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Aus: XII. rosa-luxemburg-konferenz, Beilage der jW vom 31.01.2007

Ein fundamentaler Wandel

Alberto Moreira (Brasilien) analysierte die politische Situation in Lateinamerika nach den jüngsten Wahlerfolgen linker Präsidentschaftskandidaten
Von Alberto da Silva Moreira
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Alberto da Silva Moreira (geb. 1955) ist Professor an der Katholischen Universität in Goiania, der Hauptstadt des brasilianischen Bundesstaates Goiás. Er studierte bei den Befreiungstheologen Lenonardo und Clodovis Boff sowie in Münster bei Johann Baptist Metz. In seinen Forschungen beschäftigt er sich besonders mit der Kinderarbeit in Brasilien, dem Verhältnis von Kulturindustrie und Religion sowie mit der Rolle von Spiritualität in den sozialen Bewegungen.



Seit 30 Jahren waren die politischen Bedingungen für die Linke in Lateinamerika nicht so gut wie heute. Mit dem Wahlsieg von Hugo Chávez in Venezuela im Dezember und der praktisch gesicherten Wiederwahl von Néstor Kirchner im Herbst in Argentinien schließt sich ein Zyklus in Lateinamerika, der linksorientierten Parteien in vielen Fällen Erfolge brachte. Er begann im Dezember 2005 mit dem historischen Wahlsieg von Evo Morales in Bolivien, gefolgt von den Wahlen von Oscar Arías in Costa Rica, René Préval in Haiti, Alan García in Peru, Michelle Bachelet in Chile, Rafael Correa in Ecuador, Luis Inacio »Lula« da Silva in Brasilien und Daniel Ortega in Nicaragua. Nicht zu vergessen, daß Chávez in Venezuela schon seit 1998 im Amt war, der sozialistische Präsident Ricardo Lagos in Chile seit 2000, »Lula« in Brasilien seit 2003 und seit 2004 Tabaré Vázquez in Uruguay. In einigen Ländern wie El Salvador, Mexiko und Kolumbien kam die Rechte wieder an die Macht. Aber selbst in Mexiko gewann die wichtigste Linkspartei stark dazu.

Selbstverständlich wird die bürgerliche Presse sofort einwenden, daß man von verschiedenen Profilen der Linken in Lateinamerika sprechen muß, die sehr verschiedenen Traditionen und Ausprägungen in den jeweiligen Ländern entsprechen. Das stimmt auch. Die Metallarbeiter von São Benardo do Campo, die »Lula« unterstützen, gehören zum Beispiel anderen Schichten an als die Kokaleros, die in Bolivien auf der Seite von Evo Morales stehen. Dasselbe kann man natürlich auch von den anderen Genannten sagen. Ein Alan García schöpft sein Wasser nicht aus demselben Brunnen wie Hugo Chávez, Michelle Bachelet verfolgt gegenüber den USA nicht dieselbe Politik wie Rafael Correa in Ecuador. Das Wallstreet-Journal sagt, daß Linkspolitiker wie Lula, Kirchner und Bachelet Freunde der Marktwirtschaft seien. An all dem mag etwas Wahres sein. Dennoch hat dieser Wahlzyklus im Hinblick auf die letzten 50 Jahre der Geschichte Lateinamerikas eine fundamentale Bedeutung. Ich denke an die 50er und 60er Jahre zurück, als sich eine Welle gegen den Imperialismus und die Unterdrückung aufzutürmen begann, die damals gewaltsam bekämpft und gestoppt wurde. Heute sind die historischen Bedingungen anders. Aber es gibt auch gewisse Ähnlichkeiten. Damals ging durch ganz Lateinamerika ein Aufschrei gegen Imperialismus und für grundlegende soziale Veränderungen. Landarbeiter, Studenten und städtische Arbeiter organisierten sich. Das Musterbeispiel dieser Kämpfe war die kubanische Revolution. Als es dann in den 60er, 70er Jahren den marxistisch inspirierten Parteien, Gewerkschaften und Organisationen wie in Brasilien und Chile gelang, an die Macht zu kommen oder auch nur eine Bedrohung für die Interessen der Mächtigen darzustellen wie in Argentinien, Uruguay, Paraguay, Venezuela und Guatemala, wurde überall geputscht.

Niederlage des Neoliberalismus

Die Militärdiktaturen haben dreierlei Zwecken gedient. Zum einen dazu, den Volkswiderstand zu brechen, die Verfassungen und die Menschenrechte auszuhebeln und die Ideologie der nationalen Sicherheit im Sinne der US-Strategie des Kalten Krieges zu etablieren. Zum zweiten gewann das Militär durch die Zerstörung der Institutionen und Organisationen der Volksmassen Kontrolle über die Zivilgesellschaft. Und drittens war damit der Weg freigemacht für die Interventionen und die Expansion des neoliberalen globalisierenden Kapitalismus. Als dann die Militärdiktaturen am Ende waren, als ihre nationalistische binnenorientierte Komponente verpuffte, kam 1989 der »Washingtoner Konsens«. Mit ihm wurden die neoliberalen Rezepte zur offiziellen Politik von Weltbank, Internationalem Währungsfonds (IWF) und State Departement der USA. In den 90er Jahren, im Sog des Mauerfalles, hat dann der Neoliberalismus in Lateinamerika die Hegemonie erlangt.

Heute, so glaube ich, kann man von einer politischen Wende in Lateinamerika sprechen, deren Ergebnisse sich konsolidiert haben, die trotz ihrer Differenziertheit von Land zu Land viele Chancen öffnet und vielleicht tieferen Veränderungen den Weg bahnt. Die jüngsten Wahlergebnisse dürfen nicht außerhalb des Kontextes betrachtet werden, etwa als ein Glücksfall. Für mich sind sie sowohl das Produkt eines historisch schon laufenden Prozesses als auch ein Mittel, diesen Prozeß in Gang zu halten. Kann man also durch die Differenziertheit der jeweiligen Situationen hindurch gemeinsame Nenner oder Signale der Zeit ausmachen? In schematischer Form sehe ich folgende Ergebnisse der sich seit einigen Jahren vollziehenden politischen Wende: Erstens eine beachtliche, noch nicht totale, aber eine beträchtliche Niederlage des Neoliberalismus auf dem Kontinent. Privatisierungsprozesse werden gestoppt und in Bolivien und Venezuela sogar rückgängig gemacht. Der IWF ist völlig diskreditiert, gegen spekulatives Kapital wurden einige Maßnahmen ergriffen. Vor allem aber wird wieder ernsthaft über Sozialausgaben diskutiert. Dennoch hat die neoliberale Politik nachhaltige Auswirkungen, besonders durch ihre staatlichen und privaten Finanzinstitutionen. Sie greifen in die nationale Ökonomie der Länder ein und untergraben die Autonomie nationaler Wirtschaftspolitik.

(...) Ein zweites Ergebnis dieser neuen Situation sehe ich darin, daß es eine neue Artikulation des Verhältnisses zwischen Marktwirtschaft, Staat und Zivilgesellschaft gibt. Das Dogma des schlanken Staates scheint überholt zu sein, die Ökonomie wird wieder Gegenstand der Politik. Wo das der Fall ist, haben die sozialen Bewegungen erreicht, daß sozialökonomische Fragen, etwa Landreform und Bildung wie in Brasilien und Argentinien, aber auch ethnische Fragen wie in Mexiko und Bolivien wieder auf der politischen Agenda stehen. Ein drittes Ergebnis ist die Stärkung der Bündnisse der Länder und der politischen Kräfte, die eine regionale Organisierung und einen regionalen politisch-kulturellen Block verteidigen. »Lula«, Chávez und Kirchner streben die nationale Integration durch den Mercosur, die südamerikanische Wirtschaftsgemeinschaft, an, auch wenn sie im Konkreten unterschiedliche Vorstellungen vertreten. Es existieren aber bereits Kooperationsprojekte im Bereich der Forschung, der Bildung, bei Energie, Straßenbau, Gas- und Erdölproduktion und in so fundamentalen Bereichen wie Volksmedizin und Alphabetisierung.

Linderung der Armut

Ein viertes Ergebnis der neuen Situation sehe ich in einer leichten, aber sehr wichtigen Linderung der Armut, in der Verbesserung der Lebensqualität armer Bevölkerungsschichten in Lateinamerika. Ein fünftes Ergebnis ist die Niederlage der imperialistischen Politik der USA in Lateinamerika. Die Freihandelszone, die von den USA dem Kontinent aufgezwungen werden sollte, ist gescheitert. Eine zweite, genauso wichtige Niederlage für die hegemonialen Bestrebungen der USA in der Region war das Durchbrechen der Isolierung Kubas. Auf Grund der mutigen Initiativen von Hugo Chávez und des Engagements anderer Präsidenten wird Kuba immer mehr als normaler Partner in viele ökonomische, politische und kulturelle Programme der lateinamerikanischen Länder integriert, insbesondere in die des Mercosur.

Ein sechstes Ergebnis: Ich glaube, man kann von einer grundsätzlichen Änderung der politischen Kultur in Lateinamerika sprechen, die einem ideologischen Fortschritt gleichkommt. In den Augen der Bevölkerung ist die Linke mit ihren ureigensten Interessen verbunden. Früher konnte man Kommunisten und Sozialisten leichter aus dem Weg schaffen, da es der herrschenden Ideologie immer gelungen war, sie als »Kinderfresser« hinzustellen. Das hat sich geändert. (...) Ein siebentes Ergebnis dieser neuen Situation: Bolivien ist heute das Land, in dem die sozialen und ökonomischen Veränderungen stattfinden. Wenn man überhaupt von Revolution sprechen will, dann in bezug auf das Bolivien von Evo Morales. Das wird vor allem auf die anderen Andenländer Auswirkungen haben. Correas Wahl in Ecuador und die von ihm proklamierte, national orientierte Erdölpolitik nach Boliviens Muster sind die ersten Anzeichen.

Ein Wort zur Rolle des Marxismus. Der Marxismus gelangte nach Lateinamerika einschließlich Brasilien zuerst über die Anarchisten, später über die Gewerkschaften, dann über die traditionellen kommunistischen Parteien, über die organisierte Landarbeiterschaft der 60er Jahre, über die Guerillabewegung, über die Befreiungstheologie und die Basisgemeinden, schließlich über Parteien wie die Arbeiterpartei Brasiliens. Heute wirkt er über die sozialen Bewegungen, vor allem über die der Landlosen. Obwohl die marxistische Analyse einer inhaltlich starken Kritik unterzogen wurde, zeigt sie ihre Aktualität, sei es als theoretisches Instrument für die Kapitalismuskritik in den sozialen Bewegungen, sei es als ethische Sensibilität und Horizont für sozial engagierte Menschen.

Als Risiko und Herausforderung für die Linke Lateinamerikas sehe ich, daß Mobilisierung und Organisierung der Zivilgesellschaft in vielen Ländern noch in den Kinderschuhen stecken. Dort kann man kaum von sozialen Bewegungen sprechen. Zweitens: Es fehlt den neu gewählten linken Kandidaten ein gemeinsames politisch-ökonomisches Minimalprojekt. In ihren unterschiedlichen Positionen zeigt sich die gleiche Spaltung wie in den Linksparteien ihrer Länder. Drittens: Über Lateinamerika schwebt noch immer die Gefahr des Populismus, des Assistentialismus, d.h. man macht der Bevölkerung Konzessionen, um die Macht zu erhalten, und der Korruption. Das gilt auch für Linksregierungen und Linksparteien. In den jüngsten Korrup­tionsaffären in der Arbeiterpartei Brasiliens war zu erleben, daß ideologisch gefestigte und erprobte Parteimitglieder durch den Automatismus des Staatsapparates, durch die Nähe zur Machtausübung und die Distanz zum Volk von den korrupten Praktiken des Systems eingeholt werden können. Ähnliche Beispiele gibt es im Venezuela von Hugo Chávez. Sollte dies anhalten, wird die Linke ihre ethische Anziehungskraft verlieren und zur Entpolitisierung und Demobilisierung der Bevölkerung beitragen. Am Beispiel von Venezuela und Brasilien wurde zudem deutlich, daß für die politische Zukunft eine Demokratitisierung der Medien unverzichtbar ist. Die großen Medienkonzerne dominieren die Information, prägen angesichts einer gelähmten Zivilgesellschaft die politische Kultur nach ihren Maßstäben und manipulieren geschickt die Konsumentenmeinung. Alternative und kritische Massenkommunikationsmittel müssen geschaffen und am Leben gehalten werden. (...)

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