»Die Reaktion war äußerst aggressiv«
Interview: Carmela Negrete
Sie lehren in Bologna politische Theorie und beteiligen sich an palästinasolidarischen Protesten in Italien. Was hat Sie vor einigen Tagen nach Berlin geführt?
Ich war hier, um an einer öffentlichen Veranstaltung der Onlinezeitung Berliner Gazette teilzunehmen. Das zentrale Thema war die Frage, wie sich Kämpfe gegen den Krieg und ökologische Kämpfe miteinander verbinden lassen. Ich hatte dazu bereits mit Brett Neilsson einen Beitrag für die Gazette geschrieben, in dem wir die Frage stellen, wie sich heterogene Bewegungen in einem neuen, gemeinsamen Horizont vereinen lassen.
Doch bevor ich nach Berlin kam, entstand in Italien eine unerwartete soziale Bewegung. Innerhalb weniger Wochen kamen Kriegsgegner, ökologische Bewegungen, feministische und studentische Gruppen in einer Welle der Solidarität mit Palästina zusammen. Die »Global Sumud«-Flottille war Auslöser dafür. Diese Mobilisierung ging weit über frühere Solidaritätsaktionen hinaus, sowohl in ihrer Größe als auch in ihrer Vielfalt.
Wie hat sich die Palästina-Solidarität konkret gezeigt?
Besonders bemerkenswert waren zwei politische Generalstreiks, am 22. September und am 3. Oktober. Ich kann mich nicht erinnern, dass es in Italien je zwei politische Generalstreiks so kurz nacheinander gegeben hat. Wichtiger war, dass sie sich deutlich von den traditionellen Gewerkschaftsdemonstrationen unterscheiden.
Was war bei diesen Streiks anders als bei denen, die die Gewerkschaft organisiert?
Auf den Straßen waren vor allem junge Menschen, Schüler, Studierende, feministische und ökologische Bewegungen. Die Zusammensetzung war ausgesprochen heterogen. Die zentrale Losung lautete: »Blocchiamo tutto« – »Wir blockieren alles«. Straßen, Bahnhöfe, Häfen und Flughäfen wurden besetzt oder lahmgelegt. Besonders in Städten wie Genua und Livorno beteiligten sich auch Hafenarbeiter aktiv an den Protesten.
Sehen Sie das Potential für einen politischen Wandel in Italien?
Die Empörung über das, was viele als Völkermord in Palästina ansehen, war zweifellos ein zentrales Motiv. Aber Palästina ist auch ein Spiegel, in dem viele, vor allem junge Menschen die Gewalt und Ausbeutung ihrer eigenen Lebensbedingungen wiedererkannt haben. Es ist eine kollektive Sensibilität gegenüber globalen Ungerechtigkeiten entstanden. Die große Frage, die wir uns nun stellen, lautet: Wie kann diese Bewegung ihren Fokus behalten und zugleich andere Themen einbeziehen?
Wie reagiert die Regierung auf diese Bewegung?
Die Reaktion war äußerst aggressiv. Giorgia Meloni ist wahrscheinlich die europäische Regierungschefin, die Donald Trump am nächsten steht. Die Regierung hat versucht, die Proteste zu diskreditieren und politisch zu isolieren. Gleichzeitig hat die Bewegung in weiten Teilen der italienischen Gesellschaft breite Solidarität erfahren – auch von Menschen, die sonst nicht an Demonstrationen teilnehmen. Ich war bei einer großen Blockade der Autobahn in Bologna. Normalerweise reagieren Autofahrer in solchen Situationen wütend. Dieses Mal hupten viele zustimmend, winkten oder bekundeten offen ihre Unterstützung.
Kann diese Bewegung der Regierung gefährlich werden?
Ich wäre vorsichtig. Viele rufen »Meloni dimissioni« – »Meloni, tritt zurück«. Aber große soziale Bewegungen haben nicht zwangsläufig eine unmittelbare Wirkung auf der Wahlebene.
Welche Bedeutung hat das offizielle Waffenstillstandsabkommen in Gaza für die Bewegung?
Es verändert die Situation. Es gibt Leute, auch an den Universitäten, die nun sagen, es sei Zeit, zur Normalität zurückzukehren. Aber viele wissen, dass dieser »Waffenstillstand« kaum eingehalten wurde und die Perspektive des Friedens sehr unklar bleibt. Deshalb versuchen viele, den Kampf weiterzuführen, nicht nur für Palästina, sondern für eine breitere politische Transformation.
Sandro Mezzadra ist Professor für Politische Theorie an der Universität Bologna. Er forscht zu Migration, Arbeit und sozialen Bewegungen
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