Gespaltene Erinnerung
Von Bernard Schmid
Nicht alle gedenken des sogenannten Indochinakriegs als einer Abfolge von Verbrechen. Acht Jahre dauerte er, von 1946 bis 1954, und rund eine halbe Million Menschen fiel ihm zum Opfer. Doch erst vor kurzem gab es in Frankreich eine Fernsehwerbung, die ihn als glorreiche Episode darstellte. Eine Krankenversicherung für Staatsbedienstete, die sich vor allem an Berufssoldaten und Polizeiangehörige wendet, startete ihre TV-Werbung mit Bildern aus dem Kolonialkrieg in Indochina, auf die in schneller Folge andere vermeintlich heroische Episoden folgten: vom Golfkrieg 1991 – im Unterschied zum US-Feldzug im Irak 2003 hatten zwölf Jahre zuvor französische Truppen an der Operation »Desert Storm« teilgenommen –, aber auch vom Einsatz von Uniformträgern gegen die »Gelbwesten« 2018, womit der Unterschied zwischen Polizei- und Militäreinsätzen visuell verwischt wurde.
Auch der extrem rechte Journalist Alain Sanders zählt nicht zu denen, die den Indochinakrieg Frankreichs bedauern oder als verbrecherische Operation einer Kolonialmacht einstufen. Am 8. April publizierte er einen Text auf der rechtskatholisch-nationalistischen Webseite Le Salon beige, in dem er in einem Rückblick auf das letzte Kriegsjahr des Zweiten Weltkriegs im Pazifikraum vor 80 Jahren vor allem mit Bedauern die »Schwäche der Gaullisten« herausstellt. Ihm zufolge hatte die damalige provisorische Regierung unter Charles de Gaulle in Paris die Verfehlung begangen, in Indochina den zuvor durch das Vichy-Regime ernannten Befehlshaber, den General Jean Ducoux, entmachtet und durch andere militärische Oberkommandierende ausgetauscht zu haben. Deswegen habe Japan, das im Frühjahr 1945 noch Teile des umkämpften Indochina besetzt hielt, eine letzte Offensive starten können. Dies wiederum habe dafür gesorgt, dass die kommunistisch geführte Vietminh-Bewegung sich im Windschatten des Konflikts zwischen der zeitweiligen asiatischen Besatzungs- und der europäischen Kolonialmacht festsetzen konnte. »Das französische Indochina«, schlussfolgert Sanders verbittert, »ging im März 1945 zugrunde, nicht in Dien Bien Phu oder in Genf«, also mit der militärischen Niederlage im Frühjahr 1954 und dem darauffolgenden Genfer Abkommen.
Indochina, das war die seit 1887 von Frankreich unterworfene Landmasse in Südostasien, die zu Beginn des Zweiten Weltkriegs von knapp 25 Millionen Menschen bewohnt war. Formal bestand die »Indochinesische Föderation« aus einer Kolonie – Cochinchina, das einem Teil des späteren Südvietnam von vor 1975 entsprach –, vier Protektoraten: Annam und Tonking im zentralen und nördlichen Vietnam sowie Laos und Kambodscha und einem seit November 1898 für die Dauer von 99 Jahren an Frankreich abgetretenen Territorium im Süden Chinas um die heutige Stadt Zhanjiang, damals Fort-Bayard.
Antikoloniale Gründung
Nachdem das Territorium im Zweiten Weltkrieg zwischen Japan und Frankreich umkämpft war, suchte die französische Staatsmacht nach Beendigung des Pazifikkriegs 1945 die Kontrolle wieder zu übernehmen. Doch inzwischen war die antikoloniale, von Kommunisten angeführte Bewegung Vietminh (»Front« oder »Bund für die Unabhängigkeit Vietnams«) erstarkt, die 1941 von der selbst elf Jahre zuvor entstandenen Vietnamesischen KP im doppelten Kampf gegen Japaner und Franzosen gegründet worden war.
Am 2. September 1945 rief ihr wichtigster Anführer Ho Chi Minh in Hanoi die Demokratische Republik Vietnam aus, die von Frankreich nicht anerkannt, sondern sofort bekämpft wurde. Ho Chi Minh, der das Präsidentenamt übernahm, stellte sein marxistisches Engagement gegenüber dem antikolonialistischen hintan, schloss ein Bündnis auch mit nichtmarxistischen antikolonialen Strömungen und bemühte sich in der Anfangsphase zudem um eine taktische Unterstützung der USA gegen die alte Kolonialmacht. Doch Washington entschied sich nach anfänglichem Zögern für die französische Seite.
Paris ging im November 1946 mit der Bombardierung der Küstenstadt Haiphong, bei der mehr als 6.000 Zivilisten starben, zum offenen Krieg über. Damals stand auch China, das noch nicht von der KP regiert wurde und an das Frankreich im Frühjahr 1946 den Küstenstreifen um Zhanjiang zurückgegeben hatte, hinter der alten Kolonialmacht. Im südlichen Vietnam versuchte Frankreich ab 1949, einen von ihm abhängigen Marionettenstaat gegen die weite Teile des Nordens kontrollierende antikoloniale Regierung von Ho Chi Minh aufzubauen, und holte dafür den 1945 gestützten vormaligen Kaiser Bao Dai als »Staatschef« zurück.
Eine Wende brachte die Gründung der Volksrepublik China im Oktober 1949, in deren Folge der Norden nun über einen militärisch starken Verbündeten verfügte. Ab 1952 verschanzten sich die französischen Truppen weitgehend hinter einer von General Jean de Lattre de Tassigny errichteten befestigten Linie. Noch versuchten sie, ein Übergreifen der antikolonialen Aktivitäten auch auf die anderen Teile Indochinas zu verhindern, und besetzten deswegen die Region um Dien Bien Phu, um die Grenze zu Laos abzusichern. Doch diese Stadt liegt in einem Talkessel, wo die französischen Truppen – nachdem dieser ab März 1954 belagert wurde – in einer Falle hockten. Am 7. Mai des Jahres kapitulierte die französische Streitmacht dort, und am 20. Juli 1954 folgte die Unterzeichnung des Genfer Abkommens, das den Abzug Frankreichs besiegelte. Ab dem darauffolgenden Jahr begann dann jedoch die Kriegführung der USA gegen Vietnam.
Eine wichtige Rolle spielte im Verlauf des Konflikts die Antikriegsopposition in Frankreich, insbesondere der monatelange Hafenarbeiterstreik von 1949/50, bei dem Kriegslieferungen in Richtung Indochina blockiert wurden. Die französische KP, die am 5. Mai 1947 wegen der ersten Kriegskredite die damalige Nachkriegskoalitionsregierung verließ, engagierte sich stark gegen den Fortgang der Kriegführung in Asien. Aber auch die Anhängerschaft fast aller anderen politischen Parteien stellte sich in wachsenden Teilen gegen den Krieg, zumal – anders ab 1954 in Algerien – kaum eine europäische Siedlerbevölkerung in Indochina zu »verteidigen« war. Denn während Algerien als Siedlungskolonie diente, war Indochina eher eine Rohstoffkolonie, in der nur rund 40.000 Franzosen lebten, zuzüglich der Militärangehörigen.
Tabuthema Nazis
Zu den ersten Truppen, die ab 1946 nach Indochina verlegt wurden, hatten noch zahlreiche antifaschistische Widerstandskämpfer aus den Tagen der Nazibesatzung gezählt. Angehörige der Forces françaises de l’intérieur (FFI, »Französische Kräfte des Inneren«) waren ab 1944 in die Armee inkorporiert worden. Diesen Mitgliedern der Résistance hatte man zunächst erzählt, dass man sie nach Asien sende, um dort festgesetzte »Überreste des japanischen Faschismus« zu bekämpfen. Viele von ihnen sahen sich getäuscht und desertierten, einige liefen direkt zum Vietminh über.
Doch nicht nur Antifaschisten, die unter falschen Vorwänden als Soldaten nach Indochina gelockt wurden, kämpften dort. Einen wichtigen Aspekt bei Frankreichs Kriegführung dort bildete – umgekehrt – der Rückgriff auf Kombattanten des soeben besiegten Nazideutschlands, und dies schon zu einem frühen Zeitpunkt im Kriegsverlauf. Nach den für die Armeehierarchie enttäuschend verlaufenen Erfahrungen mit vielen Résistance-Angehörigen wurden schon nach wenigen Monaten frühere französische SS-Freiwillige, aber auch bei der Fremdenlegion rekrutierte deutsche Soldaten mit Nazihintergrund an der Front eingesetzt. Nähere Details dazu publizierten etwa die beiden Autoren Gilles Bresson und Christian Lionet in ihrer 1994 erschienenen Biographie von Jean-Marie Le Pen – denn der im Januar dieses Jahres verstorbene Le Pen, damals bereits ein aktiver Faschist, bereitete sich damals auf eine Unteroffizierskarriere vor. Er fühlte sich in diesem Milieu wohl und drängte aus eigenem Willen an die Indochinafront, kam jedoch zu spät in Südostasien an, nämlich nach der Niederlage von Dien Bien Phu.
Ansonsten war das Thema des »Recyclings« früherer Nazischergen zwecks Wiederverwendung im französischen Kolonialkrieg lange Jahre tabu. Aber 2010 und 2011 legte der Gendarmerieoffizier und Historiker Pierre Thoumelin an der Universität von Caen eine Diplomarbeit in zwei Bänden zum Thema vor, die 2013 auch als Buch veröffentlicht wurde. Thoumelin schätzt, dass 30.000 Deutsche in Indochina gekämpft hätten, rund die Hälfte der insgesamt 70.000 dort eingesetzten Fremdenlegionäre; von ihnen seien 3.000 bis 4.000 frühere SS-Männer gewesen. Es seien aber auch 2.600 Deutsche dort gefallen, und 1.400 seien desertiert. Einige von ihnen, die ähnlich wie zuvor manche Franzosen die Seite wechselten, lebten später in der DDR.
Bernard Schmid ist Jurist, freiberuflicher Journalist und Autor und lebt in Paris.
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