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Aus: Sieg & Befreiung, Beilage der jW vom 07.05.2025
8. Mai

Schwerer als irgendwo sonst

Die Einsamkeit des Widerstands: Der Fall Österreich
Von Erich Hackl, Wien
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Offen bekundete Freude über das Ende von Krieg und Faschismus, wie hier im April 1945 in Wien, war in Österreich eher die Ausnahme

Es hat Jahrzehnte gedauert, bis das offizielle Österreich am 8. Mai nicht nur des Kriegs­endes, sondern ohne Wenn und Aber auch der Befreiung 1945 gedacht hat. Aber nun, da es endlich soweit ist, lohnt sich die Frage, ob die Kapitulation Deutschlands hierzulande wirklich als befreiend empfunden, der Sieg der Alliierten herbeigesehnt wurde. Ich will dazu einen lang verstorbenen Zeugen aufrufen, den Politiker und Publizisten Ernst Fischer (1899–1972), der in der ersten österreichischen Nachkriegsregierung das Staatsamt für Volksaufklärung, Unterricht, Erziehung und Kultusangelegenheiten leitete und bis 1959 dem Nationalrat angehörte. Als Redakteur der Wiener Arbeiter-Zeitung nach den Februarkämpfen 1934 zur Fahndung ausgeschrieben, war Fischer in die Sowjetunion geflüchtet, von wo er im April 1945, noch vor der Einnahme Wiens durch die Rote Armee, im Gefolge sowjetischer Offiziere in seine Heimat zurückkehrte. Im zweiten Teil seiner Autobiographie, der unter dem ­Titel »Das Ende einer Illusion« erst postum erscheinen sollte, erinnerte sich Fischer an die widersprüchlichen Gefühle, die ihn auf der Fahrt durch das Burgenland überkamen: »In der Frühlingsluft flatterten weiße Tücher aller Art: Kapitulation – und dann und wann eine rote Fahne, aus der man das in der Mitte angebrachte Hakenkreuz entfernt hatte. Wir sprachen mit alten Männern; die Frauen flohen vor uns; nur die Kinder schlossen schnell Freundschaft mit den Russen. Die Erwachsenen waren scheu, verängstigt wie die Leute in Budapest. Ob es sie nicht freue, dass der Krieg zu Ende ging und Österreich wieder frei sein werde. Ein unverständliches Gemurmel war zumeist die Antwort. Es konnte wohl nicht anders sein; dennoch war ich enttäuscht, dass Österreich uns nicht mit geöffneten Armen empfing.«

Freiheit blutüberströmt

Noch im selben Jahr verfasste Fischer einen Aufsatz, der im Jänner 1946 in der Zeitschrift Weg und Ziel veröffentlicht wurde. Darin analysierte er genauer als spätere Generationen von Intellektuellen – und ohne deren moralisierende Attitude – die Gründe dafür, warum das Ende des Zweiten Weltkriegs vom Gros der Bevölkerung nicht als Befreiung empfunden wurde. Österreich sei von außen befreit worden, im Osten durch die Rote Armee, die nur in schweren, blutigen Kämpfen die Hitler-Truppen besiegt habe, im Westen und Süden durch die US-Amerikaner, Briten und Franzosen, die mehr oder minder kampflos einmarschiert seien. »Dadurch wurde die gesamte Entwicklung entscheidend beeinflusst«, schrieb Fischer: »Die Freiheit kam im Gefolge des Krieges, eines schrecklichen, mitleidlosen Krieges, der über das östliche Österreich hinwegschritt und seine tiefen Spuren hinterließ. Diese Verkettung von Krieg und Befreiung wurde für die Massen des Volkes zum zwiespältigen Erlebnis; aus den Luftschutzkellern hervorkriechend, sahen die Menschen im Antlitz der Freiheit die harten Züge des Krieges. Im Jahre 1918 waren die eigenen Soldaten, heimkehrend von weit entfernten Fronten, die Waffenträger der Freiheit. Diesmal waren es fremde Soldaten, und die Front ging mitten durch das eigene Land. Hätten nennenswerte ­Teile des österreichischen Volkes wenigstens in letzter Stunde aktiv am Freiheitskampf gegen die Hitler-Armee teilgenommen, hätten sie Schulter an Schulter mit den Soldaten der Befreiungsarmee gegen die Deutschen gefochten, dann wäre manches leichter gewesen, dann hätten sich Krieg und Freiheit im eigenen Freiheitskrieg widerspruchslos miteinander verbunden; so aber entsprach die Befreiung in ihren unmittelbaren Folgen nicht den Erwartungen jener, die nicht wussten oder nicht wissen wollten, mit welcher Härte die Deutschen jahrelang diesen Krieg geführt, welchen gerechten Hass sie heraufbeschworen hatten. Und noch im letzten Augenblick hatten die Nazitruppen versucht, Österreich zur Wüste zu machen und der Vernichtung preiszugeben: gesprengte Brücken, Bahnhöfe und Betriebe, angezündete Häuser und Magazine, in Brand geschossene Kirchen und Kulturstätten, niedergemetzelte Gefangene, das war ihr letzter Gruß an Österreich. Das Antlitz blutüberströmt und rauchgeschwärzt, mit aufgepflanztem Bajonett durch explodierende Gebäude, durch brennende Straßen, über Trümmer und Leichen vorwärtsstürmend, so kam die Freiheit nach Österreich. Wie sollte sie da einem Engel gleichen, der Gaben und Gnaden austeilt?«

Aber das Verlangen nach einem solchen Engel war selbst in den Jahren, Jahrzehnten nach Kriegsende mächtiger als die von Fischer formulierte Einsicht, dass die aktivsten gesellschaftlichen Kräfte, nämlich Arbeiterklasse und heimkehrende Soldaten, entweder versprengt oder nicht vorhanden waren, dass Österreich keinen wesentlichen Beitrag zu seiner Befreiung geleistet hatte und dass es eben fremde Armeen gewesen waren, die das Land befreit, besetzt und nach zehn Jahren in Unabhängigkeit und Neutralität entlassen hatten. Es mag paradox erscheinen, dass gerade ein Kommunist wie Ernst Fischer den österreichischen Widerstand gegen die Naziherrschaft als unzureichend angesehen hat. Immerhin war die KPÖ die einzige politische Kraft des Landes gewesen, die schon in der Nacht des deutschen Überfalls, vom 11. auf den 12. März 1938, »Katholiken und Sozialisten, Arbeiter und Bauern, Soldaten, Offiziere und Angehörige der Exekutive« zum Widerstand gegen die Besatzung und zur Wiedererrichtung eines freien, unabhängigen Österreichs aufgerufen hatte. Und es waren hauptsächlich Kommunisten, Frauen wie Männer, die diesen Widerstand leisteten. So ungenügend er von ihnen selbst auch empfunden wurde, übertraf er den aller anderen politischen oder konfessionellen Oppositionellen zusammen.

Briefe des Mutes

Wer sich die vier Bände mit ihren 2.220 eng gesetzten Seiten vornimmt, in denen Lisl Rizy und Willi Weinert unter dem Titel »Mein Kopf wird euch nicht retten« (2016) Briefe und Kassiber österreichischer Widerstandskämpfer vor ihrer Hinrichtung durch die Nazijustiz sammelten, wird schier überwältigt von der Fülle an Mut und Mitleid, Liebesfähigkeit, Hoffnung und Demut, die sich in den Briefen offenbart. Zum Beispiel in denen des Wiener Schriftstellers und Journalisten Hans Glaubauf, der im August 1940 in Paris verhaftet und zwei Jahre später in Berlin wegen »landesverräterischer Waffenhilfe« zum Tod verurteilt wurde. Im Abschiedsbrief an seine Lebensgefährtin Maria Stößlein und seine Tochter Nanni schrieb er: »Was ich bedaure, ist nicht, was ich tat, sondern was ich unterließ.« Oder in der Korrespondenz des Mödlinger Lehrers Eduard Göth, der am 15. Dezember 1943 wegen »Vorbereitung zum Hochverrat« – er war am Aufbau einer Widerstandsorganisation entlang der Westbahnstrecke beteiligt – ebenfalls zum Tode verurteilt und am 13. März 1944 im Wiener Landesgericht hingerichtet wurde. »Sondert euch nicht ab«, schrieb er an seine Frau Maria und die beiden Söhne Erwin und Edgar. »Schenkt aber nicht allen euer Vertrauen.« Oder im letzten Brief der Wienerin Antonia Mück an ihre achtjährige Tochter. Mück, von Beruf Sortiererin, wurde im November 1942, anderthalb Jahre nach ihrer Verhaftung, im Landesgericht geköpft. Im Bestreben, dem Mädchen das Herz nicht noch schwerer zu machen, verschwieg sie ihm die bevorstehende Hinrichtung. »Liebe Erika«, schrieb sie, »ich habe nicht vergessen auf deine Einser, ich habe gesagt, dass ich dir für jeden, den du bekommst, 10 Pf. geben werde, ich werde dir deshalb die 40,- RM geben, die ich noch habe, und dann wird dir für jeden weiteren Einser der Onkel Poldi oder eine von deinen Tanten das Geld geben. Servus, mein kleines liebes Mauserl.« Bis zu seiner letzten Stunde am 19. November 1943 trug der in Riegers bei Waidhofen/Thaya geborene, wegen »Feindbegünstigung« verurteilte Elektromonteur Franz Strohmer ein Bild seiner Tochter Renate bei sich, auf das er kurz vor seiner Hinrichtung einen Satz kritzelte: »Erfülle deines Vaters Hoffnungen.« Rizy und Weinert zufolge sind mehr als dreihundert österreichische Kinder durch die Nazijustiz zu Halbwaisen geworden, einige sogar zu Vollwaisen. Das Ausmaß ihrer Traumata und psychischen Spätschäden in der aufs Vergessen dressierten Nachkriegsgesellschaft lässt sich nur erahnen.

Auch der Steyrer Werkzeugmacher Franz Draber hatte seinen Abschiedsbrief schon geschrieben, als er am 30. November 1944 gemeinsam mit seinen Freunden Josef Bloderer und Karl Punzer aus einer Todeszelle des Münchner Gefangenenhauses Stadelheim flüchtete. Er vergrub ihn am Abend des ersten Fluchttages in einem Waldstück an der Isar. Während Punzer außerhalb der Gefängnismauer stürzte und sechs Tage später zum Schafott geführt wurde, gelang es den beiden anderen, sich getrennt voneinander in die Steyrer Gegend durchzuschlagen. Dank der Hilfe von Verwandten und Bekannten erlebten sie das Kriegsende, das von ihnen tatsächlich als Befreiung empfunden wurde, in Hinterstoder und Kleinreifling. Als sie mir vor fünfundvierzig Jahren von ihren Erlebnissen erzählten, fragte ich sie zuletzt auch, ob sich der Kampf gegen das Naziregime ihrer Einschätzung nach gelohnt habe. Bloderer war skeptisch. Er müsse, sagte er, zu seinem Bedauern sagen, dass er ihn nicht noch einmal führen würde. Denn er sei von den Menschen enttäuscht worden, die drehten sich – »großteils!, es gibt schon Ausnahmen« – nach dem Wind. »Und wenn ich sie dann so meckern höre …« Draber hingegen ließ keinen Zweifel daran, dass er wieder so handeln würde. »Ich habe auch nicht viel getan, nur gegen den Krieg gekämpft, und ich habe mich nicht geändert, ich bin heute noch für den Frieden, wir brauchen keine Waffen, und wenn mehr so denken würden, stünde es besser um die Welt.«

»… nicht viel getan.« Tatsächlich erschöpfte sich der Widerstand, vom Partisanenkampf an der Kärntner-slowenischen Grenze, in der Obersteiermark und im Salzkammergut einmal abgesehen, in kleinen Hilfsaktionen und konspirativen Treffen. Draber erinnerte sich, dass seine geheime Zelle in den Steyr-Werken einmal die Möglichkeit erwog, den Erzzug im Ennstal entgleisen zu lassen, ein andermal, den hydraulischen Aggregaten für die Messerschmitt-Bomber Schmirgel beizugeben und sie dadurch zum Absturz zu bringen. Das Argument, das sie im einen wie im andern Fall dagegen vorbrachten – was kann der Lokführer, der Pilot dafür –, war im Grunde nicht stichhaltig; was sie wirklich abhielt, den Plan in die Tat umzusetzen, war ihre Vereinzelung. Hierzu noch einmal Ernst Fischer: »Der Widerstand in diesem Lande fiel schwerer als irgendwo sonst. Das Volk sprach Deutsch, wenn auch mit anderem Akzent. Die Kriegsindustrie überwand die Arbeitslosigkeit. Die ersten Jahre des Krieges brachten Sieg und Macht. Die Privilegien der Herrennation kamen nicht wenigen Österreichern zugute. So fehlte dem Widerstand die Massenbasis. Es war ein einsamer Widerstand.« Wie einsam, das zeigt die Statistik: 380.000 Österreicher, die zur Wehrmacht eingezogen wurden, sind für Hitler gestorben. Gegen Hitler gestorben sind 2.700 Hingerichtete, 16.100 in Gestapohaft, 16.500 im KZ umgekommene Österreicherinnen und Österreicher. 65.500 Männer, Frauen und Kinder wurden als Juden, 9.000 als Zigeuner ermordet.

Arroganz der Nachgeborenen

Dass viel mehr Österreicher im Krieg für als im Widerstand gegen Hitler gestorben sind, deutet schon an, warum der Widerstand seine Einsamkeit auch nach 1945 nicht losgeworden ist: Die Schuld- und Erinnerungsabwehr in Zusammenhang mit der Naziherrschaft hat bewirkt, dass der Widerstand in der Illegalität verblieben ist, in der er sich von 1938 bis 1945 entfalten musste. Frei nach der Sentenz des aus Wien stammenden, 1938 vertriebenen Arztes Franz (später: Zvi) Rix (1909–1981), derzufolge die Deutschen den Juden Auschwitz nie verzeihen werden, könnte man sagen, dass die Mitläufer den Widerstandskämpfern ihren Widerstand nie verziehen haben.

Das erweist sich auch an der Arroganz von Nachgeborenen, die in Verkennung der von Fischer skizzierten Gegebenheiten den Österreichern in ihrer Gesamtheit die Fähigkeit absprechen, sich gegen Unrecht aufzulehnen. Vor einigen Jahren hat Christian Frosch, der 1966 geborene Regisseur des Films »Murer. Anatomie eines Prozesses« (2018) behauptet, dass Österreich »keine Seele und keinen Charakter« habe. »Österreich besteht aus Tätern, Zuschauern und Opfern.« Man kann Frosch nicht vorwerfen, von Zeitgeschichte nichts zu verstehen. Für seinen Film über den Naziverbrecher Franz Murer hat er lange und genau recherchiert. Aber der erste Satz könnte aus dem Schatzkästchen eines rabiaten Nazis stammen, und mit dem zweiten liquidiert er die Tausenden Widerstandskämpfer, die unter der Folter, unter dem Fallbeil, im Vernichtungslager, bei Gefechten ums Leben gekommen sind. Viele auch, die für die Befreiung Österreichs anderswo ihr Leben riskierten, wie die 1.400 Männer und Frauen, die in Spanien auf seiten der Republik gekämpft haben. Sie waren weder Täter noch Zuschauer noch Opfer, denn sie haben sich gewehrt.

Nach achtzig Jahren endet bekanntlich das kommunikative Gedächtnis, das also, was innerhalb einer Sippe oder Familie mündlich weitergegeben wird, bis es mit dem Tod der ältesten Generation erlischt. Das ist ein natürlicher Prozess, den man akzeptieren würde, wenn der 80. Jahrestag der Befreiung und das physische Verschwinden der Verfolgten und Widerständler von damals nicht in eine Zeit fielen, in der – wie Marianne Gronemeyer unlängst in der jungen Welt geschrieben hat – »die Ertüchtigung zum Kriegführen oberste politische Priorität genießt, in der die Wachstumswirtschaft ihre Rettung der Rüstungsindustrie anvertraut, in der Menschen glauben, dass Frieden und Freiheit durch Völkermordmaschinen gesichert werden müssen und das gute Leben sich ausschließlich immer raffinierteren technischen Innovationen verdankt«. Es stimmt mich nicht zuversichtlich, dass Österreich in dieser Ära der Konfrontation nichts anderes einfällt als mitzumachen und somit endgültig gegen das Verfassungsgesetz vom 26. Oktober 1955 über die immerwährende Neutralität zu verstoßen. Was im Raum steht, ist Krieg und nicht die Sehnsucht nach Frieden, die Franz Draber als Antrieb seines antinazistischen Widerstandes genannt hat.

Erich Hackl ist Schriftsteller und literarischer Übersetzer und lebt in Wien.

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