Paranoia aus der Maschine
Von Detlef Kannapin
In ihrer ersten Zusammenarbeit als Autorenduo legten Markus Metz und der schon seit Jahrzehnten sehr produktive Georg Seeßlen im Jahre 2002 eine Abhandlung zur medialen Darstellung des Krieges im Nachklang der Terroranschläge in den USA am 11. September 2001 vor. Ihr Fazit: »Ein Krieg, der kein Subjekt und kein Objekt mehr kennt, keine Kriegserklärung und kein Kriegsziel, der hat, nachdem auch ein ›Sieg‹ nicht eigentlich mehr von Bedeutung ist, vor allem eins als Sinn: sich selbst.«¹ Ohne es vielleicht zu intendieren, ist diese Aussage der Moment der Ballabgabe im analytischen Kosmos der imperialistischen Konstitution unserer Tage gewesen, die mit zivilisatorischer Degeneration, Barbarei und Verantwortungslosigkeit noch harmlos umschrieben ist.
Unser heutiger Imperialismus ist deshalb ein Spätimperialismus, weil ihm tragende Säulen der vormals selbst geglaubten und gelebten »Vorwärtsverteidigung« abhandengekommen sind: Es gibt in ihm keine Perspektive, kein angebliches Wohlstandsversprechen, kein anzustrebendes politisches Projekt, keine ideologische Grundidee, kein kulturelles Konzept und keine Seinsgewissheit mehr – statt dessen nur noch Sicherung des Status quo durch permanentes Kriegsregime, Aufkündigung von Aufklärung und universalem Humanismus, Ersetzung der zerstörten Biosphäre durch digitale Hilfsräume, Retheologisierung und Verschwörungsdenken.
Das schafft Ablenkung und ist Zeitvernichtung, alles Gute für das Personenlexikon des Profitratenaufrechterhaltungskartells von Bertelsmann bis Thiel. Wie bei Thanos nach der Halbierung der Bevölkerung im Marvel-Multiversum blickt der Spätimperialismus in die Abendröte seines Untergangs und weiß mit seiner Macht nichts anzufangen. Keine gute Nachricht für diejenigen, die darunter zu leiden haben. Metz und Seeßlen haben schon 2002 mit ihrer Kriegsbeschreibung mehr analytischen Tiefsinn in die Diskussion eingebracht als die meisten sogenannten Experten und Analysten (eigentlich ja Analytiker) zu den Fragen der Zeit.
Drei Anekdoten
Und sie sind dabei nicht stehengeblieben. 2011 erschien eines der wichtigsten deutschsprachigen Bücher zur alles entscheidenden Fragestellung, warum Menschen in komplexen kapitalistischen Gesellschaften so handeln, wie sie handeln. Das Buch heißt »Blödmaschinen. Die Fabrikation der Stupidität« und enthält alles, was man im Erscheinungsjahr in der Übergangsphase von halbwegs »neuen Medien« mit hohem Anteil traditioneller Medien (Zeitung, Kino, Radio, Fernsehen) zu halbwegs »sozialen Medien« (Smartphone etc.) wissen musste, um herrschaftskritisch im Bilde zu sein.
Um die »Blödmaschinen« ranken sich drei schöne und gleichzeitig bezeichnende Anekdoten. Die erste: Ein bekannter Verleger begegnete meinem Hinweis auf dieses Buch mit dem Ausruf: »Suhrkamp ist doch selber eine Blödmaschine.« Die Aussage ist nicht ganz unberechtigt, denn im Suhrkamp-Verlag publizieren ja auch Fachfiguren wie der einfältige Heidegger-Imitator Sloterdijk und andere, die mit Sicherheit alsbald vergessen sein werden. Aber eben nun auch Metz und Seeßlen neben der Kritischen Theorie und ihren eher kleine Brötchen backenden Epigonen. Es war das erste Buch der beiden bei Suhrkamp, es sollte glücklicherweise nicht das letzte sein.
Die zweite Anekdote: Ein anderer bekannter Verleger meinte auf meine Frage, ob man sich nicht einmal bemühen solle, eine Werkausgabe Seeßlens in Erwägung zu ziehen, dass dies ein hoffnungsloses Unterfangen wäre, da es von Seeßlen (und Metz) zu viel Material gäbe. Also: Mindestens eine Auswahl wäre schon sinnvoll. Denn auch nachfolgende Generationen sollten wissen, was die populäre Kultur so alles dem Faschismus entlehnt hat, warum Fernsehgeschichte vor allem Familiengeschichte ist, wieso Volkstümlichkeit ein gnadenloses Konzept der verfolgenden Unschuld ist, wie sich Freiheit und Kontrolle im Spätimperialismus zueinander verhalten und warum sich die Fabrikation der Stupidität zur Fabrikation politischer Paranoia erweitert hat.
Dritte Anekdote: Nach Erscheinen und Lektüre der »Blödmaschinen« versuchte ich 2012 in meiner Eigenschaft als medienpolitischer Referent der Fraktion Die Linke im Bundestag in einem dafür zuständigen Arbeitskreis eine Diskussion über einige Thesen des Buches anzuregen. Zu diesem Zweck las ich den Abschnitt »Vom Überleben in der Mediengesellschaft« vor, der auf kompakte Weise die Bandbreite der Medienverwendung und Medienrezeption anhand einer fiktiven bürgerlichen Kleinfamilie schildert.² Die erzählte Geschichte geht so: Der jüngste Sohn fragt nachfolgend Vater, Mutter, größeren Bruder und größere Schwester danach, was eine Mediengesellschaft ist. Antworten erhält er zunächst keine, da alle mit Medien beschäftigt sind, der Vater mit der Zeitung, die Mutter mit dem Radio, der Bruder mit dem Netz, die Schwester mit dem I-Pod. Nach getanem Konsum kommen alle zu ihm und versuchen ihm doch noch Antworten zu geben. Aber der Junge glaubt nun nichts mehr, da sich erwiesen hat, dass seine Frage höchstens nachgelagert und als direkte Kommunikation offenbar nicht so viel wert ist wie die medial fremdvermittelte. Den Erwachsenen und Größeren wie denn auch den Journalisten fehlt sichtlich der wichtigste Rohstoff vernünftiger Kommunikation: Phantasie. (Übrigens der gleiche Hinweis, den Karl Kraus schon vor dem Ersten Weltkrieg im Angesicht des technoromantischen Zeitalters vorbrachte – für ihn der Schlüssel zur Entfesselung dieses Krieges.)
Nun muss man wissen, dass solche Arbeitskreise in Institutionen wie Behörden, Firmen oder eben Parteien ursprünglich dazu gedacht waren, auch inhaltlich zu argumentieren und Strategien zu erörtern. Mein Plan war, aus den Fallen der Ideologie der Medienabhängigkeit sowohl für die traditionellen wie für die aufkommenden digitalen Medien auszubrechen und daran zu erinnern, dass Medienpolitik darin zu bestehen hat, die Struktur der Medien als Ganzes in Frage zu stellen und (sofern kein vernunftstaatliches Handeln den Rahmen für Aufklärungsmedien darstellt) ihrer Ideologie in der Materialität (oder im Wesen) der Medien als Gewerbe substantiell entgegenzutreten. Die Antwort der politisch Verantwortlichen des Arbeitskreises III der Fraktion Die Linke im Bundestag lautete 2012: »Lesen können wir selber.« Punkt. Was sie aber offensichtlich in den darauffolgenden dreizehn Jahren nicht getan haben, denn eine linke Medienpolitik im Sinne emanzipatorischer Veränderung kommt dort nicht vor.³
Fabrikation der Stupidität
In Gesellschaften mit dem Strukturprinzip des Privateigentums an Produktionsmitteln und dem Zwang der Profitmaximierung sind die Medien als Transportmittel von Information und Ideologie logischerweise dem gleichen Prinzip unterworfen. Das gilt auch dort, wo Staatsferne als politische Aufforderung und die öffentlich-rechtliche Verfasstheit dies eigentlich ausschließen. Der behauptete Idealzustand war im Kapitalismus immer mit der Heuchelei verbunden, sich selbst als »vierte Gewalt« im Staate zu bezeichnen, obwohl ebendieser Staat als Integrationsfaktor zur Aufrechterhaltung des Privateigentums diese beanspruchte Funktion schon per definitionem ausschließt. Die privaten Medien und erst recht die Plattformmedien sind viel deutlicher Medien sui generis im Kapitalsinne, die Ideologiehaftigkeit der öffentlich-rechtlichen Medien ist dadurch aber nicht suspendiert.
Metz und Seeßlen erforschten also 2011 im ersten Band von »Blödmaschinen«, warum Medien zu den wichtigsten Treibern einer Verhaltenspassivität geworden sind. Je irrationaler das System, das sie verkörpern und visualisieren, um so irrationaler muss auch das sein, was die Anschauung des Systems hervorbringt: Blödheit als adäquate Verbindung von Dummheit und Benommenheit. Bezüglich der Selbsterhaltung der Individuen im System ist Blödheit nicht weiter gefährlich, da die Reproduktion der eigenen Spezies dadurch nicht bedroht ist. Dummheit wird auch nicht verstanden als elitäre Anmaßung mangelnder Intelligenz bei anderen oder der Masse. Dummheit ist vielmehr Ideologie als gesellschaftlich notwendig falsches Bewusstsein im Sinne von Marx, die zur Beharrung im System und zur Unveränderlichkeit gesellschaftlicher Strukturen führen soll. Zu dieser Art der Dummheit gesellt sich Benommenheit. Wie ein angeschlagener Boxer oder der dauerbesoffene Bauer im Mittelalter, der außer Bier im Winter keine Nahrung hatte, laufen die medial präformierten Medienkunden durch die Welt und fragen sich vermutlich gar nicht erst: »Warum weiß ich das?« – und anderes eben nicht.
Man beachte die Alltagssituation, die hinter der Ablenkung durch Medienprodukte steht. Nicht umsonst sind die Ideologie und Kritik des Alltagslebens zentrale Kategorien einer marxistischen Soziologie, wobei man sogleich anhand des gesamtgesellschaftlichen Gegenwartszustandes die daraus resultierende Frage beantworten kann, warum es aktuell zu diesem Thema keine Forschungen mehr gibt.⁴
Metz und Seeßlen definieren Blödmaschinen als Sozialmaschinen, die uns unfähig gemacht haben, aktiv und selbstbestimmt auf Hilferufe zu reagieren (vom Nachbarn, vom sozialen Mitmenschen und auch global), und die alle kognitiven und semantischen Lebensfelder besetzt halten.⁵ Die alte Kulturindustrie mit der Verrammelung des Überganges in die erweiterte Reproduktion (Verbesserung des Menschen und seines sozialen Umfeldes) verschmilzt mit den Plattformzumutungen, die bestimmen, was wir zu tun und zu lassen haben, und die nicht einmal »mehr Abwechslung mit den gleichen Liedern« anbieten, sondern nur noch dressierte Reflexe.⁶
Es gäbe freilich Möglichkeiten, diesen Ausuferungen der Stupidität auch im Rahmen der gegebenen Herrschaftsordnung zumindest auf Reformbasis zu begegnen, wenn und sofern Vernunftkategorien tatsächlich Einzug in die Praxis der Staatslehre halten könnten. Metz und Seeßlen paraphrasieren das mit dem »freundlichen Staat«, der helfen könnte, Menschen aus den Gewalten der Blödmaschinen, wenn nicht schon zu befreien, dann doch wenigstens den Aktionsradius der Blödheitsdimension einzuschränken. Aber sie sehen an derselben Stelle ein, dass es die Freundlichkeit von Staats wegen nicht gibt und man statt dessen Leute wählt, die so aussehen, als wollten gerade sie mit dem Staat nichts zu schaffen haben.⁷
Dialektik von Freiheit und Kontrolle
Ob es auf dem Weg zur Fortsetzung der Blödmaschinen-Geschichte war oder nicht, lässt sich schwer beurteilen, aber Metz und Seeßlen nahmen 2017 erst einmal einen Umweg über die Rolle des nicht zu Ende befreiten Sklaven in Form einer essayistischen Betrachtung dessen, warum Freiheitsbestrebungen der Unterdrückten oftmals in neuer oder anderer Knechtschaft endeten. Auch hier erlangt die Erkenntnis Gewicht, dass der aufgezeigte Fatalismus strukturelle Gründe hat, die sich weniger aus dem Freiheitswillen und der Kraft der unterdrückten Klassen speisen, sondern es schlicht Macht-, Herrschafts- und Bewusstseinsfragen sind, die entscheiden, ob die Befreiung gelingt oder nicht. Mit Kanonen und Raketen geht nicht alles, aber vieles (und wenn es allein der Angstterror der Einsatzandrohung ist). Zwar entsteht in absolutem Elend mit Sicherheit keine revolutionäre Kampfkraft, aber ganz ohne geistige Beeinflussung durch den Herrschaftsapparat geht es auch nicht. Metz und Seeßlen nennen dies zu Recht ein »kapitalistisches Denken«, ein »kapitalistisches Wahrnehmen, Empfinden und Reflektieren«, auch als Ästhetik, Religion und Spektakel, das die ursprünglich positiven Konnotationen von Freiheit (zu etwas mit dem Vorsatz der Gestaltung) und Kontrolle (über etwas, das schädlich für das menschliche Zusammenleben werden kann) in ihr Gegenteil und in den vollendeten Wahnsinn getrieben hat.⁸ Das funktioniert natürlich nicht ohne die gängige Methodik der Manipulation⁹, aber solche propagandistischen Volten müssen irgendwann in die individuelle und kollektive Verinnerlichung übergehen, wofür die dialektische Spannung aus Staatsversagen, Alltagsstress und psychopathologischer Überforderung als Allianz des unbedingten Unheils gesellschaftsbedingt verantwortlich gemacht werden muss.
Fabrikation der Paranoia
Genau diese Allianz ist nun Gegenstand der aktuellen Aufzeichnung von Metz und Seeßlen, in der sich die Stupidität zum politischen Verfolgungswahn ausgeweitet hat und der schon ausgeschlossene »freundliche Staat« zum »entgesellschafteten Staat« mutiert ist.¹⁰ Obgleich das Buch in seiner Stilistik nahezu bildungsbürgerlich-vorsichtig daherkommt und mit einer katalogisierten pädagogischen Rahmung à la »Was wir wissen wollen« und »Was wir wissen können« aufwartet, machen die Autoren doch unmissverständlich deutlich, dass die formaldemokratische Einkleidung des Kapitalismus im Spätimperialismus in die Krise geraten ist, kurzum: Der Ernstfall eingetreten ist. Das betrifft sowohl die überbordende (Schein-)Akzeptanz von rechten Erzählungen und Mythen sowie die bewusste Wehrlosigkeit der Demokraten dagegen als auch die verheerende Teilnahmslosigkeit gegenüber den katastrophalen Zuständen in der Innen- wie Außenpolitik. Migration und PVAK (»Putins verbrecherischer Angriffskrieg«) sollen vergessen machen, dass das imperialistische Grundprinzip der ungleichmäßigen Entwicklung der Großmächte im Inneren wie im Äußeren, das gesetzmäßig zum Klassenkrieg von oben drängt, schrittweise nun fast überall wieder zu sich selbst gekommen ist. Metz und Seeßlen erkennen auch, Georg Lukács zitierend, dass es keine unschuldige Weltanschauung gibt und die fortlaufende Zerstörung der Vernunft eine entsprechende Vorgeschichte hat, die nicht zuletzt in der Ursprungswesenheit des Zusammenhangs von Kapitalismus und Faschismus bzw. bei Abwesenheit von Sozialismus/Kommunismus in der modernisierten Variante des Zusammenhangs von Neoliberalismus und »postdemokratischer« Aushöhlung der Demokratie begründet ist.¹¹
Weit entfernt davon in das allgemeine Gejaule über angeblich »verengte Meinungskorridore«, über Unsagbares, Denkverbote und »Cancel Culture« einzustimmen, identifizieren die Autoren gerade diesen Katzenjammer als Symptom des diskursiven Verfalls, der sich aus der Perspektivlosigkeit der Gesellschaft ergibt. Gerade heute sagen alle alles; was früher am Stammtisch blieb und in der Kneipenschlägerei beendet wurde, wird inzwischen ins Internet geschrieben oder der Plagiatsjagd übereignet. Da ist es kein Wunder, dass die Maßstäbe völlig verrutschen und die Orientierungslosigkeit zum Allgemeingut geworden ist, womit aus dem »Karoshi für alle« (japanische Bezeichnung für »Tod durch Überarbeitung«) aus dem ersten Band der »Blödmaschinen« eine »Faschisierung der Emotionen und Impulse« entsteht, die in ihrer Gleichgültigkeit (geistige Entsprechung der Äquivalenz jeder Warenform von Schuhen bis zur Napalmbombe) dem Endergebnis des historischen Faschismus in nichts nachsteht.¹² Die Protagonisten der politischen Paranoia denken nicht daran, sich zu Tode zu arbeiten, sondern wollen in der »Work-Life-Balance« lieber Rassisten sein und könnten im Extremfall selbst Hand anlegen, allerdings nicht an sich.
So hat sich etwas entwickelt, das in seinen materiellen und ideellen Verwüstungen überhaupt nicht mehr »demokratisch« einzuhegen ist. Es sind in Ermangelung sozialistischer Vorstellungen und Organisationsformen durch den spätimperialistisch-technologischen Komplex zwei Dreier-Einheiten entstanden, denen gegenüber demokratisches Verhalten machtlos zu sein scheint: »die Einheit von Konservatismus, Populismus und Rechtsextremismus und die Einheit von Erzählgemeinschaft, Interessengemeinschaft und Tätergemeinschaft«¹³. Da ist die »Volksgemeinschaft« nicht weit, und die hat ja bekanntlich ohne politische und lebensweltliche Abweichler stattgefunden. Und zwar seinerzeit ebenso aus der Motivlage der politischen Ökonomie heraus, wie im heutigen rechten Spektrum als Hauptfeind ein »planwirtschaftlicher Staatsbolschewismus« in jedem Gemeindeausschuss herbeihalluziniert wird.
Seismographische Zielsicherheit
Bei allen Illusionen, die Metz und Seeßlen als Restsymptome des Vertrauens in die »Zivilgesellschaft« von unten mitschleppen, ist ihre seismographische Zielsicherheit, mit der sie dem spätimperialistischen Geisteskerker nachspüren, ehrlich und echt. Gewissermaßen handelt es sich bei ihren Untersuchungen um ein vollkommenes Beim-Wort-Nehmen der demokratischen Verheißungen, wonach vor dem Gesetz alle gleich sind und der Gemeinsinn von »One Man – One Vote« tatsächlich existiert. Gleichzeitig entlarven sie diese Module auf ihre deskriptive Weise als pure Ideologie und verwirklichen damit den wissenssoziologischen Anspruch seit Marx, dass im Kapitalismus dessen Verlautbarungen und dessen Realitäten in einem krassen Widerspruch stehen und dieser Widerspruch aus dem Widerspruch von Kapital und Arbeit hervorgeht, der sich im Überbau als Diskrepanz zwischen Behauptung und Tatsache materialisiert. Es muss etwas Tiefgründiges und Unwiderrufliches geschehen sein, wenn die gesellschaftlichen Spaltungen der Gegenwart auch das Wesen der kulturindustriellen Affirmation erreicht haben, die am Beginn ihrer systematischen Konformitätspraxis den Übergang zum Sozialismus verhindern sollte und hat und nun vor der unlösbaren Aufgabe steht, mit den gleichen Passivitätsformeln eine »Verteidigung der Demokratie« zu bewerkstelligen.¹⁴ Das kann nur schiefgehen.
Es ist sehr zu hoffen, dass Markus Metz und Georg Seeßlen noch lange auf diesem Niveau weiterarbeiten und die Fragen stellen, die für eine unbestechliche Zeitdiagnose, die als solche wirklich den Namen verdient, unentbehrlich sind. Noch besser wäre freilich die Erweiterung ihres Denkhorizontes um den staatlichen Hintergrund, der mit vernunftstaatlichen Mitteln eine Grundsteuerung des gesellschaftlichen Zusammenlebens im Sinne einer emanzipatorischen Perspektive organisiert. Dann, und nach jetzigem Stand nur dann, könnte sich das Anliegen vollziehen, mit dem Metz und Seeßlen vorläufig enden: »Es muss einen Reset geben, die Bereitschaft der Kritik an der rechten Bewegung, sich mit einer fundamentalen Kritik an der eigenen Gesellschaft zu verbinden.«¹⁵
Anmerkungen
1 Vgl. Georg Seeßlen u. Markus Metz: Krieg der Bilder – Bilder des Krieges. Abhandlung über die Katastrophe und die mediale Wirklichkeit. Berlin 2002, S. 158
2 Vgl. Metz/Seeßlen: Blödmaschinen. Die Fabrikation der Stupidität. Berlin 2011, S. 403-410
3 Ansätze dazu finden sich in Lukas Meisner: Medienkritik ist links. Warum wir eine medienkritische Linke brauchen. Berlin 2023
4 Die letzten umfassenden waren Henri Lefebvre: Kritik des Alltagslebens. Grundrisse einer Soziologie der Alltäglichkeit. Frankfurt/M. 1987 u. Agnes Heller: Das Alltagsleben. Versuch einer Erklärung der individuellen Reproduktion. Frankfurt/M. 1978
5 Vgl. Metz/Seeßlen: Blödmaschinen (Anm. 2), S. 93 u. 255
6 Vgl. Geert Lovink: In der Plattformfalle. Plädoyer zur Rückeroberung des Internets. Bielefeld 2022
7 Vgl. Metz/Seeßlen: Blödmaschinen (Anm. 2), S. 93
8 Vgl. Markus Metz/Georg Seeßlen: Freiheit und Kontrolle. Die Geschichte des nicht zu Ende befreiten Sklaven. Berlin 2017, S. 448 f.
9 Vgl. dazu Günter Heyden/Dieter Bergner/Gerda Haak u. a.: Manipulation. Die staatsmonopolistische Bewusstseinsindustrie. Berlin 1968
10 Vgl. Markus Metz/Georg Seeßlen: Blödmaschinen II. Die Fabrikation der politischen Paranoia. Berlin 2025, S. 90
11 Ebd., S. 155
12 Vgl. Metz/Seeßlen: Blödmaschinen (Anm. 2), S. 261 u. Metz/Seeßlen: Blödmaschinen II (Anm. 10), S. 128
13 Ebd., S. 330
14 Ebd., S. 80
15 Ebd., S. 345
Markus Metz/Georg Seeßlen: Blödmaschinen II. Die Fabrikation der politischen Paranoia. Berlin 2025, 348 Seiten, 22 Euro
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Franz S. (26. Juni 2025 um 11:14 Uhr)»Unser heutiger Imperialismus ist deshalb ein Spätimperialismus, weil ihm tragende Säulen der vormals selbst geglaubten und gelebten ›Vorwärtsverteidigung‹ abhandengekommen sind«. Dem könnte man entgegnen: Unser heutiger Imperialismus ist deshalb ein Spätimperialismus, weil einer ganz genau weiß, wann der Imperialismus das Zeitliche segnet. Und genau darin liegt das Problem: Legt man den Beginn des modernen Imperialismus um das Jahr 1900 und nimmt an, dass der Imperialismus bis zum Jahr 2300 noch nicht besiegt ist, was man nicht ausschließen kann, dann befänden wir uns aktuell gerade mal im »Frühimperialismus«. In früheren Epochen, als Artikelschreibern noch die Grenze ihres Wissens bewusst war, wäre keiner auf die Idee gekommen, in die Welt hinauszuposaunen: Wir befinden uns jetzt im späten Mittelalter oder in der Spätantike. (…)
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