Objektiv abgemeldet
Von Reinhard Lauterbach
Von Gewerkschaften ist in der Ukraine in den vergangenen drei Jahren wenig bis nichts zu hören. Der externe Beobachter kann sich mit gutem Grund die Frage stellen, ob es sie überhaupt noch gibt – jedenfalls jenseits einer Funktionärsblase in irgendwelchen Kiewer Büros. Das hat seine Gründe – historische und solche, die in der politischen Ökonomie des Krieges wurzeln.
Auch in den 31 Jahren der ukrainischen Unabhängigkeit vor dem Krieg waren die Gewerkschaften nicht sehr aktiv. Was die Ukraine geerbt hatte, waren Organisationen sowjetischen Typs. Der einzige praktische Grund für die zu Lohnarbeitern transformierten Werktätigen, diesen Organisationen anzugehören – die Verteilung von Ferienplätzen in betrieblichen Urlaubseinrichtungen –, verlor mit der Privatisierung dieser »Randaktivitäten« seine Grundlage. Wo es noch so etwas wie Gewerkschaften gab, etwa im Donbass, blieben sie, was sie vorher auch waren: korporatistische Umsetzer der Interessen der Betriebsleitungen gegenüber den Belegschaften nach innen und der politischen Öffentlichkeit nach außen. So gab es in den 1990er Jahren immer wieder »Demonstrationen« hungernder Bergleute in Kiew. Nicht, dass die Bergleute nicht gehungert hätten; aber es stellt sich die Frage, wer in dieser Situation die Sonderzüge von Donezk nach Kiew – und die Marschverpflegung der Demonstranten – bezahlt hat. Wahrscheinlich Oligarchen wie Rinat Achmetow, der mit der Mobilisierung seines proletarischen Fußvolks die nächsten Subventionsmilliarden aus dem Staatshaushalt herausquetschen wollte. Zu substantiellen Verbesserungen der Arbeitsverhältnisse kam es jedenfalls nicht.
Ansätze zur Bildung von den Betriebsleitungen »unabhängiger« Gewerkschaften versandeten in der Abhängigkeit von anderen als den bisherigen Bossen. So landete eine »Unabhängige Gewerkschaft der Bergleute« im Umfeld der mit Achmetow konkurrierenden Oligarchin Julija Timoschenko. Generell bestand auch politisch kein Interesse an einer starken oder auch nur ernstzunehmenden Gewerkschaftsbewegung. Das Sozialmodell der unabhängigen Ukraine kam aus den USA: Schlag dich durch. Wenn du Erfolg hast, sei er dir gegönnt, wenn nicht, hast du Pech gehabt. Also schlugen sich die Leute durch: mit Mehrfachjobs, also politökonomisch Überarbeit.
Der Krieg hat diese Verhältnisse gründlich umgepflügt. Zum einen in dem elementaren Sinn, dass er dem Arbeitsmarkt Hunderttausende potentieller Lohnarbeiter entzogen hat. Das Problem der »industriellen Reservearmee« verlor seine Schärfe; Arbeitslosigkeit ist heute das geringste aller sozialen Probleme in der Ukraine. Wer heute einen Job haben will, der kann ihn bekommen, und die offiziellen Gehälter sind seit Kriegsbeginn um etwa 20 Prozent gestiegen. Ob das die Inflation ausgleicht, ist eine andere Frage. Aber es gibt auch niemanden mehr, der um entsprechenden Lohnausgleich kämpfen könnte, was ja eine klassische gewerkschaftliche Aufgabe wäre.
Denn auf der anderen Seite ist es heute ein Privileg, einen offiziellen Arbeitsplatz zu haben, der am besten auch noch als kriegswichtig eingestuft wird. Das nivelliert den theoretisch zugunsten der Lohnarbeitenden wirkenden Trend, der sich lehrbuchmäßig aus der Verknappung des Arbeitskräfteangebots ergeben sollte. Denn wer bei der Betriebsleitung als »Querulant« auffällt, bekommt seine Unabkömmlichkeitsbescheinigung beim nächsten Mal nicht mehr verlängert. So wirkt der Krieg, obwohl er objektiv das Arbeitskräfteangebot verknappt, gleichzeitig als Disziplinierungsmittel gegenüber der lohnabhängigen Klasse.
Es gibt aber noch einen anderen Faktor, der volkswirtschaftlich eher lohnsenkend wirkt: die Flucht Hunderttausender Männer in die Schwarzarbeit. Einberufungsbescheide werden, wenn sie an der Wohnadresse nicht zustellbar sind – und dem Briefträger nicht mehr aufzumachen, ist inzwischen Standardverhalten ukrainischer Familien –, dann eben über die Arbeitsplätze verschickt. So sind viele Männer abgetaucht und leben von den Einkommen ihrer Frauen und/oder von Gelegenheitsarbeiten. Sie zu finden, ist kein großes Problem: Wer soll denn Auto oder Traktor reparieren, wenn der Mechaniker eingezogen ist? Man muss nur dafür sorgen, dass man den Greifkommandos der Wehrersatzbehörden nicht in die Finger fällt. Die werden immer rabiater: »Freilaufende« Männer werden auf dem Bürgersteig umstellt, vom Fahrrad geworfen oder aus dem Bus geholt. Zwar kann man sich in den allermeisten Fällen zur Not freikaufen: Die Höhe der Schmiergelder beginnt bei 5.000 US-Dollar. Das hat wiederum zwei Folgen: Erstens werden mögliche Lohnerhöhungen infolge der Arbeitskräfteknappheit durch die Notwendigkeit abgeschöpft, Rücklagen für den Schmiergeldfall zu bilden; zweitens aber verlieren die Ukrainer offenbar den Glauben daran, »für einen gerechten Staat zu kämpfen«. Es war ausgerechnet der Unternehmerfunktionär Anatolij Kinach, der dieses Argument neulich in einer Fernsehdiskussion brachte. Oder anders: Die Notwendigkeit, Schmiergelder zu zahlen, belastet in letzter Instanz die Unternehmen; sie wirkt wie eine unproduktive Lohnerhöhung. Das erklärt, warum diese Kritik aus dem Unternehmerlager kam.
Was bedeutet das für den Wiederaufbau nach Kriegsende? Es liegt schon ein Gesetzentwurf im Parlament, der es erlauben soll, den Arbeitstag auf bis zu zwölf Stunden zu verlängern. Gleichzeitig haben sich die Leute aber durch die Erfahrung mit der Kriegsdienstvermeidung daran gewöhnt, »individuelle Lösungen« für ihre Probleme zu finden. Ob es unter diesen Bedingungen nach Kriegsende zu einer Renaissance der Gewerkschaftsbewegung kommt, die von den objektiven Rahmendaten her naheläge, bleibt in der Praxis äußerst fraglich.
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