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Aus: literatur, Beilage der jW vom 15.10.2008

Wen die Götter lieben

Jon Savage über die Erfindung des Teenagers und die Entdeckung der Jugend
Von Klaus Walter

»Jugend ist ficken.« Das kommt mindestens so apodiktisch-unwiderstehlich daher wie: »Schießen und ficken ist eins.« Letzteres schleudert der präpotente Moritz Bleibtreu konsternierten Pali-Fightern im jordanischen Ausbildungslager entgegen. Die Terrortrainer hatten sich über nackt sonnenbadende RAF-Frauen empört. Was den empörten Muslimen bleibt, ist ein schwerer Fall von Baader-Meinhof-Edel-Eichinger-Komplex. »And I hope that I get old before I die«, denke ich, mit den Worten der Komikercombo They Might Be Giants. Pete Townshend und Roger Daltrey sind ja auch alt geworden, allen Absichtserklärungen zum Trotz. 1965 war das, »Hope I die before I get old«, The Who, »My Generation«. Wie viele Generationen hatten wir seitdem?



»Jugend ist ficken« also. Mit Edding auf die Klotür geschrieben. In einem Café in der Frankfurter Bergerstraße. Da lese ich Savages Teenage-Buch, Zeit überbrücken, der Kleine ist beim Aikido-Kurs. Im Café läuft das Radio, lauter als zum Lesen gut ist. Der Claim der Station: »Gib mir das Gefühl zurück.« Barc­lay ­James Harvest. Supertramp. Bruce Hornsby. War das mal Jugend? Will man das wiederhaben? Jugend ist ficken?



Ist schon gut, daß Jon Savage mehr schreibt als Jugend ist ficken. Deutlich mehr. Er hat einiges zusammengetragen, seitdem er »damals im 20.Jahrhundert den Auftrag« für diese Geschichte von der »Erfindung der Jugend« bekam. Und wie jeder vernünftige Faktennerd liebt er das Detail. Ohne diese Affenliebe erführen wir nie, daß im Ersten Weltkrieg in England nicht etwa zehn Deserteure auf 1000 Soldaten kommen. Nein, es sind »schätzungsweise 10,26«. Und wie viele der 1924 am College Studierenden praktizieren Petting? 92 Prozent. Jugend ist also schon mehr als ficken. Und weniger.



Wir erfahren, daß Musik lange vor Elvis’ Geburt mit jungen Körpern Dinge anstellte, die Älteren mißfielen, Autoritäten vor allem. Im frühen Jazz zum Beispiel, als er noch Jass hieß, nach einem afrikanischen Wort für Geschlechtsverkehr. Nichts anderes bedeutet ja Rock and Roll…



Mit dem Rock and Roll wird der Teenager geboren, auf diese Lesart hat man sich geeinigt. Maßgeblich dazu beigetragen hat Nik Cohn. In »AwopBopaLooBopALopBamBoom«, seiner längst kanonischen »Pop History« von 1971, behauptet er: »Elvis ist der König. Sein großer Beitrag war, daß er klarmachte, ein wie wichtiger ökonomischer Faktor die Teenager wirklich sein konnten. (…) Das war der entscheidende Durchbruch der Teenager, und Elvis löste ihn aus.«



Wenn das die Geburt des Teenagers ist, dann erzählt Jon Savage die Geschichte der Schwangerschaft, die dieser vorausging. Die dauert 70 Jahre, von 1875 bis 1945.



Die Unmengen von Material hat er so arrangiert, daß klar wird: Die soziokulturelle Matrix mit Namen Genera­tionskonflikt ist schon wirkmächtig, bevor der Begriff Generation durchgesetzt ist. Teenager agieren als eigene gesellschaftliche Gruppe und erkämpfen sich Handlungsspielräume, bevor sie überhaupt wissen, daß sie Teenager sind. Eine Avant-La-Lettre-Konstellation.



Ständig erkennt man Dinge wieder, von denen man gar nicht wußte, daß es sie schon gegeben hat. »Ich will nicht leben, bis ich ein alter Mann geworden bin. Ich würde lieber machen, wozu ich Lust habe und früher sterben.« So zitiert Savage einen gewissen Booth Tarkington. »Seventeen« heißt sein Roman von 1916.



»Seventeen« wie später die Protagonistin in »I Saw Her Standing There« von den Beatles, »Seventeen« wie in »Seventeen« von den Sex Pistols. Und, vor allem, Seventeen, das Magazin: »Im September 1944 erschien eine Zeitschrift auf dem Markt, in der sich Demokratie, nationale Identität, altersorientierte Kultur, Zielgruppenmarketing und jugendlicher Konsum zu einem unwiderstehlichen Gesamtpaket verbanden.« Da ist die – selbstverständlich amerikanische – Mutter unseres Teenagers im neunten Monat.



Pete Townshend ist also nicht der erste, der sterben will, bevor er alt ist. 1980, mehrere Popgenerationen nach »My Generation«, variiert Debbie Harry, die Sängerin von Blondie, das Motiv. »Die young, stay pretty.« Jung stirbt, wen die Götter lieben – mit dieser Parole auf den Lippen stirbt’s sich leichter im Ersten Weltkrieg.



Bereits 1916 also fixiert Booth Tarkington ein Thema, das nach Savage, »die Jugendkultur bis heute bestimmen sollte: Siebzehn kennzeichnet den Moment, in dem Heranwachsende die Bande elterlicher Kontrolle abwerfen und sich in der Welt Gleichaltriger einen eigenen Weg zu bahnen versuchen.«



Vorboten der neuen Teenage-Kultur findet Savage im späten 19. Jahrhundert bei Jugendbewegungen wie Apachen und Hooligans. Später Boy Scouts und Freshmen, Wandervögel und Neuheiden, aber auch vergessene Tribes wie Flappers oder Slicker. »Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein« – Tocotronic waren nicht die ersten. Häufig lösen (massen-)kulturelle Erzeugnisse neue Bewegungen aus. Bücher wie »The Wizard of Oz« oder »Peter Pan« verändern nachhaltig Psyche und Selbstdesign von Jugendlichen. Und, klar, die Musik. Immer wieder begeistern sich weiße Jugendliche für schwarze Sounds, Styles und Codes, kopieren sie und geraten so in Konflikte mit dem weit verbreiteten und tief verwurzelten Rassismus – nicht nur in den USA. »Wenn ich einen Weißen mit der Stimme und dem Feeling eines Negers finden könnte, wäre ich Millionär«, sagt Sam Phillips 1953. Kurz darauf unterschreibt Elvis bei seiner Plattenfirma Sun. Der weiße Mann als Türöffner für die Negermusik – auch keine Erfindung des Rock and Roll. »Ragtime war zwar schon seit Mitte der 1890er Jahre in den schwarzen Ghettos angesagt gewesen, doch den ersten millionenfachen Verkaufserfolg erzielte Irving Berlin mit dem Hit ›Alexander’s Ragtime Band‹ aus dem Jahr 1911. Als der zuvor unbekannte Stil den Massenmarkt eroberte, war ein weißer Mann nötig, um die schwarze Musik zu verkaufen.« Negrophilie bei der hippen weißen Jugend, Negrophobie beim bösen weißen Mann. Dem frühen Jazz werfen sie »Mord an den Melodien« vor, 80 Jahre vor Techno. Die Nazis verfolgen die Swing-Jugend. Hottentotten!



»Unsere Welt ist eine sehr schnelle, und sie sind alt.« So zitiert die »Study in American Culture« von 1929 einen amerikanischen Jugendlichen. »Geht’s dir zu schnell, bist du zu alt« – mit solchen Slogans werben 70 Jahre später Popradios für ihr schnelles und also jugendliches Programm.



Die Lebenszeit von Gustave Le Bon erstreckt sich von 1841 bis 1931, da ist einiges passiert. 1895 veröffentlicht Le Bon »Psychologie der Massen«. Das Buch wird zum Standardwerk. Also wird Le Bon gehört, als er in den zwanziger Jahren vor einem neuen destruktiven Phänomen warnt: Die Masse denkt nur noch »in Bildern«! Es vergeht mehr als ein halbes Jahrhundert, bis MTV an den Start geht, mit den Buggles: »Video killed the radio star«. Prompt diagnostizieren kulturpessimistische Alarmisten den pictorial turn. Die Jungen denken nur in Bildern! Bei MTV gern in Bildern von Duran Duran, eine Band, die ohne das Denken in Bildern gar nicht existiert hätte. Ihr Sänger heißt Le Bon, Simon Le Bon, aber das ist sicher nur ein Zufall.



Nicht jeder Heranwachsende hat »die Möglichkeit, nach Yale zu gehen, Banker oder Börsenmakler zu werden. Es gab allerdings eine relativ leichte Möglichkeit, an die Waren zu gelangen, ohne die er sich nicht als vollwertiger amerikanischer Bürger fühlen durfte. Er konnte Gangster werden.« Diese Berufsempfehlung des Soziologen Steve Lerner stammt aus den Zwanzigern. Ein Dreivierteljahrhundert später erleben wir die Erweiterung der Gangster-ökonomischen Produktpalette um die Sparte Gangster-Rap. Incl. Sekundärverwertung: Kino, Games, Porno, Mode...



1931 begeistert sich die amerikanische Jugend für Tom Powers. »Nach einer wahren Geschichte« wird im Kino das Leben eines irischen Gangsters erzählt, der zum Unterweltdespoten aufsteigt und durch bilderstarken Sadismus auffällt. Markant die Szene, als er seiner Freundin »eine halbe Grapefruit ins Gesicht preßt.« Der Film heißt »The Public Enemy«, den zutiefst amoralischen Gangster spielt James Cagney. Die Moral des Films aber, so finden Forscher heraus, wird von jungen Kinobesuchern glatt ignoriert, die sind ganz identifiziert mit dem Public Enemy. 52 Jahre später kommt »Scarface« in die Kinos, und auffällig viele schwarze Jugendliche wählen sich den von Al Pacino gespielten kubanischen Einwanderer Tony Montana zum Rollenmodell. Der Gangsterboß löffelt Koks mit der Suppenkelle und preßt seiner Freundin ganz andere Dinge ins Gesicht als halbe Grapefruits. Scarface wird zum Original Media Gangster - und zum Namen eines erfolgreichen schwarzen Rappers. Ach ja, Brian De Palmas 1983er Scarface ist ein Remake des gleichnamigen Films von 1932. Regisseur damals: Howard Hawks.



So könnte man das ewig weiterdrehen. Immer neue Déjà-vu, Savage erzählt von einst, und wir sehen Bilder, hören Sounds aus dem Jetzt. Und kapieren gründlich, daß jede neue Technologie, jedes neue Medium und jeder neue Krieg den Aggregatzustand, die Beschaffenheit, die Dynamik, die Bedeutung, die Körperlichkeit, die Mode usw. von Jugend neu definiert. Und daß die Jugend jede neue Technologie, jedes neue Medium und jeden neuen Krieg nutzt, um Aggregatzustand, Beschaffenheit, Dynamik, Bedeutung, Körperlichkeit, Mode usw. ihrer selbst neu zu bestimmen. It’s only teenage wasteland ...







Jon Savage: Teenage. Die Erfindung der Jugend (1875–1945). Aus dem Englischen von Conny Lösch. Campus Verlag, Frankfurt/M. 2008, 522 Seiten, 29,90 Euro.

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