Israel schuldig gesprochen
Von Dieter Reinisch, Istanbul
In der Gründungserklärung des Gaza-Tribunals heißt es, Gaza stellt »einen Wendepunkt in der Geschichte der Menschheit dar, an dem ein globales System herrscht, das auf Macht statt auf Gerechtigkeit basiert«. Vier Tage lang tagte die letzte öffentliche Plenarsitzung des Tribunals an der Universität im historischen Stadtzentrum von Istanbul. Am Sonntag wurde Israel von einer fünfköpfigen Jury formell schuldig gesprochen: »Die systematische Vorenthaltung von Nahrungsmitteln, Medikamenten und humanitärer Hilfe« stelle »eine Instrumentalisierung des Hungers dar – ein Mittel zur Massenbestrafung, das gegen die gesamte Zivilbevölkerung eingesetzt wird«. In Verbindung »mit der Verweigerung medizinischer Versorgung und der Zwangsumsiedlung« stellten diese Maßnahmen »kollektive Bestrafung und Völkermord dar«.
»Ermutigt durch den Präzedenzfall Südafrikas« und der damaligen Antiapartheidkampagne wurde das Tribunal 2024 gegründet, um »die Zivilgesellschaft für ihre Verantwortung und ihre Möglichkeit zu sensibilisieren, Israels Völkermord in Gaza zu stoppen«. Den Vorsitz hat der ehemalige UN-Sonderberichterstatter zur Menschenrechtssituation in den palästinensischen Gebieten, Richard Falk: »Wir erleben das völlige Versagen der organisierten internationalen Gemeinschaft, das Völkerrecht im schwersten und sichtbarsten Fall von Völkermord in Echtzeit umzusetzen«, kritisiert er. Auch Mitorganisator Ahmed Köroğlu, Politikwissenschaftler an der Universität Istanbul, sieht die internationale Solidarität mit Palästina in der Tradition des Kampfes gegen die Apartheid in Südafrika. Anstoß habe die Klage Pretorias beim Internationalen Gerichtshof in Den Haag im Januar 2024 gegeben, erklärte Köroğlu gegenüber jW.
Seit seiner Gründung in London hat das Tribunal bis zu diesem Wochenende sechsmal getagt, zuletzt im Mai in der bosnischen Hauptstadt Sarajevo. Seither gab es Arbeitsgruppensitzungen, darunter eine am Rande der UN-Vollversammlung in New York im September. Jeff Halper, Professor für Anthropologie an der Universität Haifa, sprach sowohl in Sarajevo als auch am Donnerstag, dem ersten Tag der Sitzung in Istanbul: »Das Gaza-Tribunal versucht, die Stimme des Volkes hinsichtlich internationalen Rechts und Gerechtigkeit in bezug auf Gaza und die Palästinenser zu Gehör zu bringen. Ein großer Teil der Aufmerksamkeit richtet sich hier auf Verbrechen: Hungersnot, Hauszerstörung und Folter«, berichtete Harper im jW-Interview. Er habe in seinem Vortrag die Perspektive erweitern wollen und sei daher auf die Rolle des Siedlerkolonialismus eingegangen.
In einer Videobotschaft am Freitag betonte der britische Parlamentarier Jeremy Corbyn, der Krieg gegen Gaza sei »nach allen bekannten Maßstäben ein klarer Fall von Genozid«. Er berichtete von einem Gaza-Tribunal, das er selbst im September in London veranstaltet hatte. Auch in Berlin fand an diesem Wochenende ein solches Forum statt. Während derartige Tribunale das Augenmerk auf die Komplizenschaft am Genozid der jeweiligen nationalen Regierungen legen, ist das Ziel des Gaza-Tribunals nach Richard Falk, die Mittäterschaft der internationalen Organisationen aufzuzeigen. Falk ist der Autor eines kürzlich erschienenen Buchs, in dem er die abnehmende Handlungsfähigkeit der Vereinten Nationen aufzeigt und kritisiert. Das Tribunal sehe er als einen Baustein zur Errichtung einer neuen internationalen Ordnung durch die Bürger: »Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden nur die Verbrechen der Verlierer verfolgt.« Die Siegermächte hätten in der neuen Weltordnung das Vetorecht bekommen, wodurch sie »die juristische Möglichkeit erhielten, internationales Recht zu ignorieren«, betonte Falk in einem Seminar am Rande des Tribunals.
Aus diesem Grund könne man sich nicht auf mächtige Staaten verlassen, um die Verbindung von »internationalem Recht, Vernunft und Moral aufrechtzuerhalten«, erklärte er: »Genauso wie damals das Russell-Tribunal gegen den Vietnamkrieg« möchte das Gaza-Tribunal »den Menschen sagen, was wirklich passiert«. Das Russell-Tribunal hatte damals entscheidenden Einfluss auf die Antikriegsbewegung und das wünsche sich Falk auch heute: »Internationale Solidarität half, die stärkere Militärmacht in die Knie zu zwingen.« Falk hofft, dass das durch die Ergebnisse des aktuellen Gaza-Tribunals ebenfalls gelingen wird.
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