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Aus: literatur, Beilage der jW vom 04.10.2006

Der Schwarze Peter

Noam Chomsky mißt die Politik der Vereinigten Staaten von Amerika an ihren eigenen Ansprüchen und bilanziert ihr Versagen
Von Reinhard Jellen
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Noam Chomsky: Der gescheiterte Staat. Aus dem Amerikanischen von Gabriele Gockel, Bernhard Gendricke und Thomas Wollermann. Verlag Antje Kunstmann, München 2006, 399 Seiten, 24,90 Euro

In seiner neuesten Veröffentlichung »Der gescheiterte Staat« widmet sich Noam Chomsky mit einer profunden Studie der Außen- und Innenpolitik der Vereinigten Staaten und versucht, ihr Verhältnis zum Rest der Welt, also den einmaligen militärischen und wirtschaftlichen Expansionsdrang und die Gegenreaktionen zu analysieren wie auch ihre Rechtfertigungsmuster aufzuzeigen und zu kritisieren.

Chomskys Hauptverfahrensweise besteht darin, die Kriterien eines »failed state« auf die USA anzuwenden, welche diese selbst gebrauchen, um in anderen Nationalstaaten (wie z.B. Haiti und Somalia) einzumarschieren: »Zu den hervorstechendsten Merkmalen gescheiterter Staaten gehört, daß sie ihre Bürger nicht vor Gewalt schützen (...) bzw. daß die Entscheidungsträger solchen Fragen geringeren Stellenwert beimessen als kurzfristigem Machterhalt und Reichtum für die tonangebenden Schichten des Staates. Ein weiteres Charakteristikum gescheiterter Staaten ist, daß sie ›gesetzlose Staaten‹ sind, deren Führung sich nicht um Völkerrecht und internationale Abkommen schert.«

Chomsky kommt zu dem Ergebnis, daß die USA über jedes dieser Merkmale in einem außergewöhnlichen Maß verfügen: Erst einmal stellt die US-Regierung mit ihrer gegenwärtigen aggressiven Außen- und insbesondere Nahostpolitik eine ernsthafte Bedrohung für die eigene Bevölkerung dar: Denn wer stellt in Abrede, daß die Vereinigten Staaten mit der Stationierung amerikanischer Truppen in Saudi-Arabien, mit der Verantwortung für die Irak-Kriege und der darauffolgenden Besetzung, der Parteinahme im Israel-Palästina-Konflikt, ihrer Politik der einseitigen Interessenvertretung und Nicht-Einhaltung von internationalen Verträgen sowie generell als wesentlicher Akteur der neoliberalen Globalisierung, welche die sozialen Asymmetrien weltweit dramatisch verschärft, weite Bevölkerungsteile des Nahen Ostens den Islamisten in die Arme getrieben haben? Auch auf direktem Wege haben die USA den fundamentalistischen Kräften zu einer Hochblüte verholfen: Versuche in der arabischen und muslimischen Welt, Demokratie und Menschenrechte voranzubringen, wurden durch amerikanische Interventionen immer wieder gestoppt und die Marginalisierung von linken Kräften tatkräftig unterstützt – ein geistiges Vakuum, in das die Fundamentalislamisten dann stoßen konnten. Darüber hinaus sind die USA verantwortlich für den Aufstieg der Taliban und anderer radikaler islamistischer Gruppierungen, die sie zu Zeiten des Afghanistan-Krieges mit der Sowjetunion als politische Kraft überhaupt erst auf die Weltbühne hievten. Überdies vergrößern die USA mit ihrer unverhohlen aggressiven Politik die Gefahr eines nuklearen Schlagabtauschs.

Innenpolitisch versagen die USA ebenfalls: Während im Zuge des »patriot act« elementare Grundrechte abgebaut und hinter dem Rücken der Öffentlichkeit die Entführung und Folterung von Verdächtigen betrieben wurde, verringerte sich im Gegenzug aber nicht die Gefahr für die Zivilbevölkerung. Im Gegenteil, die Normalbürger werden potentiellen Gefahren durch drohende Terroranschläge einfach überlassen, indem z. B. bestehende Schutzmechanismen rigoros abgebaut wurden. 2005 strich der US-Senat Gelder für die Sicherheit von Eisenbahnen und öffentlichen Verkehrsmitteln. Die Einführung strengerer Bestimmungen für die chemische Industrie, um ihre Anlagen besser gegen Anschläge zu wappnen, wurde verhindert. Es wurde nach dem 11. September 2001 nicht einmal der Versuch unternommen, spaltbares Material sicher zu verwahren. Auch nimmt sich der Aufwand des US-Finanzministeriums, um verdächtigen Geldtransfers nachzugehen, bescheiden aus. Gerade einmal vier Mitarbeiter beschäftigt das »Office of Foreign Assets Control« für diese Aufgabe, während immerhin zwei Dutzend Beamte für die Einhaltung des Embargos gegen Kuba abgestellt sind. Kontrolle der globalen Energiereserven und Steuersenkungen für Reiche sind der Regierung Bush ein weit ernsthafteres Anliegen als der Schutz der eigenen Bevölkerung vor Anschlägen oder auch vor Naturkatastrophen. Dies wurde bei der unterlassenen Hilfeleistung für die Zivilbevölkerung beim Hurrikan Katrina augenscheinlich.

Moralische Doppelzüngigkeit

Die USA sind für Chomsky zwar der mächtigste Staat, dieser wird aber nicht demokratisch von der Öffentlichkeit kontrolliert, sondern von Lobbies, Groß- und ihren Medienkonzernen instrumentalisiert. Ausdruck dieser tiefen Krise des demokratischen Rechtsstaats ist für Chomsky die auffallende Diskrepanz zwischen öffentlicher Meinung und herrschender Politik. Chomsky beruft sich hierbei auf unbeachtet gebliebene Umfrageergebnisse der US-Bevölkerung, die zum überwiegenden Teil eine defensive Ausrichtung der Außenpolitik wünscht, auf die Einhaltung von internationalen Verträgen drängt und im Bezug auf den US-Haushalt diametral entgegengesetzte Vorstellungen zur Regierung hegt.

Einen Untersuchungsschwerpunkt Chomskys bildet die unilateralistische Ausrichtung der USA bei internationalen Verträgen. Nach Chomsky haben die Attentate vom 11. September die Außenpolitik der USA nicht wesentlich verändert, sondern diese im Sinne unilateraler Hegemoniebemühungen »nur« verstärkt zutage treten lassen. Immer hemmungsloser brechen die Vereinigten Staaten aus machtstrategischem Kalkül die u. a. im Völkerrecht verankerten, allgemein bindenden Rechtsvorschriften und Regeln und maßen sich als Nationalstaat immer mehr das Recht an, als Institution über den Institutionen aufzutreten: Mit dem Konzept des »Präemptivschlags« nehmen sich die USA im Gegensatz zur UN-Charta das Recht heraus, gegen Länder Krieg zu führen, von denen angenommen wird, daß sie gegen Amerika einen militärischen Erstschlag vorbereiten.

Zu den Institutionen, die nach Meinung der USA nicht geeignet sind, über ihr Vorgehen zu urteilen, gehören die UNO, das Rote Kreuz, die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) und der internationale Gerichtshof in Den Haag. In den Worten von US-Außenministerin Condoleezza Rice ist die Rechtsprechung des internationalen Gerichtshofs »ungeeignet für die Vereinigten Staaten«, die überhaupt keinen »internationalen Gesetzen und Normen« unterworfen sind. Als z.B. Serbien in Den Haag wegen Kriegsverbrechen angeklagt wurde und verschiedene Völkerrechtler forderten, ebenfalls NATO-Verbrechen zu untersuchen, wurde dies von den öffentlichen Klägern abgelehnt. Als Serbien beim internationalen Gerichtshof dagegen klagte, erkannten die USA daraufhin die Zuständigkeit des Gerichts einfach nicht an. Somit verlangen die Vereinigten Staaten von anderen Staaten die Einhaltung menschen- und vertragsrechtlicher Prinzipien, die sie selbst, wenn es ihnen einen Vorteil verschafft, für vernachlässigenswert erachten. Auch völkerrechtliche Bedenken scheinen hierbei eine eher untergeordnete Rolle zu spielen. Mit der Außenpolitik der Regierung Bush wird endgültig klar, daß die USA internationale Verträge als Regelungen ansehen, die der stärkere Vertragspartner nach Gutdünken befolgen oder brechen kann: Die amerikanische Doktrin spricht den demokratischen Formen solange Wert zu, als sie ihre Geschäfte nicht stören, ist dies allerdings der Fall, werden sie zu weltfremden und unnützen Prinzipien erklärt. Seit den 50er Jahren hatten die USA nie ein Problem damit, wie im Iran, in Guatemala oder Chile Diktatoren an die Macht zu bringen und zu unterstützen, wenn diese der amerikanischen Außenpolitik und Wirtschaft von Nutzen waren.

Diese moralische Doppelzüngigkeit wird auch beim Konflikt mit dem Iran in bezug auf den Atomwaffensperrvertrag (NPT) deutlich: Darin haben sich die über Nuklearwaffen verfügenden Staaten verpflichtet, den atomwaffenfreien Ländern den freien Zugang zur friedlichen Nutzung von Atomenergie zu ermöglichen und ihr eigenes Kontingent abzurüsten. Weder die eine noch die andere Bestimmung wird von den USA eingehalten, dafür ein ernsthafter Konflikt mit dem Iran provoziert, wenn sich dieser um eigene Nukleartechnik bemüht.

Nicht resistent

Bislang war aber der ganzen außenpolitischen Strategie ein geringer bis gegenteiliger Erfolg beschieden: Mit den tiefen sozialen Diskrepanzen destabilisieren sich die prekären Regionen weiter, in denen traditionelle religiöse und ideologische Konflikte, permanente Umverteilungskämpfe mit einer angefeindeten Besatzungsmacht aufeinandertreffen. Als weitere unbeabsichtigte Folgen stellt Chomsky in seinem Schlußkapitel eine zunehmende internationale Isolierung der USA und die Möglichkeit des Zustandekommens eines Bündnisses zwischen dem Irak, Iran und Saudi-Arabien dar, das sich andere Länder wie China und Indien zum Vorbild nehmen könnten. Denkbar wäre auch eine Aufhebung der Taxierung des Ölpreises durch den Dollar, was der amerikanischen Wirtschaft erheblichen Schaden zufügen würde.

Chomskys positive Bezugsinstanz bei seiner Kritik sind die UNO, die Menschenrechte, die Demokratie und der Markt nach den Grundsätzen des klassischen Wirtschaftsliberalismus à la Adam Smith. Er stellt souverän und mannigfach dar, daß die USA diese eigenen Maßstäbe elementar mißachten. Dabei übersieht Chomsky jedoch, daß sich die UN bislang nicht gerade als instrumentalisierungsresistent erwiesen haben und daß mit den Menschenrechten, Demokratie und einem freien Markt zunehmende Abhängigkeitsverhältnisse und Ungleichheiten einhergehen. Es ist zwar ganz richtig, die USA an ihren eigenen Ansprüchen zu messen, andererseits besteht dann die Gefahr, diese Prinzipien selbst zu verabsolutieren, die vielleicht mehr mit den Exzessen der Weltpolitik zu tun haben, als es dem bedeutendsten liberalen Kritiker der neoliberalen Weltordnung lieb sein kann.

Das alles ist allerdings kein Grund, den USA allein den globalen Schwarzen Peter zuzuschieben: Schließlich wurde hierzulande im von vorne bis hinten rechtswidrigen Jugoslawien-Krieg von 1999 der Bevölkerung ebenso schamlos ins Gesicht gelogen, und tatsächlich ist auch bei uns eine ähnlich bedenkliche Rechtsentwicklung zu beobachten. Wie die Al-Masri-Affäre beispielhaft zeigt, findet in Deutschland der Umbau des scheinbar neutralen Wohlfahrtsstaates zu einem repressiven Interventionsstaat, der von einem atemberaubenden Abbau gesellschaftlicher Standards begleitet ist, in vergleichbaren Maßen statt wie in den USA – bislang auch ohne terroristische Neugestaltung des Berliner Stadtzentrums.

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