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Aus: Ausgabe vom 26.06.2025, Seite 3 / Schwerpunkt
NATO-Gipfel

Aufrüstung um jeden Preis

NATO-Gipfel: Die Mitglieder des Kriegsbündnisses werden in Den Haag auf das Fünfprozentziel festgelegt
Von Jörg Kronauer
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Solange das Sterben im Krieg andere trifft, hat auch der britische Premier Keir Starmer noch gut lachen (Rotterdam, 24.6.2025)

Fünf Prozent: Dass die NATO-Mitgliedstaaten ihre Militärbudgets in bislang beispiellose Höhen schrauben werden, war die zentrale Botschaft des am Mittwoch zu Ende gegangenen NATO-Gipfels in Den Haag. 3,5 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts (BIP) wollen sie ab spätestens 2035 unmittelbar in ihre Streitkräfte stecken. Weitere 1,5 Prozent ihres BIP sollen in begleitende Maßnahmen fließen, vom Ausbau der Verkehrsinfrastruktur für den Aufmarsch der Truppen über die Stärkung der sogenannten Cybersicherheit bis zum weiteren Ausbau der Geheimdienste. Das Militärbündnis soll damit, um den Ausdruck von Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) zu nutzen, »kriegstüchtig« werden. Was die abstrakten Prozentsätze konkret bedeuten, lässt sich am Beispiel Deutschland zeigen: Dort soll sich der Wehrhaushalt von knapp 52 Milliarden Euro im vergangenen Jahr auf 152,8 Milliarden Euro verdreifachen – das wäre fast ein Drittel des Bundeshaushalts von 2024. Dabei will Finanzminister Lars Klingbeil (SPD) den Rüstungsstreber geben und den Betrag nicht 2035, sondern schon 2029 erreichen. Hochrüstung geht von nun an eben über alles.

Wozu die fünf Prozent des BIP konkret ausgegeben werden sollen, das stand schon vor dem Haager Gipfel fest, die NATO-Verteidigungsminister hatten es schon auf ihrem Treffen am 5. Juni in Brüssel beschlossen. Es geht darum, die nötigen Waffen für die sogenannten Verteidigungspläne für einen Krieg gegen Russland zu beschaffen, die die NATO auf ihrem Gipfel im Juli 2023 im litauischen Vilnius verabschiedet hatte. Die Pläne sind geheim, insofern ist nicht bekannt, wozu die dreistelligen Milliardensummen im Detail verwendet werden sollen. Ein paar Duftmarken hat NATO-Generalsekretär Mark Rutte nun in Den Haag gesetzt: Die Kapazitäten zur Flugabwehr sollen verfünffacht werden. Das Bündnis wird »Tausende« neue Panzer und gepanzerte Fahrzeuge sowie »Millionen« Schuss Artilleriemunition beschaffen. Fest eingeplant sind alle Mitgliedstaaten. Dass Spaniens Ministerpräsident Pedro Sánchez sich kurz vor dem NATO-Gipfel von Rutte zusichern ließ, sein Land müsse nicht zwingend fünf Prozent des BIP aufwenden, ist wohl reine Show: Madrid wird die Vorgaben erfüllen müssen, die sich aus den »Verteidigungsplänen« für Spanien ergeben – koste es, was es wolle.

Für Deutschland hat Verteidigungsminister Pistorius schon beim Treffen mit seinen NATO-Amtskollegen am 5. Juni zugesagt, Berlin werde »das zweitgrößte Paket« des vom Bündnis aufgelisteten Kriegsgeräts erwerben. Man weiß, dass es – neben Flugabwehrsystemen – um neue Kampfjets, Hubschrauber und Fregatten geht; Details sind ebenfalls noch unbekannt. Offensichtlich plant die NATO für künftige Einsätze an einer möglichen neuen Ostfront die Bundeswehr mit erheblich mehr Einheiten als den vorhandenen ein. Deshalb sollen nun zusätzlich zu den acht bestehenden und den zwei in Planung befindlichen Kampfbrigaden à 5.000 Soldaten fünf bis sechs weitere aufgestellt werden. Pistorius will die Bundeswehr deswegen von heute 181.000 auf künftig bis zu 260.000 Soldaten aufstocken, zuzüglich 200.000 Reservisten. Nebenbei: Der Zwei-plus-Vier-Vertrag beschränkt die Personalstärke der Bundeswehr auf maximal 370.000 Soldaten.

Die Sollbruchstelle bei den Hochrüstungsplänen ist nach aktueller Auffassung der NATO nicht das Geld. Ob in einzelnen Mitgliedstaaten früher oder später Elendsunruhen losbrechen, weil gewaltige Mittel aus den Sozialetats in die Waffenproduktion verschoben werden, oder ob andere sich im Walkürenritt in eine tödliche Schuldenkrise reiten, wird zur Zeit zumindest öffentlich nicht diskutiert. Als Hauptproblem gilt aktuell, dass die bestehenden industriellen Kapazitäten nicht in der Lage sind, die gewünschte Menge an Kriegsgerät im geforderten Tempo herzustellen. Es gebe »nicht ansatzweise genug Angebot, um unsere gesteigerte Nachfrage zu decken«, räumte Rutte bereits am Dienstag ein, als vor dem Gipfelbeginn das diesjährige NATO-Verteidigungsindustrieforum tagte. Über 400 Verteidigungsminister, Wehrbürokraten, Militärexperten und Rüstungsindustrielle waren zusammengekommen, um nicht zuletzt über Mittel und Wege zu diskutieren, die Waffenproduktion zu beschleunigen. Deutschland schreitet auch hier im Stechschritt voran: Die umgekehrte Konversion etwa ziviler Kfz- und Zulieferfabriken in Waffenschmieden hat bereits begonnen.

Soweit die harten Fakten, um die es vorrangig auf dem diesjährigen NATO-Gipfel in Den Haag ging. Wie üblich gab es die eine oder andere Showeinlage, die das Publikum ablenkte. US-Präsident Donald Trump etwa orakelte: Ob die USA angegriffenen NATO-Staaten Beistand nach Artikel 5 des Nordatlantikvertrags leisten würden, das hänge »von der Definition ab«. Will sagen: Es sei ungewiss. Das ist banal: Artikel 5 sieht nur vor, dass jedes NATO-Mitglied im Kriegsfall »die Maßnahmen« trifft, die es »für erforderlich erachtet, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen«. Eine zu allem nötigende Beistandsverpflichtung ist das nicht. Immerhin tat Trump mit seiner Äußerung den europäischen NATO-Staaten den kleinen Gefallen, die geplante Hochrüstung als etwas erscheinen zu lassen, was von Washington durch eine Aufkündigung verlässlichen Beistands praktisch erzwungen werde: Man könne nicht anders, heißt es, man müsse aufrüsten, um sich im Fall der Fälle auch allein militärisch durchsetzen zu können. »Um eine Milliarde Bürger in Sicherheit zu bewahren«, tönte Rutte. Nur – der Krieg, den die NATO zur Zeit vorbereitet und der den herrschenden Eliten im Ernstfall den Sieg über Russland ermöglichen soll, schafft für die große Masse der Bevölkerung nicht Sicher-, sondern extreme Unsicherheit.

Hintergrund: Kiew und die NATO

Die Ukraine befinde sich auf einem »unumkehrbaren Weg« zur Mitgliedschaft: Das hatten die NATO-Mitglieder noch auf ihrem Gipfeltreffen im vergangenen Jahr formuliert. In Den Haag war davon nichts mehr zu hören, im Gegenteil. Nicht einmal ein NATO-Ukraine-Rat auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs war anberaumt worden. Es gab lediglich eine dürftige Ersatzveranstaltung am Dienstag abend auf Außenministerebene. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij musste sich mit einer Einladung zum Abendessen am Dienstag zufriedengeben. Zu allem Überfluss kam es am Dienstag abend auch noch zu einem harten Zusammenstoß zwischen Selenskij und Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán auf X. Als Selenskij dort mit einem Foto protzte, das ihn neben NATO-Generalsekretär Mark Rutte, EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und EU-Ratspräsident António Costa zeigte, twitterte Orbán höchst verärgert zurück. Die EU sei ja offiziell gegründet worden, »um Frieden und Wohlstand zu bringen«, äußerte er. Wenn man nun aber die Ukraine aufnehme, dann ziehe man die EU »in einen direkten Konflikt«.

Als Trostpflaster teilte Rutte zu Beginn des Gipfels mit, es sei gelungen, die finanziellen Zusagen für Kiew trotz des Ausfalls von US-Geldern zu steigern. Nach 21 Milliarden Euro im April erreichten sie für das laufende Jahr mittlerweile bereits 35 Milliarden Euro. Enthalten seien darin unter anderem neun Milliarden Euro aus dem deutschen Staatshaushalt. Hohe Summen gebe es auch aus Norwegen (sieben Milliarden Euro) und aus Großbritannien (fünf Milliarden Euro). Er sei zuversichtlich, dass man bis Jahresende das Level des Vorjahres – 50 Milliarden Euro inklusive US-Gelder – erreiche.

Für Mittwoch nachmittag war – ein weiteres kleines Trostpflaster für Kiew – noch ein Treffen zwischen Selenskij und US-Präsident Donald Trump geplant. Beim G7-Gipfel in Kananaskis hatte Trump Selenskij im Regen stehen lassen: Er war vor dem geplanten Treffen abgereist. (jk)

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