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19.12.2025, 16:57:31 / Feuilleton
Filmgeschichte

Der Wert der Gefühle

Vor 100 Jahren wurde Sergej Eisensteins Film »Panzerkreuzer Potemkin« zum ersten Mal gezeigt
Von Ulrich Schneider
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Meister der Schnitte: Sergej Eisenstein (1898–1948)

Am 21. Dezember 1925 wurde in Moskau ein Film uraufgeführt, der eine ästhetische Revolution auslöste und der in der Stummfilmzeit mit seiner Bildsprache und politischen Haltung stilbildend wurde. Sergej M. Eisenstein hatte den Auftrag bekommen, zum 20jährigen Jubiläum der sogenannten ersten russischen Revolution von 1905 die revolutionäre Bewegung an verschiedenen Orten filmisch nachzuzeichnen. Schon früh entschloss sich Eisenstein, den Matrosenaufstand in Odessa exemplarisch ins Zentrum zu stellen. Ausgehend von der Rebellion der Matrosen des Panzerkreuzers Potemkin entwickelte der Regisseur das Revolutionsgeschehen. Die Proteste der Matrosen wegen unzureichender Verpflegung werden blutig niedergeschlagen, doch bei der Aufbahrung des getöteten Wortführers zeigten tausende Menschen ihre Solidarität. Das zaristische Regime schickte Truppen, die mit großer Brutalität den Protest der Bevölkerung niedermetzelten.

Es ist die Eindringlichkeit der Bildersprache, die diesen Film bis heute für jeden Betrachter verstehbar macht. Nach den Bilder der Gewalt gegen die rebellierenden Soldaten erleben die Betrachter im Hafen von Odessa ein Solidaritätsfest. Typen, die als »Student«, »Kriegsversehrter«, »Mutter«, »Lehrerin«, »Kind« und »Begüterter« charakterisiert werden, unterstützen die Matrosen und stehen symbolisch für die gesellschaftlichen Gruppen, die für den Aufstand zu gewinnen sind. Die friedliche Stimmung wird unterbrochen durch das eingeblendete Wort »Plötzlich«. Panik bricht aus.

Damit beginnt eine der bekanntesten Szene der Filmgeschichte, die »Treppenszene von Odessa«. Man sieht Soldaten, die, oftmals in Großaufnahme, anonymisiert und auf ihr Gewaltpotenzial reduziert sind. Die Menschen rennen die riesige Steintreppe am Hafen hinunter. Manche brechen zusammen, bleiben liegen und werden überrannt. Die Soldaten marschieren im Gleichschritt über die Körper hinweg. Immer wieder wechselnd zeigen totale und halbtotale Einstellungen die Masse und Nahaufnahmen Einzelne. Das Schnitttempo steigert sich, dazu eine stetig anschwellende Musik, Trommelschläge imitieren die Gewehrsalven.

Ein Junge wird getroffen. Mit dem Körper des toten Kindes im Arm, steigt die Mutter langsam aufwärts den Soldaten entgegen. Sie schießen ungerührt. Eine andere Mutter mit Kinderwagen kommt ins Bild. Sie wird getroffen, ihrer Hand entgleitet der Griff. Den die Treppe hinunterrollenden Kinderwagen begleitet der Film mit Nahaufnahmen des weinenden Babys, Bildern mordender Soldaten und blutender Gesichter. Am Ende stürzt der Wagen um und in den Sturz hinein schneidet Eisenstein Großaufnahmen eines Kosaken, der im Blutrausch mit seinem Säbel zuschlägt.

Von da an wartet der Betrachter nur noch auf eine Reaktion. Sie kommt. Das Geschützrohr des Panzerkreuzers dreht sich – in starkem Kontrast zu den schnellen Massakerszenen – langsam in Richtung Stadt und feuert auf den Sitz des Generalstabs im Theater von Odessa. Rauch steigt auf. Am Schluss meutern auch die Besatzungen weiterer Schiffe. An den Masten flattern die roten Fahnen der Revolution.

Eisenstein inszenierte mit diesem Film ein eindrucksvolles Historiengemälde einer Revolution, die zwar noch nicht erfolgreich war, aber die Voraussetzung für den Sieg der Oktoberrevolution 1917 schuf. Die überwältigende Wirkung seiner Komposition verdankt der Film einer Darstellung, bei der es Sergej M. Eisenstein gelang, Partei zu ergreifen für die Revolutionäre des Jahres 1905 und gleichzeitig das Publikum mit Hilfe seiner Bildersprache, der damit ausgelösten Gefühle und Empfindungen auf die Seite der unterdrückten Massen und der Revolutionäre zu ziehen.

Die Kunst der Revolution erzählt von der Befreiung der Unterdrückten. Deshalb hat selbst 100 Jahre nach der Uraufführung der Film »Panzerkreuzer Potemkin« nur wenig von seiner Wirkungskraft verloren, auch wenn der soziale Kontext heute ein anderer ist.

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