Birke im Mai
Von Hartmut KönigNeunter Mai. Gestern wurde ich hundertundeins.
Die Lieder sind alle gespielt.
Ging noch einmal am Ufer der Wolga entlang.
Auf Patronenhülsen wie Muscheln und Tang.
Habe wieder den Krieg gefühlt.
Weiter oben die Birke steht immer noch fest.
Und das Wort, das ich einschnitt, wurd groß.
Ich war siebzehn. Ein Junge. Im Graben ein Mann,
dreiundvierzig beim Sieg am Mamajew Kurgan.
Und so zogen wir westwärts los.
Birke im Mai. Der blutige Schnee
ist getaut. Die Erde liegt still.
Ich weiß, was geschah. Die Erinnerung schreit.
Und Trauer zieht ihre Spur durch die Zeit,
weil sie niemals mehr heilen will.
Sah die Hungerskelette in Leningrad.
Partisanen erstochen im Korn.
Die verscharrten Juden in Babyn Jar.
In Auschwitz Gebirge von menschlichem Haar.
Und die Mörder drei Schusslängen vorn.
In Berlin Untern Linden stand noch das Tor.
Und dahinter war Maigrün zu sehn.
Da traf mich die letzte Kugel des Kriegs.
Ich sah nicht mehr die Fahne des Siegs
auf den Dächern vom Reichstag wehn.
Birke im Mai. Der blutige Schnee
ist getaut. Die Erde liegt still.
Ich weiß, was geschah. Die Erinnerung schreit.
Und Trauer zieht ihre Spur durch die Zeit,
weil sie niemals mehr heilen will.
Neunter Mai. Gestern wurde ich hundertundeins.
Die Lieder sind alle gespielt.
Ging noch einmal am Ufer der Wolga entlang.
Auf Patronenhülsen wie Muscheln und Tang.
Habe wieder den Krieg gefühlt.
Weiter oben die Birke steht immer noch fest.
Das Wort, das ich einschnitt, heißt MIR.
Dass Frieden nun einkehrt für alle Zeit.
In jedem Haus und weltenweit.
Ihr Lebenden, kämpft dafür!
Text und Musik: Hartmut König (2025)
links & bündig gegen rechte Bünde
Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.