufsstraße Neuer Wall shoppen, oder die Mittelschichtfamilien, die über die Mönckebergstraße bummeln. Gemeint sind die Abgehängten, die Marginalisierten – und natürlich all jene, die sich nicht davon abbringen lassen, mit ihnen solidarisch zu sein.

    Nico Berg von der Interventionistischen Linken meint: »Meine These ist, dass der Staat zunehmend den Anspruch entwickelt, seine Machtausübung in jeder Facette unseres Lebens und zu jedem Zeitpunkt total durchsetzen zu können. Im kapitalistischen Alltag ebenso wie bei dessen Erschütterung durch ein Großereignis.« Der Gefängnispsychologe Götz Eisenberg hat das schon im Jahr 2000 treffend auf den Punkt gebracht, als er die »Funktionsimperative« in den »Metropolen des entfesselten Marktes« so beschrieb:

    »Die deregulierten Individuen sollen moralischen und psychischen Ballast abwerfen und sich in flexible und beschleunigungsfähige Nomaden verwandeln, die jedwede Form der Bindung an Orte, Menschen und die eigene lebensgeschichtliche Vergangenheit und Prägung abgestreift haben. Die noch verwertbaren und für die Reproduktion des Kapitals des Menschen benötigten Menschen werden dynamisiert und über Konsum- und Statusprämien ans System gebunden; über die anderen, die Entbehrlichen und Herausgefallenen, wird mehr und mehr der Polizeistaat kommen.«

    Hamburg im Juli 2017 ist da ein Vorgeschmack. Und Widerstand darum dringender denn je. Ein »Festival des Widerstandes« müssen die Gipfeltage werden, um das Zitat des Innensenators abzuwandeln. Dafür ist es wichtig, sich den Schneid nicht abkaufen zu lassen, sich von der Atmosphäre einer von den Sicherheitskräften besetzten Stadt nicht erdrücken zu lassen. »Nutzen wir also die Gelegenheit, um ins Gespräch zu kommen, Aktionen zusammen vorzubereiten und Strukturen für zukünftige gemeinsame Kämpfe aufzubauen«, heißt es im Flyer des Bündnisses »G 20 entern«. Und weiter: »Wir sind weder isoliert noch weltfremd, wir stehen Schulter an Schulter mit allen, die sich wehren, egal ob beim Streik in einer Hamburger Kita oder dem bewaffneten Kampf in Rojava. Wir müssen unser Kräfte bündeln und Kämpfe verbinden, damit wir neue Perspektiven aufbauen können.« Ganz ähnlich sieht es auch das Bündnis »Perspektive Kommunismus«: »Genua, Prag, Göteborg, Heiligendamm und jetzt Hamburg – Gipfeltreffen der Herrschenden waren immer auch Orte des Widerstands und der Perspektive einer anderen Gesellschaft.« Hamburg könne als »Gradmesser für die Organisierungsbestrebungen der antikapitalistischen Linken und deren Mobilisierungsfähigkeit« gesehen werden, heißt es in einer Broschüre.

    Militanzfrage

    Auch der Frage, die schon wie vor zehn Jahren in Heiligendamm für Spaltungen unter den linken Gipfelgegnern sorgen könnte, weicht die Broschüre nicht aus, der Frage nach der Militanz. In dem Text einer Gruppe namens »Kinder der Praxis« ist zu lesen: »In diesem Bereich erst aktiv zu werden, wenn die Notwendigkeit dazu auch einem Großteil der Bevölkerung klar ist, heißt mit Sicherheit zu verlieren.« Wie in jedem anderen Bereich politischer Arbeit müssten auch hier Erfahrungen gesammelt werden, müsse »ausprobiert und langsam, Stück für Stück, Gegenmacht aufgebaut werden«. Die Gruppe formuliert so etwas wie einen »Code of Conduct«, einen Verhaltenskodex für militante Aktionen. Unbeteiligte dürften nicht gefährdet werden, und »die Angriffsziele sollten möglichst klar und deutlich sein und für das System stehen«. Wenn etwa Bushaltestellen wegen der dort befindlichen Werbetafeln zertrümmert werden, werde das von den meisten als Zerstörung von nützlicher Infrastruktur wahrgenommen und abgelehnt.

    Wie die drei kritischen Tage – also der heutige 6. Juli mit der antikapitalistischen Demo, der 7. Juli mit den Blockadeaktionen im Hafen und rund um die Messehallen und der 8. Juli mit der Großkundgebung zum Abschluss des Gipfels – wirklich ausgehen, lässt sich nicht vorhersagen. Dass Politiker und Mainstreammedien die Platte vom »linken Mob« auflegen werden, sobald der erste Stein fliegt (und wer weiß, ob nicht die Polizeiführung mit Agents provocateurs selbst dafür sorgen wird), ist klar. Aber sollen Linke sich danach ausrichten?

    Flora-Sprecher Blechschmidt ist jedenfalls davon überzeugt, dass Olaf Scholz nicht klar gewesen ist, was auf ihn zukommen würde, als er seine Stadt für das Treffen der Mächtigen zur Verfügung stellte. »Er hat sich verkalkuliert, und jetzt geht es nur noch nach der Devise: Augen zu und durch!« so der Aktivist. Bei Scholz und seinem Umfeld sei »ein gewisser Autismus« erkennbar.

    Ab heute wird sich erweisen, ob das Kalkül der Herrschenden, den linken Widerstand quasi in seine »Übung« einzubauen, aufgeht und Scholz’ begieriger Wunsch, mit dem G-20-Gipfel die »Marke Hamburg« weltweit zu etablieren, erfüllt wird. Ein Erfolg wäre es sicherlich schon, wenn Hartmut Dudde sein Grinsen vergeht.

  • · Hintergrund

    Rotlicht: G 20

    Klaus Fischer
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    Royal with cheese. Ob bei den Zusammenkünften der G 20 aussschließlich Käse verhandelt wird, wissen wir nicht. Aber immerhin entstehen schöne Bilder, hier 2009 mit Königin

    Am Wochenende ist Showtime. In Hamburg versammeln sich die Staats- und Regierungschefs der 19 »wichtigsten Industrie- und Schwellenländer« sowie Vertreter der EU zum G-20-Gipfel. Das klingt mächtig gewaltig, ist es im Grunde auch – selbst wenn es aus Sicht der deutschen Präsidentschaft eher darum geht, der »Führerin der freien Welt« (New York Times) im Herbst die Wiederwahl zu ermöglichen. Die Bundeskanzlerin soll das Treffen orchestrieren, schreiben die Konzernmedien. Angela Merkels Appelle für »Freihandel« und »Klimaschutz« sind bekannt, und »mitgerissen« fühlen sich bei solchen Anlässen ohnehin nur die hiesigen »Pressköter« und »Tintenstrolche« (Karl Kraus).

    Der Akt wird teuer, Positives ist nicht zu erwarten. Außer den zigtausend Kritikern und Gegnern, die ihr Kommen angesagt haben und eine Art Rahmenprogramm gestalten wollen – das die Staatenlenker arrogant zu ignorieren vorgeben. Die »Gipfelstürmer« sind es, deren Stimme für all jene sprechen soll, die von den Regierenden nicht repräsentiert werden.

    Die Gruppe der 20 (19 Staaten plus EU) gibt es seit 1999. Sie ist Resultat einer beim globalen Kapital gelegentlich zu beobachtenden Bandenbildung. Um ihre Absichten zu verdecken, geben sich die Gangs unauffällige Namen, wie EU, NATO oder eben G 20. Gemeinsam werkeln sie heute am selben Ziel: Durchsetzung und Sicherung einer neuen Art politischer, wirtschaftlicher und kultureller Weltherrschaft.

    Das großes Rad hat die G 7 in Schwung gebracht. Insbesondere nach Zusammenbruch des realen Sozialismus brauchte es neue Strategien. Der »alte Westen«, historisch lange in der Defensive, berappelte sich und kreierte die Mär von der Globalisierung. Tatsächlich geht es um den Zugriff des internationalen Monopolkapitals auf Ressourcen und Institutionen. Überall, zu gleichen Bedingungen. Staaten gelten als Hemmnisse, »Freihandelsabkommen« sollen Garantien für die unbehinderte Mehrung des von »Investoren« riskierten Kapitals gewähren. Ein beispielloser Eroberungsfeldzug.

    Doch Billionen Dollar, Meinungsdominanz und Overkillpotential reichen nicht. Wenn Strukturen zerschlagen und neue etabliert werden, gilt es, diese zu sichern. Das ist der Hauptgrund, weshalb sich die Initiatoren gezwungenermaßen Helfer gesucht haben. Die Gruppe der 20, quasi eine um zwölf Mitgliedsländer erweiterte G 7, war und bleibt auserkoren, diesen Job zu machen.

    Die drei genannten Gangs (und weitere) spielen hierbei ihre spezifische Rolle: Die EU ist als poststaatliches Regulierungsgebilde konzipiert. Dort sind westeuropäische Kapitalinteressen repräsentiert. 20.000 Eurokraten agieren als Förderer und Beschützer des »freien Kapitalverkehrs«, der ohne Scham als essentielles Ziel postuliert ist. Diese Leute bauen »Investitionsautobahnen«, Hemmnisse werden beseitigt. Brüssel fördert Freizügigkeit der Ware Arbeitskraft, untergräbt soziale Sicherungs­systeme – und behauptet, es sei Freiheit. Es werden Spielregeln aufgestellt, nach denen der Verwertungsprozess im Herrschaftsgebiet – und darüber hinaus – abzulaufen hat.

    Die NATO soll das militärisch sichern. Bis Anfang 2017 sorgte das Bündnis dafür, dass USA und EU im Gleichschritt marschierten: vorne Washington, dahinter London und Paris mit ihren Atomwaffenarsenalen. Deutschland, mit der auf seinem Territorium konzentrierten Wirtschaftskraft, spielt eine Sonderrolle. Nach dem Zerwürfnis mit Washington mutiert Berlin als Hauptfinanzier der EU endgültig zur politischen Führungsmacht.

    Diese versucht Merkel beim G- 20-Gipfel zu demonstrieren. Die USA gelten unter Trump nicht mehr als Leitwolf der Globalisierungsmeute. Das hat einen gewissen Charme, dürfte aber eine Fehleinschätzung sein. Absurd wäre anzunehmen, Merkel oder Merkel-Macron könnte bzw. könnten diese Rolle spielen. Und klar ist auch: China, Indien, Brasilien, Indonesien, Mexiko, die Türkei, Saudi-Arabien, Südkorea, Argentinien und Südafrika haben eigene Pläne und Interessen. Russland sowieso.

  • · Hintergrund

    Das Gespenst des Populismus

    Der Kapitalismus zerstört das Bekannte und Traditionelle. Viele Menschen erfahren das als existentielle Verunsicherung. Die Linke darf das Leiden am Fortschritt nicht den Rechten überlassen, sondern muss Wege finden, gesellschaftliche Ängste nach links zu wenden
    Götz Eisenberg
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    Die rassistischen Mobilisierungen durch Pegida, die Deutschland seit dem Herbst 2014 erlebt, sind auch Ausdruck einer Verunsicherung angesichts der immens beschleunigten Veränderung und Zerstörungswut des Kapitalismus – die Linke hat darauf bisher kaum Antworten gefunden (Pegida-Demonstration am 17.8.2015 in Chemnitz, dem ehemaligen Karl-Marx-Stadt)

    Erich Kästner hat 1958 in Hamburg anlässlich des 25. Jahrestages der Bücherverbrennung eine Rede gehalten, in der es heißt: »Die Ereignisse von 1933 bis 1945 hätten spätestens 1928 bekämpft werden müssen. Später war es zu spät. Man darf nicht warten, bis der Freiheitskampf Landesverrat genannt wird. Man darf nicht warten, bis aus dem Schneeball eine Lawine geworden ist. Man muss den rollenden Schneeball zertreten. Die Lawine hält keiner mehr auf. (…) Drohende Diktaturen lassen sich nur bekämpfen, ehe sie die Macht übernommen haben.«

    Dieser Passus enthält Handlungsanweisungen für diejenigen unter uns, die in Deutschland und Europa die Gefahr einer Faschisierung erkennen. Wir müssen uns dringend um linke Aneignungsformen von Energien, Sehnsüchten, Leidenserfahrungen und Ängsten bemühen. Sonst werden sie von den Rechten instrumentalisiert und nach rückwärts in Gang gesetzt. Wenn es den Faschisten und Rechtspopulisten gelingt, wie in den Jahren vor 1933, die real existierende kapitalistische Entfremdung in die völkische Schimäre der »Überfremdung« zu verwandeln, werden wir Zeugen einer Faschisierung – mit Migranten, Flüchtlingen und Linken in der Rolle der Sündenböcke und Opfer. Die Umwandlung von Entfremdungserfahrungen in Hass auf Fremde und Fremdes ist eine basale rechte Operation und das Geheimnis des Erfolges der sogenannten Rechtspopulisten. Dabei nicht mitzumachen und statt dessen darauf zu beharren, dass es die sich selbst antreibende Teufelsmühle des Kapitals ist, die uns alles entfremdet, markiert eine klare Scheidelinie zwischen linker und rechter Politik.

    Im Namen »des Volkes«

    Ein Gespenst geht um in der westlichen Welt – es ist nicht mehr, wie zu Karl Marx‘ Zeiten, das Gespenst des Kommunismus, sondern das des Populismus. Der Begriff stammt aus dem Lateinischen, wo »populus« das Volk bezeichnet. Soziologisch verweist »Volk« auf vorbürgerlich-feudale Zustände. Könige und Kaiser sprachen von »meinem Volk«. Die bürgerliche Gesellschaft ist durch den Klassengegensatz von Bourgeoisie und Proletariat gekennzeichnet, nicht durch den Gegensatz von der in Stände und Kasten sich gliedernden Masse des Volkes und der Obrigkeit. »Das Volk« existiert im Alltag des bürgerlichen Politikbetriebs eigentlich nur als legitimierendes »Ding an sich«, das für die Konstruktion einer politischen Gesamtordnung benötigt wird. Schließlich hatte das Grundgesetz »das Volk« als Souverän eingesetzt, von dem alle Staatsgewalt ausgehen sollte. »Aber wo geht sie hin?« fragte Brecht.

    Souverän ist »das Volk« nur in den Schriftsätzen der Staatsrechtler. Gerichte verkünden Urteile in seinem Namen; Politiker rufen es gelegentlich an, wenn sie irgendwelche Sonderinteressen als Ausdruck eines allgemeinen Willens erscheinen lassen wollen. Ansonsten stört es eher den geregelten Betrieb, der bestens ohne seine direkte Beteiligung auskommt. Die politischen Institutionen und ihr Personal haben sich verselbständigt und führen ein Eigenleben. »Das Volk« hat alle vier Jahre das Recht, zwischen verschiedenen Fraktionen dieses Personals zu wählen und zu entscheiden, wer in der nächsten Legislaturperiode als »geschäftsführender Ausschuss« (Marx) der herrschenden Klasse fungiert. Merkwürdigerweise hat der Kapitalismus die Einführung der Massendemokratie überlebt. Das lässt sich nur durch den Umstand erklären, dass die Massen bei ihrer Wahlentscheidung gegen ihre eigentlichen, wohlverstandenen Interessen agieren und die Spielregeln bürgerlicher Politik akzeptieren.

    Aber gegenwärtig erschreckt »das Volk« die etablierten Politiker, die in seinem Namen agieren. Es betritt unangemeldet und ohne Einladung die politische Bühne und klagt jene durch die komplexen repräsentativen Mechanismen moderner Massendemokratien verlorengegangene Souveränität ein. Der Begriff »Populismus« ist inzwischen zu einem Kampfbegriff geworden, der all diese Einmischungsversuche des »Volkes« als illegitim und irrational verteufelt und in den Bereich des Anrüchigen verweist. Dieses Verdikt trifft Linke wie Rechte gleichermaßen. Die Bezeichnung der Anhänger der Populisten als »Pöbel« und »Mob« zeugt davon, dass bei den Herrschenden die alte Verachtung für die sogenannten Unterschichten immer noch virulent ist.

    Linker Populismus?

    Der unmittelbare Ausdruck der Ansichten und Wünsche der »kleinen Leute« ist nicht per se progressiv und eine Kraft gesellschaftlichen Wandels; er kann auch das Gegenteil darstellen. Die Linke kann sich nur solange auf »das Volk« berufen und »Alle Macht dem Volke!« fordern, wie dieses das allgemeine Interesse und die Vernunft repräsentiert.

    Das hiermit gemeinte »Volk« besteht nicht aus denjenigen, die heute die bürgerliche Demokratie stützen: die Wähler und Steuerzahler, die große Zahl der braven Staatswichtel. Das Volk, das die Macht hätte, sich zu befreien, wäre nicht mehr dasselbe wie das, das heute den Status quo reproduziert – selbst wenn es aus denselben Individuen bestünde. So richtig es ist, dass das Volk sich selbst aus seiner Knechtschaft befreien muss, so richtig ist es auch, dass es sich zuerst von dem befreien muss, was von der Gesellschaft, in der es zu leben gezwungen ist, aus ihm gemacht wurde.

    In seiner gegenwärtigen Verfassung ist »das Volk« eher der Bezugspunkt der Rechten, die die umlaufenden Vorurteile, Ressentiments und Meinungen aufgreifen und so, wie sie sie vorfinden, für ihre Zwecke in Dienst nehmen können. So ist es Donald Trump gelungen, das »große Unbehagen« der kleinen Leute und ihre Wut auf das Establishment für sich und die Republikaner zu mobilisieren. Sein Triumph lehrt uns: Man sollte die Angst, enteignet und herumgestoßen zu werden, nicht ignorieren.

    Linke haben es mit Versuchen, diese Energien zu nutzen, natürlich schwerer. Wirkliche Aufklärung ist im Vergleich zu der rechten Indienstnahme von Ressentiments und Wut mühsam und schmerzhaft. Sie muss den steinigen Acker der Vorurteile bestellen, den herumliegenden Rohstoff an alltäglichen Ängsten komplizierten Bearbeitungsprozessen unterziehen. Sie muss lange Wege und Umwege gehen, um von der Erscheinungswirklichkeit zum Wesen der Dinge vorzudringen. Aber wir müssen es bei Strafe unseres Untergangs versuchen und dürfen den verstreuten Rohstoff nicht den Rechten überlassen. Leo Löwenthal und Norbert Guterman haben in ihrer Studie über »Falsche Propheten« schon Ende der 1940er Jahre dazu geschrieben: »Man kann diese Gefühle nicht einfach als zufällig oder den Menschen eingeredet abtun; sie gehören zum Grundbestand der modernen Gesellschaft. Misstrauen, Abhängigkeit, Sich-ausgeschlossen-Fühlen, Angst und Desillusionierung fließen in eins zusammen und ergeben einen grundlegenden Zustand im heutigen Dasein: das große Unbehagen.«

    Ich will im folgenden versuchen, gegenwärtige Formen des »großen Unbehagens« zu umreißen.

    Einbruch der Zukunft

    In seinem Erzählband »Raumpatrouille« von 2016 schildert Matthias Brandt eine Reise mit seiner Mutter in einen kleinen Ort in Norwegen, in dem sich das Ferienhaus der Familie Brandt befand. »Nach dem Ausladen des Gepäcks öffnete sie alle Fenster und Türen und ließ die kühle Mailuft durchs Haus wehen. Sie schaltete das alte Radio an, Musik tönte über das Grundstück bis in den dahinter gelegenen Wald. Schön war es in dieser Welt, die sich nicht gleich veränderte, wenn man ihr mal kurz den Rücken zudrehte.«

    Brandt beschreibt hier eine Erfahrung, die viele Menschen machen, seit der gesellschaftliche Wandel sich drastisch beschleunigt hat: Kehrt man irgend etwas den Rücken zu, ist es beim Wiederumdrehen entweder verschwunden oder bis zur Unkenntlichkeit verändert. Man kommt nach Jahren in seinen Heimatort und findet kaum etwas wieder. Nichts ist mehr an seinem angestammten Platz. War hier nicht die Schule, die man besucht, dort das Kino, in dem man seine ersten Filme gesehen hat? Wo ist der Sportplatz geblieben, auf dem man das Glück des Fußballspielens und die Wonnen der Gemeinschaft entdeckte? War hier nicht mal die Post und dort drüben der Schuster? Wo sind die alten Ulmen geblieben und die Bänke im Schatten?

    Ganze Landschaftsbilder verändern sich, Wälder werden gerodet, Bach- und Flussläufe verlegt, Autobahntrassen zerteilen den Raum. Demnächst sollen im Nahverkehr die Papierfahrkarten abgeschafft und durch E-Tickets ersetzt werden. Die Kassiererinnen in den Supermärkten werden nach und nach verschwinden und durch Scanner ersetzt, die jeder Kunde selbst in die Hand nehmen soll. Irgendwann wird man das Bargeld ganz aus dem Verkehr ziehen. Die Digitalisierung fegt über das Land wie ein Sturm. Die eingespielte Ordnung der Dinge wird erschüttert und durcheinandergewirbelt.

    Routinen sind ja dazu da, Menschen von den Strapazen ständiger Entscheidungsfindung zu entlasten. Aber es geht heute im Zeitalter der »Projekte« nicht mehr darum, Leute zur Erfüllung bestimmter Routinen zu dressieren und zur Betriebstreue anzuhalten, sondern umgekehrt, sie von der Fixierung auf bestimmte Berufsbilder wegzubringen. Es soll gar nicht mehr dazu kommen, dass sich Routinen und Bindungen ausbilden. Die Subjekte müssen sich darauf einstellen, nicht mit Kontinuitäten, sondern mit Diskontinuitäten zu leben. Sie werden darauf verpflichtet, sich für Einflüsse und Veränderungen offen zu halten und die Fähigkeit zu entwickeln, sich psychisch permanent »umzumontieren« und neu zusammenzusetzen.

    Flexibilität und Mobilität sind die Kardinaltugenden einer Gesellschaft, deren einzige Konstanz der ständige und immer schnellere Wandel ist. Wohlgemerkt: Nicht die Flüchtlinge sind die Ursache dieser Verunsicherung, wie rechte Populisten glauben machen wollen, sondern der Kapitalismus selbst ist es, der nicht existieren kann, ohne bei seiner Jagd nach neuen Verwertungsmöglichkeiten ständig alles umzuwälzen und von Innovation zu Innovation zu hetzen.

    Der Einbruch der Zukunft in die Gegenwart eröffnet den Menschen nicht nur Chancen, sondern verunsichert sie auch. In ihrer Frankfurter Poetikvorlesung hat Christa Wolf postuliert, wir müssten lernen, »Freude aus Verunsicherung (zu) ziehen«, und diesen Imperativ sogleich mit der skeptischen Frage verbunden: »Wer hat uns das je beigebracht?« Je traditioneller ein Mensch geprägt ist, je mehr man ihn in einen Charakterpanzer gezwängt hat, desto schwerer wird er sich damit tun, angesichts von Unbekanntem Freude zu empfinden. Vielen Menschen geht es wie Meister Anton, der am Ende von Friedrich Hebbels Theaterstück »Maria Magdalena« sinnend stehenbleibt und ausruft: »Ich verstehe die Welt nicht mehr!«

    Der gerade verstorbene Soziologe Zygmunt Bauman hat in seinem letzten Buch »Die Angst vor den anderen – ein Essay über Migration und Panikmache« zwei verschiedene Reaktionen auf das massenhafte Auftauchen von Fremden unterschieden. In den gentrifizierten Rucola- und Smoothie-Bezirken der Großstädte treffe man auf »Mixophilie«, das heißt eine Vorliebe für vielfältige, heterogene Umgebungen, gepaart mit der Lust auf neue Erfahrungen und Abenteuer; bei den Verlierern der Globalisierung eher auf »Mixophobie«, das heißt die Angst vor der Vermischung und dem Einbruch des Unvertrauten ins Reich des Gewohnten. Didier Eribon hat dieses Phänomen in seinem Buch »Rückkehr nach Reims« auf den Punkt gebracht. »Man merkt schon, wo du wohnst. In deinen Vierteln gibt’s so was nicht«, antwortet die Mutter des linken und »mixophilen« Soziologen auf dessen Frage, warum sie den Front National wähle.

    In Oskar Negts gerade erschienener Autobiographie »Überlebensglück« spielen die Überlegungen des in den USA geborenen und später nach Israel emigrierten Medizinsoziologen Aaron Antonovsky eine wichtige Rolle. Dieser hat in seinem Buch »Salutogenese« Faktoren benannt, die für die Aufrechterhaltung der menschlichen Gesundheit von Bedeutung sind. Es geht vor allem um das Gefühl der Kohärenz, das er als zentrale Voraussetzung von Gesundheit bezeichnet und das auf guten Beziehungserfahrungen basiert. Negt fasst Antonovsky wie folgt zusammen: »Zur Kohärenz gehören drei Aspekte: die Fähigkeit, die Situation, in der man sich befindet, und die Zusammenhänge zu verstehen – also das Gefühl der Verstehbarkeit; weiterhin die Überzeugung, dass man das eigene Leben gestalten kann – das Gefühl der Handhabbarkeit sowie schließlich der Glaube, dass das Leben einen Sinn hat – das Gefühl der Sinnhaftigkeit.« Ein intaktes Gefühl von Kohärenz hält die Angst im Zaum, die die Grundlage der meisten psychischen Erkrankungen ist.

    Wenn wir uns vor Augen halten, wie es gegenwärtig für viele Menschen um die Verstehbarkeit ihrer Lage, um die Möglichkeit, ihr Leben aktiv zu gestalten und als mit Sinn erfüllt zu erleben, bestellt ist, wird klar, dass sie unter inkohärenten, Angst auslösenden und krankmachenden Bedingungen zu leben gezwungen sind. Statt Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit erfahren sie Kontrollverlust, Hilflosigkeit, Ohnmacht und ein Gefühl des Ausgeliefertseins. Sie erleben sich als Anhängsel intransparenter finanzieller Abstraktionen und anonymer Superstrukturen und spüren, dass es auf sie und ihre Motive überhaupt nicht ankommt.

    Auf ihrem Gipfelpunkt scheint sich die Konzentration der ökonomischen Macht in Anonymität zu verwandeln. Die Menschen wissen nicht mehr, wen sie für ihr Unglück verantwortlich machen und gegen wen sie ihre berechtigte Wut richten sollen. In ihrem Roman »Reisende auf einem Bein« lässt Herta Müller ihre Protagonistin, die ebenso wie die Autorin aus Rumänien in die Bundesrepublik emigriert war, sagen: »In dem anderen Land habe ich verstanden, was die Menschen so kaputtmacht. Die Gründe lagen auf der Hand. Es hat sehr weh getan, täglich die Gründe zu sehen. Und hier, sagte Irene. Ich weiß, es gibt Gründe. Ich kann sie nicht sehen. Es tut weh, täglich die Gründe nicht zu sehen.«

    Auf der Basis dieser verbreiteten Erfahrung wächst die Anziehungskraft populistischer Vereinfachungen und Verschwörungstheorien. »Die Bösen sind wir los, das Böse ist geblieben«, hat der Sozialpsychologe Peter Brückner geschrieben. Verschwörungstheorien bieten den Vorteil, dass »das Böse« pseudologisch aus seiner Anonymität herausgeholt wird und man am Ende den oder die Bösen präsentiert bekommt.

    Wo Veränderungen und Wandlungen epochalen Ausmaßes geschehen, wie in den letzten Jahrzehnten im Kontext der auf die Mikroelektronik gestützten dritten industriellen Revolution, entsteht eine Diskrepanz zwischen dem gewaltigen Überhang an veränderten Verhältnissen und der Innenausstattung und Lernfähigkeit der Menschen. Das subjektive Verarbeitungsvermögen vieler hinkt den objektiven Umbrüchen hinterher. Die Art und Weise, wie sie gelernt haben, ihre Wahrnehmungen und Erfahrungen zu organisieren, taugt nicht länger zur Erfassung vieler neu­artiger Phänomene.

    Die Menschen fallen aus ihrer gewohnten Ordnung und machen massenhaft eine Erfahrung, die der Schriftsteller Alexander Kluge als »Sinnentzug« beschrieben hat. Darunter versteht er »eine gesellschaftliche Situation, in der das kollektive Lebensprogramm von Menschen schneller zerfällt, als die Menschen neue Lebensprogramme produzieren können«. Die Synchronisation von Identitäts- und Realitätsstruktur, die sich während ruhigerer Phasen der gesellschaftlichen Entwicklung herstellt und den Individuen das Gefühl der Kohärenz ermöglicht, geht verloren. Bisher gut angepasste Menschen haben das Gefühl, dass der Film der äußeren Realität schneller läuft als der innere Text, den sie dazu sprechen. Sie fühlen sich aus ihrer Ordnung der Dinge katapultiert, desorientiert, entwirklicht und werden von der Angst heimgesucht, eines nicht mehr fernen Tages vollends aus der Welt zu fallen. Nach der im Namen des Neoliberalismus betriebenen Schleifung des Sozialstaats stellt sich für viele die Frage: Welche Netze sind imstande, diesen Sturz aufzufangen? Wenn die Unübersichtlichkeit eskaliert und die symbolische Ordnung der Welt durch ein Übermaß fremder, unverständlicher Bedeutungen zu erodieren droht, beginnen die Menschen von der Gartenlaube zu träumen. Wie im Nähkästchen der Großmutter liegt dort alles an Ort und Stelle. Im Dämmerlicht des Kerzenscheins wird aus der bürgerliche Kälte die heimelige Wärme der »Volksgemeinschaft«.

    In vielen Strömungen und Bewegungen der Gegenwart artikulieren sich Bedürfnisse nach Nichtveränderung: Es soll endlich mal alles so bleiben, wie es ist. Solche regressiven Sehnsüchte werden traditionell von der politischen Rechten aufgegriffen und mit rückwärtsgewandten Konzepten beantwortet. Es sind faschistische Rattenfänger, die den herumliegenden Angstrohstoff aufsammeln und für ihre Ziele missbrauchen. Aber sind diese Sehnsüchte schon per se rechts konnotiert? Sind nicht auch andere, linke Formen des Umgangs mit diesen Leidenserfahrungen möglich und denkbar?

    Kältestrom« und »Wärmestrom«

    Der Philosoph Ernst Bloch hat in seinem Buch »Erbschaft dieser Zeit« der Weimarer Linken, vor allem den Kommunisten, den Vorwurf einer »Unterernährung an sozialistischer Phantasie« gemacht. Die Linke habe allzu vieles dem Feind überlassen, dem der Missbrauch dieser Themen leichtgemacht wurde, »weil die echten Revolutionäre hier nicht Wache gestanden haben«. Die linke Propaganda sei vielfach kalt, schulmeisterlich und ökonomistisch gewesen. Während die Rechten in Bildern und Metaphern schwelgten, die der Phantasie der Menschen Nahrung boten, langweilten die Linken mit dem sturen Ableiern von Parolen: »Nazis sprechen betrügend, aber zu Menschen, die Kommunisten völlig wahr, aber nur von Sachen. Die Kommunisten strapazieren oft gleichfalls Schlagworte, aber viele, aus denen der Alkohol längst heraus ist und nur Schema drinnen. Oder sie bringen ihre richtigen Zahlen, Prüfungen, Buchungen denen, die den ganzen Tag über mit nichts als Zahlen, Buchungen, Büro und Trockenarbeit verödet werden, also der gesamten ›Wirtschaft‹ subjektiv überdrüssig sind.«

    Die auf die Entlarvung ökonomischer Widersprüche fixierte Linke geriet in den Bann des »Kältestroms«, der von der kapitalistischen Ökonomie ausgeht, und vernachlässigte den »Wärmestrom«, der das ist, was die Phantasie anregt, die Menschen berührt und antreibt. Die Vorstellungen von der Revolution waren blutleer und abstrakt; manchmal schien es, als wollte man sie nur vollziehen, um den historischen Materialismus durchzusetzen, wie Brecht einmal bissig bemerkte. Der Triumph des Faschismus resultierte in Blochs Wahrnehmung auch aus der Unfähigkeit der sozialistischen und kommunistischen Linken, die unglücklichen, hungrigen – sinnhungrigen! –, ohne Ziel umherirrenden Menschen satt zu machen: »Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, besonders wenn er keines hat.«

    Lebte Ernst Bloch noch, würde er der heutigen Linken empfehlen, sich um emanzipatorische Aneignungsformen aktueller Leidenserfahrungen zu bemühen und den Begriff »Heimat« der nostalgischen Rechten abspenstig zu machen, die ihn betrügerisch ausschlachtet. Das Leiden der Menschen unter dem ruinösen Prinzip des technischen Fortschritts ist massenhaft vorhanden, aber es ist in den psychischen Untergrund gedrängt, wo es sich in ein chiffriertes, körpersprachliches Ausdrucksgeschehen verwandelt, mit dessen Bearbeitung rechte und esoterische Scharlatane befasst sind. Die gegenwärtigen Ausdrucksweisen des »großen Unbehagens« aufzunehmen und ihre gesellschaftliche Verursachung kenntlich zu machen, wäre Aufgabe der heutigen Linken.

    Linker Fortschrittsglaube

    Warum tut sich die Linke mit der Aneignung der angedeuteten Leidenserfahrungen so schwer? Weil sie kein Sensorium für die Leiden der Menschen unter dem besitzt, was man euphemistisch »Fortschritt« nennt und was doch in Wahrheit nichts anderes ist als der fortdauernde Schrecken der kapitalistischen Industrialisierung. Der real gewordene Sozialismus des vergangenen Jahrhunderts und der Kapitalismus wachsen auf demselben Grund. Sie basieren auf dem gleichen Typus instrumenteller Rationalität und weisen das gleiche Raubbauverhältnis zur inneren und äußeren Natur auf. Die Natur ist ihnen Konterpart und bloßes Material.

    Eine der Urszenen der linken Fortschrittsgläubigkeit ist uns durch Wilhelm Liebknecht überliefert. Auf dem Sommerfest des Londoner Kommunistischen Arbeiterbildungsvereins begegnet er 1850 der Familie Marx. Über sein Gespräch mit Marx berichtet er: »Bald waren wir auf dem Gebiet der Naturwissenschaft, und Marx spottete der siegreichen Reaktion in Europa, welche sich einbildete, die Revolution erstickt zu haben und die nicht ahne, dass die Naturwissenschaft eine neue Revolution vorbereite. Der König Dampf, der im vorigen Jahrhundert die Welt umgewälzt, habe ausregiert, an seine Stelle werde ein noch ungleich größerer Revolutionär treten: der elektrische Funke. Und nun erzählte mir Marx, ganz Feuer und Flamme, dass seit einigen Tagen in Regent’s Street das Modell einer elektrischen Maschine ausgestellt sei, die einen Eisenbahntrain ziehe. ›Jetzt ist das Problem gelöst – die Folgen sind unabsehbar. Der ökonomischen Revolution muss mit Notwendigkeit die politische folgen, denn sie ist nur deren Ausdruck.‹ In der Art, wie Marx diesen Fortschritt der Wissenschaft und der Mechanik besprach, trat seine Weltanschauung und namentlich das, was man später als die materialistische Geschichtsauffassung bezeichnet hat, so klar zutage, dass gewisse Zweifel, die ich bisher noch gehegt hatte, wegschmolzen wie Schnee in der Frühlingssonne.«

    In dieser simplifizierten und kruden Form ist der historische Materialismus während der Zweiten Internationale unters Volk und in die Arbeiterbewegung gekommen. Die Geschichte und der technische Fortschritt werden uns wie auf einer Rolltreppe nach oben in eine lichte Zukunft tragen. Der Sozialismus schrumpfte darauf zusammen, die Produktivkräfte von ihren bürgerlichen Fesseln zu befreien und der ökonomischen Vernunft vollends zum Durchbruch zu verhelfen. Aber am Ende blieb von Lenins Formel, Kommunismus sei »Sowjetmacht plus Elektrifizierung«, nur die Elektrifizierung.

    Wenn wir uns in den Stand setzen wollen, das Leiden der Menschen am kapitalistischen Fortschritt aufzugreifen und dies nicht den Rechten zu überlassen, müssen wir die Bindung des Sozialismus an das Leistungsprinzip und seine Werte kritisch hinterfragen und den Fetischismus der Produktion und der Technik überwinden. Das niedergedrückte und an der Entfaltung gehinderte Leben bildet Schattenräume, in denen Träume, Wünsche und Sehnsüchte entstehen, die die Linke nicht einfach als irrational abtun und ignorieren darf. Es sind Wünsche nach Glück, Solidarität, Würde, menschlichen Zeitmaßen und Stille; Träume von Heimat, aufgehobener Entfremdung und einem Leben ohne stupide Plackerei und versklavenden Konsum.

  • · Hintergrund

    Wohlfeile Preise, schwere Artillerie

    Darüber, dass der Freihandel ohne Krieg nicht zu haben ist
    Norman Paech
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    Der weltweite Warenhandel, der den Reichtum der einen und das Elend der andern hervorbringt, musste noch stets, damit sich daran nichts ändert, militärisch abgesichert werden (Fregatten der britischen, dänischen und norwegischen Marine sowie ein dänisches und ein norwegisches Containerschiff auf dem Mittelmeer im Februar 2014)

    Beim folgenden Beitrag handelt es sich um das leicht gekürzte Manuskript eines Vortrags, den Norman Paech am 1. September bei ver.di in Hamburg gehalten hat. (jW)

    Wer am Antikriegstag zu einem Vortrag über den Freihandel einlädt, könnte in Verdacht geraten, den freien Handel als den Schlüssel zum Frieden, als die Hauptwaffe gegen den Krieg ins Feld führen zu wollen. Und in der Tat, der freie Handel ist nicht nur seit Adam Smith (1723–1790) die Leitidee der kapitalistischen Weltwirtschaft, sondern der Fixstern unseres vielbeschworenen Wertekanons geworden. Er stützt sich auf eine Botschaft, deren Überzeugungskraft bis heute nicht verblasst ist, obwohl ihr ideologischer Charakter seit langem erkannt ist: Er sei das beste Instrument zur Förderung der Ökonomie und des Wohlstandes der am internationalen Handel beteiligten Staaten, und zwar auch der schwachen. Das ist grundfalsch, denn der Freihandel fördert vor allem die starken Ökonomien. Staaten halten immer dann das Banner des Freihandels hoch, wenn ihre Produktion einen Stand erreicht hat, der die internationale Konkurrenz nicht mehr zu scheuen braucht.

    Zugunsten des Stärkeren

    Erlaubt mir einige historische Anmerkungen. England z. B. hat erst, nachdem die Überlegenheit seiner Industrie feststand, versucht, die Lehre des Freihandels in den internationalen Beziehungen durchzusetzen. Erst 1860 fielen die Zölle für den letzten Rohstoff, für Seide. Von Ulysses S. Grant, US-Präsident von 1869 bis 1877, ist die Feststellung überliefert: »Für Jahrhunderte hat England auf Protektion gebaut, hat sie bis ins Extrem getrieben und befriedigende Ergebnisse damit erzielt. Es gibt keinen Zweifel, dass diesem System seine gegenwärtige Stärke zu danken ist. Nach zwei Jahrhunderten hat es England für günstig befunden, den Freihandel einzuführen, weil es meint, dass die Protektion nicht länger etwas zu bieten hat. Also gut, meine Herren, die Kenntnis meines Landes führt mich zu der Auffassung, dass Amerika innerhalb zweier Jahrhunderte, wenn es soviel wie möglich aus der Protektion herausgeholt hat, auch den Freihandel einführen wird.« So lange sollte es für die USA dann doch nicht dauern.

    Das Prinzip des Freihandels hat ebenso wie das der internationalen Arbeitsteilung – basierend auf der berühmten Theorie David Ricardos (1772–1823) von den komparativen (Kosten-)Vorteilen¹ – vor allem den stärkeren Ökonomien gedient. Bereits das erste Beispiel, welches von den englischen Ökonomen als Beweis ihrer Theorie herangezogen wurde – die Handelsverträge zwischen England und Portugal im 17. Jahrhundert –, war bei genauerer Analyse zu kritisieren. Diese Art der Arbeitsteilung war für beide Partner eben nicht gleichermaßen vorteilhaft. Der Ökonom Sandro Sideri kommt zu dem Ergebnis, dass in Wirklichkeit dieser Typ des Austausches die Unterwerfung der portugiesischen unter die englische Ökonomie bewirkt habe: »Die anglo-portugiesischen Handelsverträge von 1642, 1654, 1661 und schließlich 1703 (Methuenvertrag, benannt nach dem englischen Diplomaten John Methuen) etablierten und kodifizierten eine internationale Arbeitsteilung zwischen den beiden Ländern, die dem Gesetz vom komparativen Vorteil, das später von Ricardo aufgestellt wurde, weitgehend entsprach. Die negativen Auswirkungen dieser Art internationaler Arbeitsteilung auf Portugals Wirtschaft widerlegten jedoch Smiths Einschätzung, dass der Methuenvertrag ›offensichtlich vorteilhaft für Portugal‹ war, und dementierten Ricardos These, dass Außenhandel, der auf dem Gesetz vom komparativen Vorteil beruhe, für alle Handelspartner positiv sei (…) Eine solch ungünstige Wirkung auf die portugiesische Wirtschaft war hauptsächlich das Ergebnis des ›Typus‹ internationaler Arbeitsteilung (›verarbeitete‹ gegen Primärgüter bzw. ›unverarbeitete‹ Güter gegen Fertigwaren), der Portugal, das am Ende des 17. Jahrhunderts Wein und Kleider herstellte, aufgezwungen wurde, weil das Land politisch und militärisch schwach war und zudem noch kolonialistische Ambitionen hatte. Das anglo-portugiesische Verhältnis, das sich aus dieser wirtschaftlichen Sachlage ergab, war eine Abhängigkeit Portugals von England«² Die Effekte, die dem Freihandel und der internationalen Arbeitsteilung von Smith und Ricardo bis zu den Neoklassikern unterstellt werden, lassen sich vornehmlich für Nationalökonomien vergleichbarer Stärke und Produktivität erzielen, wo die Beherrschungsmöglichkeiten auf ein Minimum reduziert sind.

    Ökonomisches Niederringen

    In den Industriestaaten ließen die großen Kriege dem Freihandel so gut wie keinen Raum mehr. Dem Völkerbund war es mit seiner ersten Wirtschaftskonferenz 1927 »Zur Bekämpfung des übersteigerten wirtschaftlichen Nationalismus« kaum gelungen, die Liberalisierung gegen den Kriegsprotektionismus bei den Staaten durchzusetzen, die ihre kriegsgeschwächten Volkswirtschaften wieder aufbauen wollten. Schon 1929 sorgte die beginnende Weltwirtschaftskrise für die erneute Konjunktur des Protektionismus, der sich bis in die Jahre des Zweiten Weltkrieges weiter verschärfte.

    Allerdings wurde noch während des Krieges insbesondere in den USA der Ruf nach dem Freihandel wieder laut. Die Atlantik-Charta, von den Staaten der Antihitlerkoalition im Jahre 1941 unterzeichnet, formulierte dabei auch für die schwachen Staaten durchaus verheißungsvoll als Grundsatz »allen Staaten, ob klein oder groß, ob Sieger oder Besiegte, unter gleichen Bedingungen den Zutritt zum Handel und zu den Rohstoffen der Welt zu gewähren, die für ihren wirtschaftlichen Wohlstand erforderlich sind«.

    Die Verheißung verkehrte sich in dem Maße in eine Bedrohung, wie die USA die Organisation des Prinzips in ihre Hände nahmen. Sie waren als weltweit uneingeschränkt führende Wirtschaftsmacht aus dem Krieg herausgekommen. Ihre auf hohen Touren produzierende Industrie brauchte danach Absatzmärkte, die sich nicht vor ihrem Export abschirmten. Und so traten die USA auf der ersten, 1946 vom Wirtschafts- und Sozialrat der UNO (Ecosoc) einberufenen Konferenz über Handel und Beschäftigung – zunächst in London und Genf, anschließend in Havanna – als die stärksten Interessenten am Freihandel und der Meistbegünstigung auf. Letztere, in den internationalen Wirtschaftsbeziehungen inzwischen zum Standard gewordene Vertragsklausel, besagt etwa für die Mitglieder der 1994 gegründeten Welthandelsorganisation (WTO), dass die Vertragspartner jene Rechte, die sie dritten Staaten gewährt haben oder noch gewähren werden, auch den anderen Teilnehmerländern einräumen. Die Klausel ist ein Diskriminierungsverbot, zugleich aber auch ein juristisches Instrument, um alle bilateral ausgehandelten Vorteile automatisch zu verallgemeinern und im Effekt die Märkte derjenigen Länder zu öffnen, die sich ihr unterwerfen. Eine erste Untersuchung der »Kommission für Internationales Recht« im Jahre 1969 ergab, dass die zahlreichen Verträge mit Meistbegünstigungsklausel wie Hebel für die prosperierenden Staaten wirken, die nahen und fernen Märkte zu öffnen und zu erobern.³

    Die Staaten Afrikas, Asiens und Lateinamerikas forderten Übergangsfristen und Sonderregelungen zum Schutz ihrer schwachen Volkswirtschaften, und auch die durch den Krieg stark in Mitleidenschaft gezogenen Staaten Europas hielten Fragen des Wiederaufbaus und der Beschäftigung für dringender. Dementsprechend enthielt das Vertragswerk der UN-Konferenz, die am 24. März 1948 unterzeichnete sogenannte Havanna-Charta, Kapitel zu den Bereichen Entwicklung und Wiederaufbau, Vollbeschäftigung, Rohstoffabkommen, Missbrauch durch Kartelle wie auch Freihandel und Meistbegünstigung. Ferner sah die Charta die Gründung einer Spezialorganisation, der »International Trade Organization« (ITO) vor.

    Vor der Unterzeichnung war es den USA allerdings schon gelungen, die Ergebnisse der separat geführten Zollverhandlungen mit den geplanten Freihandelsvorschriften zusammenzufassen und gleichsam als Übergangsregelung bis zum Inkrafttreten der Charta unter der Bezeichnung »General Agreement on Tariffs and Trade« (GATT) vorläufig am 1. Januar 1948 wirksam werden zu lassen. Gleichzeitig hatten die USA den Wiederaufbau Westeuropas mit der Verkündung des Marshallplans am 5. Juni 1947 in die eigenen Hände genommen, der ihnen einen aufnahmefähigen Markt garantierte. Damit war das amerikanische Interesse an den übrigen Regelungen der Havanna-Charta erschöpft. Die US-Regierung verweigerte die Ratifizierung, und mangels Bereitschaft auch anderer Staaten trat die Charta mit der Satzung der ITO niemals in Kraft. Es blieb bei dem GATT, das vier Fünftel des Welthandels mit seinen Regeln erfasst und das wirtschaftspolitische Freihandelscredo der stärksten kapitalistischen Industriestaaten widerspiegelt. Artikel 1 des Agreements sieht die Ausdehnung des internationalen Handels und die volle Ausschöpfung der weltweiten Ressourcen vor. Es stellt den Staaten dafür einen relativ flexiblen Rahmen zwischen Freihandel und Protektionismus zur Verfügung. Die meisten Entwicklungsländer konnten allerdings an diesem System nie mit Gewinn teilnehmen. Ihr Anteil am Welthandel – 1950 noch circa 31 Prozent – sank ständig (1960: 21 Prozent, 1987: 16 Prozent) und bewegte sich um die Jahrtausendwende bei etwa zehn Prozent. Demgegenüber konzentriert sich der Welthandel auf die Industriestaaten, die Mitglied in der OECD sind, sowie einige Schwellenländer, die seit den siebziger Jahren zu neuen Industriestaaten aufgestiegen sind. Die Exporte aus Afrika betragen jetzt nur noch zwei Prozent der Weltexporte und werden zur Hälfte von drei Ländern getätigt: Südafrika, Algerien und Nigeria. Der Anteil am Welthandel ist auf 3,1 Prozent gesunken.

    Sicherung der Vormachtstellung

    Dieses so segensreiche System für die hochentwickelten Industriestaaten soll nun weiter optimiert und weltweit – China und Russland ausgenommen – als neoliberales Ordnungsmodell durchgesetzt werden. »Neoliberal« heißt hier Marktförderung, Privatisierung, Deregulierung, Eigentumsschutz und Entdemokratisierung. Es geht bei dem Freihandelsabkommen TTIP gar nicht so sehr um Abbau von Zöllen, die zwischen den USA und der EU bei etwa fünf Prozent liegen und damit ohnehin sehr niedrig sind. Und auch das prognostizierte Wirtschaftswachstum und die angebliche Zahl neuzuschaffender Arbeitsplätze sind inzwischen auf Größen geschrumpft, die niemanden mehr begeistern können. Chlorhühnchen, Genfood und klappbare Autorückspiegel dienen eher der Ablenkung von dem zentralen Ziel dieses Abkommens: die atlantische Dominanz trotz der drohenden Machtverschiebungen in der Welt zu sichern.

    Der SPD-Vorsitzende und Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel hat es in der FAZ am 23. Februar 2015 ganz einfach so ausgedrückt: »Wir reden zuviel über Chlorhühner und zuwenig über die geopolitische Bedeutung.« Also reden wir über die geopolitischen Ziele von TTIP, mit denen eine klare Konfrontationsstrategie und eine erneute Blockbildung angezeigt ist. Das klingt in den Worten des niederländischen »Clingendael Institute« noch relativ zurückhaltend: »Der wichtigste Grund (…) TTIP anzustreben, ist geopolitischer Natur. Der Aufstieg Chinas (und anderer asiatischer Länder), kombiniert mit dem relativen Abstieg der USA und der wirtschaftlichen Malaise der Euro-Zone, sind ein Ansporn für den transatlantischen Westen, seine gemeinsame ökonomische und politische Macht zu nutzen, um neue globale Handelsregeln zu schreiben, die seine ökonomischen Prinzipien (regelbasierte Marktwirtschaft) und politischen Werte (liberale Demokratie) reflektieren. TTIP ist ein zentraler Bestandteil in dieser Strategie.«⁴

    Deutlicher war da der ehemalige stellvertretende US-Finanzminister Stuart Eizenstat, der schon zwei Jahre zuvor geschrieben hatte: »Es gibt im wesentlichen zwei konkurrierende Steuerungsmodelle in der postkommunistischen Welt. Eines ist das transatlantische Modell, basierend auf freien Völkern, freien Märkten und freiem Handel; das andere sind autokratisch, staatlich kontrollierte oder dominierte Volkswirtschaften und regulierter Handel. TTIP ist eine Gelegenheit zu zeigen, dass unser Modell (…) das beste ist, um die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu meistern.«

    In solcher Sprache hallt der Sound des Kalten Krieges wider, das Gemeinte geht aber weit darüber hinaus, wie ein Blick auf das »Trans-Pacific Partnership«-Abkommen (TPP) zeigt. TPP gilt als amerikanisch-asiatisches Gegenstück zum transatlantischen Freihandelsabkommen TTIP und ist bereits im Prozess der Ratifikation. Es dient vor allem der Sicherung der Vormachtstellung der USA im Pazifik. Sein Scheitern schmälerte den Einfluss der Vereinigten Staaten in Asien, wie der Asienexperte Robert Manning vom US-Thinktank »Atlantic Council« offen einräumt. Das hat auch US-Verteidigungsminister Ashton Carter erkannt und 2015 deutlich formuliert: Die »Verabschiedung von TPP ist genausowichtig wie einige weitere Flugzeugträger (…) Und es würde uns helfen, eine Weltordnung zu stärken, die sowohl unsere Interessen als auch unsere Wertesystem widerspiegelt.«

    In dem Abkommen sind zwar Japan, Malaysia, Singapur und Vietnam vertreten, nicht aber die VR China: Das macht es zu einem Mittel des ökonomischen Krieges. TPP schüfe eine Freihandelszone, die 40 Prozent des jährlich weltweit geschöpften BIP umfasst und China außen vor lässt.

    Russland wiederum ist von Anfang an von TTIP ausgeschlossen, was zur Konfrontationsstrategie von EU und NATO passt. Die Begründung fällt einem Politiker wie dem ehemaligen NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen nicht schwer: »Russland hat die Regeln gebrochen. Es hat die internationale Ordnung unterminiert, die die Grundlage unseres Friedens und Wohlstand ist. (…) Um diese Ordnung zu erhalten, müssen wir weiterhin zusammenstehen. Das heißt, wir müssen unsere wirtschaftlichen Bande verstärken. Und hier ist das transatlantische Handels- und Investitionsabkommen eine Schlüsselfrage.«

    Er denkt dabei bestimmt nicht nur an die erweiterten Möglichkeiten und Optionen des Rüstungsmarktes. Die Tatsache, dass sich hochrangige Militärpolitiker an der Freihandelsdebatte beteiligen, dokumentiert die militärstrategische Bedeutung derartiger Abkommen. Geopolitik hatte historisch schon immer mit dem Zugriff auf fremde Ressourcen und Territorien zu tun, wenn nötig auch mit militärischen Mitteln. Repräsentaten der Wissenschaft sekundieren. Der schon zitierte Peter van Ham vom »Clingendael Institute« übertreibt in seiner Euphorie vielleicht etwas, zeigt mit seiner Hoffnung auf die Kraft von TTIP jedoch, dass Befürchtungen wegen der Kriegsdynamik dieses Freihandelsprojektes keineswegs ohne Grundlage sind: »TTIP kann die NATO erneuern«, schreibt er. »Es bedarf einer neuen Hierarchie, die deutlich macht, welche Länder wirklich wichtig sind und wirklich die Werte und Interessen des atlantischen Westens teilen. TTIP bietet der NATO eine klare Richtlinie an, um diese Entscheidung zu treffen. Bei TTIP geht es nicht nur um Freihandel, es führt Länder und Gesellschaften zusammen, die gegenseitiges Vertrauen in ihre jeweiligen Institutionen haben und die willens sind, ihren Lebensstil gegen konkurrierende Mächte zu verteidigen. Als (Hillary) Clinton sich auf eine ›Wirtschafts-NATO‹ bezog, hat sie nicht übertrieben. Ohne die wirtschaftliche Einheitlichkeit ist auch strategische Einigkeit unmöglich.«

    »Vitale Sicherheitsinteressen«

    Wir haben vielleicht schon vergessen, dass der Auslöser des Ukraine-Konfliktes, der in einen Krieg ausartete, die Zurückweisung eines Assoziierungsabkommens mit der EU durch den damaligen Präsidenten Wiktor Janukowitsch war. Diese Vereinbarung hatte ordnungspolitisch die gleiche Struktur und Perspektive wie das Freihandelsabkommen, sein Kern war die Freiheit des Marktes und des Handels. Es hätte die Ukraine nicht nur an die »Werte und Interessen des Westens« gebunden, sondern auch aus der Bindung an Russland gelöst und die alten wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland gekappt. Wer einmal in diesem Geflecht gefangen ist, dem wird es wie Griechenland ergehen, wenn er die Normen und Gebote des Vertrages nicht einhalten kann. Das Diktat der stärksten Staaten ist in diese Art Freiheitsverträge eingewoben. Niemandem in der EU oder NATO darf man ernsthaft abnehmen, dass die Warnungen Moskaus vor solch einem Schritt nicht gehört oder als nicht ernstgemeint eingeschätzt worden sind. Dies war ein bewusst provokatives Spiel mit dem Feuer, das den Krieg mit einkalkulieren musste. Denn schon einige Jahre zuvor hatten USA und NATO mit ihren Geldern, Geheimdiensten und Stiftungen den Sturz und die Auswechslung der Regierung mit der »orangen Revolution« vorbereitet.

    Wie eng Krieg und Ökonomie miteinander verknüpft sind, machen die »Weißbücher« der Bundeswehr deutlich. Das letzte Exemplar ist gerade am 13. Juli nach zehnjähriger Pause erschienen. Bereits 1991 hatte der damalige Generalinspekteur der Bundeswehr, General Klaus Naumann, ein Papier mit dem Titel »Militärpolitische und militärstrategische Grundlagen und konzeptionelle Grundrichtung der Neugestaltung der Bundeswehr« vorgelegt. Darin hat er das deutsche »Sicherheitsinteresse« mit der »Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des Zugangs zu strategischen Rohstoffen« umschrieben. Seitdem ist diese Definition des deutschen »Sicherheitsinteresses« Standard in allen regierungsoffiziellen Äußerungen. So wird als »vitales Sicherheitsinteresse« in Punkt 8 der »Verteidigungspolitischen Richtlinien« vom November 1992 formuliert: »Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt im Rahmen einer gerechten Weltwirtschaftsordnung«. Was gerecht ist, bestimmt die Bundesregierung.

    Auch in den letzten beiden Weißbüchern »zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr« der Bundesregierung von 2006 und 2016 fehlt nicht der Verweis auf die Abhängigkeit Deutschlands von internationalen Handelsrouten, Energieressourcen und Rohstoffen, ohne dass dabei die Aufgaben der Bundeswehr zur Sicherung dieser Interessen genau beschrieben werden.

    Wenn also Rohstoffsicherung und die Freihaltung der Handelswege zu den Aufgaben der Bundeswehr gehören, stellt sich natürlich die Frage, was ein Freihandelsabkommen wie TTIP an dieser Konstellation ändert und womöglich verschärft? Handel für sich ist schon definitorisch nicht kriegsträchtig. Vor dem Hintergrund einer anschwellenden Debatte über gestiegene Verantwortung in der Weltordnung, dem immer stärker werdenden Ruf nach deutscher Führung und der Forderung nach einem unkomplizierteren Umgang mit Interventionen, kommt es jedoch darauf an, wie der Rahmen gestaltet wird, innerhalb dessen sich der Handel bewegen kann. Mit TTIP, TTP und dem kanadisch-europäischen Abkommen CETA wird das bereits bestehende multilaterale Handelssystem der WTO, der derzeit 162 Staaten angehören, parzelliert und in Machtblöcke aufgelöst, in denen auf jeden Fall die Dominanz der stärksten Ökonomien und ihrer transnationalen Konzerne gesichert wird. Sie zielen auf die Staaten, die bewusst von den Abkommen ausgeschlossen wurden und die sich in der Gruppe der BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) zusammengeschlossen haben, um ein Gegengewicht zu bilden. In dieser Konfrontation geht es nicht mehr nur um Handel und Güteraustausch, sondern um die Ausrichtung des gesamten internationalen Systems nach den neoliberalen Vorstellungen des Westens. Die Zeiten sind jedoch vorbei, in denen ein Projekt wie das einer »Neuen Internationalen Wirtschaftsordnung« – gegen den Einspruch der ehemaligen Kolonialmächte formuliert von der Gruppe der nichtpaktgebundenen Länder in der UN-Generalversammlung 1974 – in der Folgezeit mit dem GATT einfach unterlaufen werden konnte. Der Widerstand gegen den Monopolanspruch über die Weltordnung ist stärker geworden. TTIP fügt der derzeitigen politischen und militärischen Konfrontation ein weiteres destabilisierendes und gefährliches Element hinzu. Was die »Economic Partnership Agreements« (EPA) mit ihrer Freihandelszone zwischen der Europäischen Union und der afrikanischen, karibischen und pazifischen Staatengruppe (ACP) nachweislich nicht erreicht haben, die tiefe Kluft zwischen den armen und den reichen Staaten zu schließen, wird mit TTIP auch nicht realisiert werden. Jüngste Studien gehen sogar davon aus, dass diese Kluft sich noch vertiefen wird. Dem Sicherheitsinteresse der Staaten wäre am meisten gedient, wenn diese Abkommen nicht in Kraft treten könnten.

    Anmerkungen

    1 Mit seinem berühmten »Zwei Länder (England/Portugal) – Zwei Güter (Tuch/Wein)«-Modell versuchte Ricardo in seinem 1817 erschienenen »Principles of Political Economy and Taxation« nachzuweisen, dass der freie Handel zwischen den Ländern für beide vergleichsweise vorteilhaft sei, wenn jedes sich auf den Export der Güter spezialisiere, bei denen jeweils die Produktivität am höchsten und deren Abstand gegenüber dem anderen Land am größten ist.

    2 Sandro Sideri: Trade and Power, Informal Colonialism in Anglo-Portuguese Relations, Rotterdam 1970

    3 Endre Ustor: Dévelopment progressiv du Droit International: un nouveau Programe de l’ONU, 1967, S. 163 ff.

    4 Peter Van Ham: The Geopolitics of TTIP. In: Clingendael Policy Brief, No. 23, Oct. 2103, zit. nach Tim Schumacher: Geopolitischer Sprengstoff: Die militärisch-machtpolitischen Hintergründe des TTIP. IMI-Studie Nr. 5/2014