Kampf der Stoffwechsel
Von Felix Bartels
Tour de France heißt große Duelle. Bartali – Coppi, Anquetil – Poulidor, Merckx – Zoetemelk, Zoetemelk – Hinault, Hinault – Fignon, Fignon – Lemond, Ullrich – Armstrong. Während Bobet, Indurain oder Froome es jedes Jahr mit neuer Konkurrenz zu tun bekamen, haben die genannten Paare je ihre Zeit dominiert. Nie allerdings gab es ein Duell wie Jonas Vingegaard gegen Tadej Pogačar.
Vier Jahre am Stück konnten die beiden ungestört Rang eins und zwei unter sich ausmachen, und viel spricht dafür, dass sich das auch dieses fünfte Mal in Folge nicht ändern wird. So gleich Pogačar und Vingegaard in der blanken Tretleistung sind, so stark divergiert ihr Herangehen an die Tour. Pogačar ist der kompletteste Fahrer im Peloton, er kann und gewinnt alles. Grand Tours, Major Tours, Etappen, Zeitfahren, Eintagesrennen. Präzis kalkuliert man in der Saisonplanung die Zahl der Renntage, an denen er das Maximum abrufen kann. Wo er antritt, fährt er auf Sieg. Vingegaard ordnet alles der Tour unter, meidet etwa das Risiko, bei Frühjahrsklassikern Körner zu verlieren. Wahrscheinlich hätte er breiter aufgestellt die Tour nicht zweimal gegen Pogačar gewinnen können. In sechseinhalb bislang absolvierten Profisaisons hat Pogačar 99 Siege geholt, Vingegaard in derselben Zeit 38. 70.834 Rennkilometer stehen 59.726 gegenüber, womit Pogačar auf 29,4 PCS-Ranglistenpunkte pro 100 Rennkilometer kommt, Vingegaard auf 14,9. Pogačars Punkte verteilen sich nach Segmenten ausgeglichen: Eintagesrennen 37,9 Prozent – Klassement 33,2 – Etappen 27,3. Vingegaard: 3,6 – 56,5 – 38,2.
Öfter, aber knapper
Geboren wurde die Grand-Tour-Ausnahme Pogačar 2020, als er auf der vorletzten Etappe im Bergzeitfahren Primož Roglič 1:56 Minuten abnahm und seine erste Tour gewann. Seither hat er fast jede Rundfahrt, zu der er antrat, gewonnen. 14 von 17, genau zu sein. Lediglich im Baskenland 2021 belegte er den dritten Platz, 2022 und 2023 bei der Tour wurde er zweiter hinter Vingegaard. Beide konnten zwei der vier Tourduelle für sich entscheiden. Die wird bekanntlich am Berg entschieden, und der Direktvergleich der Hochgebirgsetappen ist aufschlussreich. Insgesamt 35 Duelle endeten 16mal ohne Zeitverlust, sechs konnte Vingegaard für sich entscheiden, Pogačar 19. Dennoch ergibt die Verrechnung aller Abstände nicht mehr als 1:05 Minuten zugunsten Pogačars. Er gewann also öfter, doch mit geringeren Abständen. Vingegaard, heißt das, war konstanter. Bei seinen Auftritten bislang hat er keinen echten Einbruch erlitten, anders als Pogačar auf der elften Etappe 2022 (2:51), wo er sich falsch ernährt hatte, und auf der 16. und 17. Etappe 2023 (7:23), wo er an einer Infektion litt.
Wann immer es geht
Die Tour gewinnt, wer Berg- und Zeitfahren kann, mental stark ist, Positionskampf und Taktik beherrscht. Und wer ihr sein ganzes Leben unterstellt. Training, Ernährung, Schlaf, Erholung als Wissenschaft. Am wichtigsten bei einer dreiwöchigen Rundfahrt ist physische Resilienz. Infektionen sind manchmal Pech, oft aber Symptom eines bereits geschwächten Körpers. Vingegaard hat sich hier in den letzten Jahren als flawless erwiesen. Pogačar, mit anderen Worten, kommt besser den Berg hoch, Vingegaard kam besser durchs Gebirge.
Daraus ergibt sich die Fahrweise. Wie Froome, Ullrich, Armstrong oder Indurain legt Vingegaard auf ein bis zwei Etappen mit großen Abständen die Grundlage und schont dann seine Kräfte. Pogačar attackiert, wann immer es geht, er sammelt Sekunden, bis im Klassement Minuten stehen. Die Angriffslust macht ihn beim Publikum beliebt, doch er will nicht nur, er muss so fahren. Auf die Straße gebrachte Tretleistung misst sich in Watt. Wo Höhenmeter im Spiel sind, ist die Maßeinheit Watt pro Kilogramm Körpergewicht genauer, da Muskeln nicht nur Kraft, sondern auch Gewicht bedeuten. Körperkraft und Körpermasse müssen in idealem Verhältnis stehen, Kontrolle über das Rad, Fahrtechnik, Sitzposition, Hebelverhältnis von Ober- und Unterschenkel bedingen, wieviel der getretenen Kraft als Watt in die Straße geht oder sonstwohin. Doch auch das ist nicht genau genug. Seit einiger Zeit gibt es die Functional Threshold Power (FTP). Die Messgröße verrät, welche Leistung ein Athlet 60 Minuten lang aufrechterhalten kann, ohne die anaerobe Schwelle zu übertreten, jenseits der die Muskeln schwer werden. In den großen Anstiegen kommen Pogačar und Vingegaard in den Bereich von 70 W/kg/h, was gelinde gesagt krass ist. Gleichwohl bleibt die Messung redundant, man errechnet, was man ohnehin sieht: Geschwindigkeit bei Steigung und Körpergewicht. Warum ein Athlet solche Leistungen abrufen kann, lässt sich so nicht ermitteln.
Dafür wird die VO2max bemüht, die Fähigkeit, Sauerstoff während intensiver Anstrengung aufzunehmen. Vingegaards VO2max soll die höchste sein, die je bei einem Fahrer gemessen wurde, 97 Milliliter O2 pro Minute pro Kilogramm Körpergewicht. Bei Pogačar hat man Werte um 90 gemessen. Warum gewinnt er dann öfter gegen seinen Rivalen? Inigo San Millán, Professor für Zellbiologie in Colorado und damals Pogačars Trainer bei UAE, hat darauf hingewiesen, dass es nicht allein darum gehe, wieviel Sauerstoff man den Zellen zuführen kann. Die heute nachweisbaren Dopingmethoden Epo und Eigenblut hatten so funktioniert: Die Menge Sauerstoffs sollte gesteigert werden durch Erhöhung des Hämatokritwerts. »Viel wichtiger ist aber, wie gut der Sauerstoff von den Mitochondrien in den Zellen verwertet wird«, sagt San Millán. Seit Jahren ist Pogačars Training am Stoffwechsel orientiert, mit Schwerpunkt auf die Muskelfasern Typ I, die reich an Mitochondrien sind, vor allem auf Fette zurückgreifen und Kohlenhydratspeicher schonen.
Ein weiterer Baustein ist die Fähigkeit zum Abbau von Laktat. Der vom Körper bei hoher Anstrengung gebildete Stoff hat einen schlechten Ruf, weil bei seiner Produktion im Nebenprodukt Stoffe entstehen, die die Muskeln ermüden lassen. Wer Sport treibt, weiß, wie sich das anfühlt: Beine werden schwer, sauer und brennen. Und ist diese anaerobe Schwelle einmal übertreten, wird die Aufrechterhaltung der Leistung schwerer als zuvor. Doch Laktat sorgt als Hauptbrennstoff des Körpers für leistungsfähige Muskeln. Es kommt also darauf an, dass ein Körper zugleich eine hohe Laktatproduktion hat wie auch die Fähigkeit, den Stoff schnell wieder abzubauen. Ziel des Ausdauersportlers ist die hohe, anhaltende Leistung auch im anaeroben Bereich, gegeben mit der Fähigkeit zum schnellen Abbau von Laktat, die wiederum mit der Funktion der Mitochondrien zusammenhängt. In der Hinsicht scheint Pogačar seinem Konkurrenten Vingegaard überlegen, und das lässt sich an der Renntaktik nachvollziehen.
Auf Fehler angewiesen
Da er Laktat viel schneller abbauen kann als andere Fahrer im Feld, kann er sich innerhalb eines Rennens, sogar innerhalb eines Anstiegs, schneller von starken Antritten im anaeroben Bereich erholen. Pogačar braucht etwa zwei bis drei Minuten, wenn seine Konkurrenten etwa 20 benötigen. Dieses biometrische Profil setzt ihn in die Lage, mehr Attacken zu fahren und mehr Attacken zu parieren. Er bestreitet Anstiege nicht als beharrliches Ausscheidungsfahren, er zermürbt die Konkurrenz durch explosive Antritte, von denen er sich schneller als sie erholt. Er kann spät attackieren, weil er auch auf den letzten Metern noch imstande ist, scheinbar mühelos um die 15 Sekunden herauszufahren. Oder er attackiert früh und kann dann einen Vorsprung von vielleicht 35 Sekunden über viele Bergkilometer hinweg halten. Sein Unterschied zur Konkurrenz liegt nicht auf jeder Etappe, die er gewinnt, in einer konstant höheren Tretleistung, sondern in der Fähigkeit, für einen kurzen Zeitraum deutlich höhere Leistung zu treten und dann unbeeinträchtigt auf das Level des Rivalen zurückzukehren. Nur selten – ein-, höchstens zweimal bei einer Grand Tour – siegt Pogačar mit Abständen über anderthalb Minuten. Dafür siegt er deutlich öfter.
Die kommenden Jahre werden zeigen, ob Vingegaard einen Weg findet, diese Lücke zu schließen. Einstweilen bleibt er abhängig davon, dass Pogačar vermeidbare Fehler macht: Stürze, Trainingsrückstand, falsche Ernährung, taktische Missgriffe.
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