Gründliche Vorarbeit
Von Stefano G. Azzarà, UrbinoAm Ende des 20. Jahrhunderts konnte der Liberalismus die Konsequenzen aus dem Ausgang des Kalten Krieges und dem überwältigenden Sieg der herrschenden Klassen ziehen und drängte alles zurück, was die unterdrückten Klassen in anderthalb Jahrhunderten des Kampfes errungen hatten: die Umverteilung von Reichtum und Macht und vor allem die Anerkennung ihrer menschlichen und sozialen Würde. Im Umkehrschluss: die Anhäufung von Reichtum bei wenigen, eine neobonapartistische Konzentration der Macht, Neutralisierung der politischen Beteiligung und Ausschaltung eines kritischen Bewusstseins und Emanzipationsstrebens bei der Klasse der Lohnabhängigen, eine engmaschige Kontrolle der Produktionsmittel und der Bewusstseinsformen, Kriege allerorten, um »Demokratie« zu exportieren und die weiße Vorherrschaft wieder zu festigen. Das sind die Ergebnisse von drei oder vier Jahrzehnten einer Konterrevolution, die im Gewand einer passiven Revolution daherkam und in deren Verlauf die »liberale Gesamtpartei«, die im Westen und in dessen Satellitenländern herrscht, ihr Programm, also das Programm der besitzenden und kolonisierenden Klassen, ohne Hindernisse und ohne strategische Gegner wieder »rein« durchsetzen konnte. Und zwar so, dass in der Auflösung der modernen Demokratie – also der integralen Nachkriegsdemokratie, die im Zuge des Emanzipationsdrangs der Massen und deren Parteien und Gewerkschaften sowie einer voranschreitende Entkolonialisierung die liberale Praxis des Ausschlusses überwunden hatte –, auch alle demokratisierenden Bestrebungen ihres anämischen linken Flügels durch ein triumphales Wiederaufleben des konservativen Flügels und seiner Werte wieder absorbiert wurden. Auch die aktuelle Kritik an der »politischen Korrektheit« und dem »woken Globalismus« ist in diesem Sinne vor allem eine interne Abrechnung innerhalb der liberalen Partei. Wenngleich dieser menschenrechtsorientierte Ansatz eher eine Rhetorik der Inklusion als eine Politik der tatsächlichen Emanzipation war, eher ein heuchlerischer verbaler Ersatz als eine konkrete Strategie zur Durchsetzung echter Gleichheit, ist dem siegreichen Flügel dieser liberalen Gesamtpartei heute jede auch nur abstrakt universalistische Rede unerträglich, im Universalismus wittert er sofort den Geruch des Kommunismus.
Angesichts des unaufhaltsamen Aufstiegs der partikularistischen Rechten in Italien wie in ganz Europa, aber auch in den Vereinigten Staaten, wiegt die politische Verantwortung der liberalen Weltanschauung – wie übrigens schon nach dem Ersten Weltkrieg – schwer. Die feurigen Bekenntnisse zur Demokratie erwiesen sich als fadenscheinig und unaufrichtig, während immer schon die Neigung bestand, ihre Wirtschafts- oder Konsenskrisen per Ausnahmezustand zu lösen. Diese Verantwortung ist auf kultureller Ebene nicht minder schwerwiegend, denn einmal mehr waren es gerade die Liberalen, die den Forderungen der Rechten auf diesem entscheidenden Terrain den Weg ebneten und ihnen eine einmalige Gelegenheit für eine Offensive hegemonialer Natur (im Sinne Gramscis) boten. Eine Offensive, die heute darauf abzielt, das Bewusstsein zu erobern und den allgemeinen Sinngehalt der westlichen Gesellschaften zu verändern.
Für einen Großteil der Führungskader der heute regierenden italienischen Rechten, die aus dem Umfeld des neofaschistischen Movimento Sociale Italiano hervorgegangen sind, steht die Geschichte des 20. Jahrhunderts quer zu den eigenen nostalgischen Bedürfnissen. Wie soll man zum Faschismus stehen, wenn man eine Republik regiert, die aus dem antifaschistischen Widerstand hervorgegangen ist und durch eine Verfassung geregelt wird, an deren Ausarbeitung auch die Kommunisten mit ihrem starken Anteil am Befreiungskampf des Landes beteiligt waren? Das verlangt, die Geschichte in gewisser Weise neu zu schreiben, zumindest ihre entscheidenden Abschnitte.
Bereits bei früheren Beteiligungen an nationalen Regierungen zusammen mit dem Liberalen Berlusconi und um so mehr jetzt konzentriert sich die Aufmerksamkeit dieser politischen Klasse nicht zufällig auf die wichtigsten historischen Knotenpunkte des 20. Jahrhunderts. Die entsprechende Debatte in den vergangenen Jahrzehnten markiert den Versuch, die zwanzig Jahre des Faschismus in die Kontinuität der Nationalgeschichte einzubinden, sie der offiziellen Verurteilung zu entziehen, wie es von Liberalen, Sozialisten und Kommunisten in den Jahren, als das historiographische Paradigma des »internationalen Faschismus« und des »internationalen Widerstands« noch lebendig war, geschehen war. Es geht im wesentlichen um Normalisierung und Legitimierung des Faschismus. Die Verharmlosung der faschistischen Gewalt, die Ausblendung des Kolonialismus, die Übertreibung oder manchmal sogar Erfindung seiner angeblichen Sozialpolitik (Renten, Kantinen, Schulreform) und seiner Modernisierungsversuche (Landgewinnung, Sozialwohnungen) gehen Hand in Hand mit einer unversöhnlichen Denunziation der Rolle der Kommunisten im Partisanenkrieg (danach seien die Anhänger Togliattis der UdSSR und Stalin treu ergeben gewesen und alles andere als aufrichtig demokratisch) und mit einer obsessiven Instrumentalisierung der Ereignisse an der Ostgrenze (die Frage der Foibe) und der unvermeidlichen Gewalttaten und Racheakte, die auch in den Jahren nach dem 25. April 1945 im Land stattfanden.
In der Debatte ist dies der entscheidende Punkt der rechten Strategie: die grundsätzliche Fremdheit der Kommunisten gegenüber der Demokratie anzuprangern, um parallel eine faktische »Verjungfräulichung« des Faschismus zu erreichen. Der sei dann eine Bewegung gewesen, die sich seinerzeit gerade gegen die Gefahr des Kommunismus als Bollwerk zur Rettung des Landes aufgerichtet hatte; vielleicht mit einigen Exzessen, aber immer mit besten Absichten und mit aufrichtiger Liebe zum Vaterland.
Diese Thesen, die lange Zeit Minderheitsmeinung waren und außerhalb der offiziellen Kanäle der Institutionen und Akademien von talentfreien Kommentatoren und improvisierten Historikern vertreten wurden, werden heute ohne Probleme öffentlich geäußert, von den Universitäten aufgegriffen und sogar in offiziellen Rundschreiben des Bildungsministeriums an italienische Schulen verbreitet. Das ist der Grund, warum die Regierung auch in diesem Jahr den Feierlichkeiten zum 25. April, dem Jahrestag der Befreiung des Landes, begegnete, als wäre es Ärgernis und Belästigung. Aber, und das ist die eigentliche Frage: Wäre diese fragwürdige »Kulturpolitik« in diesem Ausmaß möglich gewesen und hätte sie in der öffentlichen Meinung tatsächlich den Erfolg gehabt, den sie hat, ohne jahrzehntelange Vorarbeit und akribische Bewusstseinsbildung seitens des liberalen Geschichtsrevisionismus in wissenschaftlichen Zeitschriften und in den allgemeinen Medien?
Der historische Revisionismus – Furet, Nolte, De Felice und Galli della Loggia für Italien – war nicht einfach eine historiographische Strömung. In Verbindung mit den großen historischen Veränderungen der vergangenen Jahrzehnte erwies er sich vielmehr als historiographischer Nachhall einer umfassenderen politischen und ideologischen Offensive der besitzenden Klassen. Ein integraler Bestandteil des »Neoliberal Turn« also, dessen spezifisches Ziel die Neuinterpretation der Realität und der Geschichte, kurzum die Neujustierung des herrschenden Bewusstseins war. Nach Domenico Losurdo handelt es sich um ein Phänomen, das auf ideologischer Ebene einen »epochalen historiographischen und kulturellen Wandel« bewirkt hat, eine radikale Veränderung der Deutung der Geschichte der letzten zwei Jahrhunderte, die sich als programmatische »Liquidierung der revolutionären Tradition von 1789 bis heute« zusammenfassen lässt. Dabei gilt es, den Beitrag zu eliminieren, den diese Tradition, die vom Jakobinismus über den Sozialismus bis zum Kommunismus reicht, beim Aufbau der Demokratie geleistet hat. Die Demokratie sei vielmehr das Ergebnis einer linearen Entwicklung des Liberalismus und habe sich, wenn überhaupt, nicht dank, sondern gegen die Idee der Revolution durchgesetzt. In dieser Perspektive repräsentiert der Revisionismus in der Geschichtswissenschaft das, was Poststrukturalismus und Postmoderne in der Philosophie und in den Humanwissenschaften repräsentieren. Wie diese hat er entscheidend zum regressiven Wandel der Bewusstseinsformen im Westen beigetragen.
Um den praktischen Gebrauch des Revisionismus in seiner Anwendung auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts und seine aktuelle, offen rechtsgerichtete Variante vollständig zu verstehen, muss man jedoch noch einen Schritt zurückgehen und den Revisionismus auf eine etwas ältere und noch einfachere Theorie zurückführen, die nach wie vor seinen Kern bildet. Es handelt sich um die »Theorie des Totalitarismus«, die im liberalen Umfeld bereits zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg angesichts des Aufkommens neuer und ungewöhnlicher politischer Regime entworfen wurde und später zur offiziellen Ideologie des Außenministeriums der USA wurde. Sie besteht im wesentlichen in einer Gleichsetzung jener politischen Formen der Lenkung der Massengesellschaft, die sich in ihrer formalen Funktionsweise vom liberalen politischen Modell unterscheiden. Nach solcher Auffassung sind Nationalsozialismus und Bolschewismus mehr oder weniger dasselbe. Der diametral entgegengesetzte politische, ideologische und soziale Inhalt beider Richtungen spielt für diese Theorie keine Rolle. Entscheidend ist einzig und allein, dass sich beide ausdrücklich vom Liberalismus unterscheiden und eine Reihe formal ähnlicher Merkmale aufweisen sollen (Einheitspartei, organische Ideologie, systematische Manipulation der Zustimmung, Gewalt im großen Stil, Konzentrationslageruniversum und so weiter). Aus dieser Perspektive besitzt der Bolschewismus dann dieselbe Substanz wie der Nationalsozialismus, und beide wären gleichwertige Feinde der liberalen Demokratie. Antifaschistisch zu sein bedeutet in diesem Sinne vor allem antitotalitär und damit auch antikommunistisch zu sein; vor allem antikommunistisch, da Faschismus und Nationalsozialismus im besten Fall nur eine Gegenbewegung zum Kommunismus sind. (Im schlimmsten Fall sogar eine Ableitung davon: War der junge Mussolini nicht Sozialist? War die NSDAP nicht eine national-sozialistische Partei?)
Dieser Ansatz ist heute in jeder Hinsicht vorherrschend. Genügend Zeit ist vergangen, dass er sich tief in den gesunden Menschenverstand einschreiben konnte, so dass diese Gleichsetzung in der kollektiven Vorstellung mittlerweile beinahe unhinterfragt als selbstverständlich gilt. Und sogar die progressive Geschichtsschreibung – vom Marxismus verlassen und auf der Suche nach einem neuen Paradigma – hat sie seinerzeit sogar mit einem Seufzer der Erleichterung aufgenommen. In Wahrheit hat also schon lange vor dem heutigen Wiederaufleben der Rechten der liberale Revisionismus die konservative Neustrukturierung des kollektiven Bewusstseins besorgt und eine Delegitimierung und Kriminalisierung der revolutionären Tradition verantwortet. Ist es da verwunderlich, dass die Rechte dies ausnutzt und nun versucht, das Werk ein für alle Mal zu vollenden, indem sie jene Regime wieder legitimiert, die sich der sozialen und dekolonialen Revolution mit allen Mitteln widersetzt haben?
Stefano G. Azzarà lehrt an der Universität Urbino Geschichte der Philosophie.
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