Nicht nur historisch
Von Bernard Schmid, Paris
Anders als in Deutschland – mit der einmaligen Ausnahme von Berlin in diesem Jahr – ist der 8. Mai in Frankreich ein gesetzlicher Feiertag. Feiernd gedacht wird der Niederlage Nazideutschlands und der faschistischen Achsenmächte sowie des Endes des Zweiten Weltkriegs in Westeuropa am 8. Mai 1945. Denn um 2.41 Uhr an jenem Tag unterzeichnete in Reims der Wehrmachtsgeneral Alfred Jodl die Kapitulation – dagegen fand das Kriegsende an der »Ostfront« am 9. Mai und im Pazifikraum gar erst am 2. September 1945 statt. Und deswegen gibt es zwischen Ärmelkanal und Pyrenäen diesen Feiertag seit … Ja, seit wann überhaupt? Die Antwort auf die letztgenannte Frage fällt gar nicht so leicht, denn der Umgang mit dem historischen Datum war in Frankreich sehr wechselhaft.
Erstmals wurde der 8. Mai im Jahr 1953 sowohl zum Gedenk- als auch zum arbeitsfreien Tag erklärt und auf Ersuchen der Verbände von ehemaligen Widerstandskämpfern der Résistance und Deportierten ein entsprechendes Gesetz verabschiedet. Doch schon 1959 ließ der im Vorjahr zum Staatspräsidenten aufgestiegene Charles de Gaulle als Begründer der »Fünften Republik« die Gedenkfeier wieder absagen. Zwar wurden Feiern zum Jahrestag des Kriegsendes beibehalten, aber auf den jeweils zweiten Sonntag im Mai verlegt – also buchstäblich in den Bereich der Sonntagsreden verbannt.
Als offizielle Begründung diente die sich bereits anbahnende »deutsch-französische Aussöhnung«, auch wenn der Élyséevertrag zwischen de Gaulle und Bundeskanzler Konrad Adenauer erst im Januar 1963 unterzeichnet werden sollte. Unter dem Etikett der Völkerverständigung und des Abbaus von nationalistischen »Erbfeind«-Vorstellungen – also an sich positiver Beweggründe – wurden zu jener Zeit auch deutlich negative Anliegen in konkreten zwischenstaatlichen Verhandlungen diskutiert. Dazu zählten die intensiven Bemühungen der westdeutschen politischen Führung in Bonn, die letzten in Frankreich inhaftierten Naziverbrecher freizubekommen. Hinter den Kulissen wurde etwa seit den fünfziger Jahren intensiv über eine Haftreduzierung oder Begnadigung für die SS-Führer Carl Oberg und Helmut Knochen verhandelt, zwei Nazitäter obersten Ranges. Dann folgte der Kompromiss zwischen beiden Staatsführungen, und de Gaulle ordnete im November 1962 ihre Freilassung an. Auch dies war ein Teilaspekt deutsch-französischer Beziehungen, der die staatsoffizielle Annäherung begünstigte.
Im Frühjahr 1968 wurde das Gedenken auf den 8. Mai zurückverlegt, ohne aber dessen arbeitsfreien Charakter wiederherzustellen. Gänzlich abgeschafft wurde der offizielle Gedenktag dann im Jahr 1975 unter dem wirtschaftsliberalen Präsidenten Valéry Giscard d’Estaing: Er sei unmodern, stehe der europäischen Einigung und ihrem deutsch-französischen »Motor« im Weg, er sei unproduktiv und überflüssig. Infolge des Wahlsiegs der sozialistischen und kommunistischen Linksparteien und des Amtsantritts von Staatspräsident François Mitterrand im Mai 1981 wurden Feier- wie Gedenktag ab dem darauffolgenden Jahr wiedereingeführt. Dabei ist es bis jetzt geblieben.
Zwar juckt es auch heute Kapitalkreisen und ihren politischen Zuarbeitern in den Fingern, sich eines in ihren Augen unnötig arbeitsfreien Tages zu entledigen. Doch ist derzeit nicht konkret vom 8. Mai die Rede, vielmehr stand zuletzt der 11. November als Gedenktag an den Waffenstillstand von Compiègne von 1918 zur Debatte. Im Januar 2025 versicherte Arbeitsministerin Astrid Panosyan-Bouvet allerdings, die unpopuläre Idee der Feiertagsstreichung sei vom Tisch. An den 8. Mai trauen sich die regierenden Wirtschaftsliberalen derzeit wohl auch deswegen nicht heran, weil es in den Zeiten starken Auftriebs für die extreme Rechte im nationalen wie im internationalen Rahmen einen besonderen Symbolwert hätte, gerade diesen Gedenktag abzuschaffen.
Eine zusätzliche Verbindung zu den zeitgenössischen Erscheinungsformen von Faschismus erhielt das Datum in Paris in den vergangenen Jahrzehnten. So hatten am Vorabend des 8. Mai 1994 in der französischen Hauptstadt gewaltbereite Neofaschisten eine illegale Demonstration organisiert, um wenige Wochen vor dem 50. Jahrestag des »D-Day«, der Landung der Westalliierten in der Normandie, die in ihren Augen US-amerikanische und alliierte Aggression gegen ein »unschuldiges« (von den Nazis beherrschtes) Europa anzuprangern. Mit dem jungen Neofaschisten Sébastien Deyzieu, der an diesem Tag auf der Flucht vor der Polizei von einem Hausdach in Paris stürzte und verstarb, verfügte die Szene seitdem über einen neuen »Märtyrer«.
Alljährlich demonstriert seitdem an einem Wochenende im zeitlichen Umfeld des 8. Mai die stiefelfaschistische Szene durch Paris. In den ersten Jahren gehörte ihrem Organisationsausschuss auch die Jugendorganisation des damaligen Front National (FN) an. Doch dessen Nachfolgepartei Rassemblement National (RN) hält heute offiziell Abstand zu diesem Milieu. Im Vorjahr wurde die Nazidemonstration zunächst polizeilich untersagt, das Verbot dann aber gerichtlich gekippt. Daraufhin zogen bis zu 1.000 mehrheitlich männliche und teilweise vermummte Demonstranten durch den fünften Pariser Bezirk. Das Medienecho und der entsprechende Skandal waren gewaltig. In diesem Jahr sind wiederum ein faschistischer Aufmarsch und eine Gegendemonstration sowie ein »antifaschistisches Ausstellungsdorf« unweit der Universität Sorbonne geplant.
Obwohl das dabei mobilisierte faschistische Spektrum ohne Unterstützung des derzeit parlamentarisch orientierten RN zahlenmäßig eher klein bleibt, sorgt diese aktuelle Politisierung des Datums für eine Verschiebung in der Wahrnehmung. Denn das frühere Gedenken an den 8. Mai war rein historisierend. Es reduzierte den Faschismus in Frankreich auf die deutsche Besatzung, während die französische Gesellschaft weitestgehend, von ein paar kollaborierenden Landesverrätern abgesehen, als deren Opfer erschien. Dabei existierte im Frankreich der 1930er und 1940er Jahren eine antisemitische Massenbewegung, die allerdings nicht aus eigener Kraft, sondern nur dank der militärischen Niederlage der Französischen Republik gegen die Achsenmächte im Juni 1940 an die Macht kam.
Die vom Gaullismus tradierte Form des Gedenkens an die Zeit des Naziterrors in Frankreich erlaubte es auch, den Mantel des Schweigens über das Treiben zahlreicher französischer Faschisten zu breiten, deren Mitarbeit nach der Befreiung von 1944 als notwendig erachtet wurde. Beispielsweise war ein Protagonist der Judenvernichtung wie Maurice Papon, Organisator von Deportationen aus Bordeaux in den Jahren 1942 bis 1944, unter de Gaulle zunächst Präfekt von Constantine im kolonisierten Algerien, wo er sich 1955 bei der brutalen Aufstandsbekämpfung hervortat, und später Polizeipräfekt in Paris. Unter Papon kam es in der französischen Hauptstadt am 17. Oktober 1961 zum Massaker an rund 300 algerischen Demonstranten. Erheblich eingegrenzt wurde der Einfluss solcher Exponenten im Staatsapparat allerdings ab 1962, nachdem die extrem rechte Terrororganisation OAS de Gaulle aufgrund des von ihm angeordneten Rückzugs aus Algeriens zu ermorden versucht hatte.
Nicht zuletzt sei daran erinnert, dass der 8. Mai 1945 in Frankreich auch für das Massaker an Tausenden Algeriern in den Städten Sétif, Guelma, Kherrata und Melbou steht. Dort hatten aus dem Weltkrieg heimkehrende algerische Soldaten der französischen Armee für die Unabhängigkeit auch des eigenen Landes protestiert und damit die brutale Gegenreaktion der Kolonialmacht hervorgerufen. Diesen anderen 8. Mai anzusprechen war in Frankreich in breiten Kreisen noch bis vor kurzem ein absolutes Tabu.
Bernard Schmid lebt in Paris und arbeitet als Anwalt wie als freier Journalist.
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