Kein Ende in Sicht in Tokio
Von Igor Kusar, Tokio
Die Stimmung in Japan hat sich im Jahr 2025 weiter eingetrübt. Die wirtschaftlichen Boomjahre liegen nun schon 35 und mehr Jahre zurück, danach folgte Stagnation auf Stagnation – ein Ende ist nicht in Sicht. Vor allem bei den Jungen grassiert die Zukunftsangst: Sorge Nummer eins sind die Sozialsysteme in einer überalterten Gesellschaft. Aber auch die prekäre geopolitische Lage drückt aufs Gemüt. Zusätzlich haben steigende Preise und fallende Reallöhne nach der Coronapandemie die Situation vieler Japaner weiter verschlechtert.
Diese Entwicklung scheint 2025 eine Schmerzgrenze erreicht zu haben – die Unzufriedenheit hat sich auf die Politik ausgewirkt. Die Liberaldemokratische Partei (LDP), Japans konservative Dauerregierungspartei, verfehlte zusammen mit Juniorpartner Komeito nach den Unterhauswahlen vom vergangenen Jahr auch bei den Oberhauswahlen in diesem Sommer die Mehrheit. Die bereits seit längerem durch Wählerflucht ihrer ländlichen Stammklientel geschwächte Partei verliert auch bei der wohlhabenderen städtischen Mittelschicht immer mehr an Rückhalt.
Der neoliberale Teil ihrer Politik ist in den vergangenen Jahren durch Skandale immer deutlicher sichtbar geworden. »Viele ihrer Volksvertreter haben den Wahlkreis vom Vater geerbt und betrachten Politik als Familiengeschäft«, sagte der bekannte Verfassungsrechtler Kobayashi Setsu im Mai gegenüber jW. Spenden werden mit Klientelpolitik belohnt, dabei spielen die globalen japanischen Konzerne eine immer größere Rolle. Das Resultat: sinkende Unternehmenssteuern, steigende Firmensubventionen und -gewinne – sowie steigende Konsumsteuern, um die Löcher im Staatshaushalt zu stopfen.
Doch noch kann sich das Wahlvolk nicht dazu durchringen, die jetzige Opposition – etwa die Mitte-links-Parteien – an die Macht zu lassen. »Die meisten ihrer Parlamentarier ruhen sich auf ihren Mandaten aus und führen ein gutes Leben – mehr wollen sie nicht«, kommentierte Kobayashi. Einen wirklichen Ausstieg aus der neoliberalen Politik mit richtiger Umverteilung sehen die Programme der Mitteparteien trotz anderweitiger Beteuerungen nicht vor. Dieser fehlende Enthusiasmus ist bei den Wählern nicht unbemerkt geblieben. Auch zum Beharren der LDP auf dem Militärbündnis mit den USA hat die Opposition keine wirkliche Alternative anzubieten.
Deshalb wird Japan immer noch von den Liberaldemokraten regiert, wenn auch im Oberhaus in einer Minderheitskoalition. Nur der bisherige Premier Ishiba Shigeru wurde im Oktober durch die rechte Hardlinerin Takaichi Sanae ersetzt. Seit ihrer Amtsübernahme befindet sie sich – anders als ihre Partei – in einem Umfragehoch. Dies hat mehrere Gründe: Als erste Frau auf diesem Posten startete sie mit viel Vorschusslorbeeren. Sie hat sich sofort das Image einer starken und umtriebigen Politikerin zugelegt, das sich klar von demjenigen des Zauderers Ishiba abhebt. Und durch eine riesige Fiskalspritze – ein bewertetes Rezept ihres Ziehvaters Abe Shinzo – kann sie von den Unzulänglichkeiten ihrer Wirtschafts- und Sozialpolitik ablenken. Dass dieser Stimulus großteils durch zusätzliche Staatsschulden finanziert wird, die für weitere Unruhe auf den Finanzmärkten sorgen, ist der Bevölkerung viel zuwenig bewusst.
Zudem hat sie mit ihrer harten Haltung gegen China bei vielen einen Nerv getroffen: Fast neunzig Prozent der Japaner sehen laut Umfragen die Volksrepublik in einem negativen Licht, ausgelöst durch eine Mischung aus Angst, Dünkel sowie alten und neuen Minderwertigkeitsgefühlen. Die Beziehungen begannen sich abzukühlen, als Takaichi Anfang November erklärte, ein Überfall Chinas auf Taiwan könnte ein militärisches Eingreifen Tokios nach sich ziehen. Obwohl es sich dabei um einen verbalen Ausrutscher handelte, der wohl nicht geplant war, liegt das Statement voll in der Logik der jüngsten Ereignisse: So schlug Takaichi etwa im April bei ihrem Besuch Taiwans eine Zusammenarbeit in Sicherheitsfragen vor. Und als Premierin umgibt sie sich mit Taiwan-Falken wie dem Vizeparteichef Aso Taro.
Obwohl ein Vorgehen Japans ohne die USA in der Taiwan-Frage ausgeschlossen ist – was der alten Position Tokios entspricht – und Japans Verantwortliche nicht müde werden, dies gegenüber China zu beteuern, zeigt sich Beijing weiterhin tief erbost und verlangt die Rücknahme der Aussage. Besonders vom Nachbarstaat will es sich in dieser Angelegenheit nicht reinreden lassen, denn aus Sicht Chinas begann die Taiwan-Problematik mit der japanischen Kolonisierung der Insel 1895. Nach Takaichis Lapsus hat sich die Stimmung hochgeschaukelt. Die jüngste Eskalationsstufe war Anfang Dezember erreicht, als chinesische Militärjets Tokio zufolge japanische Jagdbomber ins Visier ihrer Radarschirme nahmen.
Wie lange sich Takaichi im Sattel halten wird, ist in Japan umstritten. Ihre Politik ist auf Sand gebaut. Ein längerer Streit mit China wird das Land teuer zu stehen kommen. Und über kurz oder lang wird die Premierin die Sozialleistungen weiter kürzen. Spätestens dann werden ihre Popularitätswerte zu purzeln beginnen.
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