»Wir bestehen auf dem dritten Weg«
Von Michael Knapp
Während die kurdische Freiheitsbewegung eine Friedensinitiative startet, übt die Regierung in Ankara gleichzeitig heftigen Druck auf Frauenrechte und kurdische Organisationen aus. Wie erleben Sie die Spannung zwischen dem notwendigen Dialog einerseits und dem fortgesetzten Freiheitskampf und Widerstand gegen Unterdrückung andererseits?
Wir haben erwartet, dass die Regierung Verhandlungen führt, aber gleichzeitig Repression ausübt, demokratische Werte missachtet und ihre patriarchale Politik gegenüber Frauen fortsetzt. Das ist bisher ihr grundlegendes Vorgehen gewesen. Doch der Kern unseres Kampfes ist es, genau gegen dieses Verständnis und diese Praxis anzukämpfen und sie zu verändern. Wir vertrauen auf uns selbst und auf die Richtigkeit unseres Anliegens.
Heute gibt es Gespräche zwischen dem Staat und der kurdischen Freiheitsbewegung. Unser vorrangiges Ziel ist natürlich, dass dieser Prozess in eine positive Richtung verläuft. Es steht außer Frage, dass die Völker der Türkei und Kurdistans Frieden und eine demokratische Gesellschaft brauchen. Wir arbeiten einerseits dafür, dass das Wirklichkeit wird, und führen andererseits unseren Kampf weiter. Unser beharrlicher und entschlossener Standpunkt wird bestehenbleiben, bis das kurdische Problem gelöst und die Türkei demokratisiert ist. Die von Abdullah Öcalan beschriebene demokratische Politik verlangt das. Wir machen Politik, wir sind ein Subjekt der Politik, und wir werden den demokratischen Kampf ausweiten. Hindernisse und Repressionen können uns daher nicht von diesem Weg und unserem Kampf abbringen. Unsere Vergangenheit ist die Garantie für unsere Zukunft.
Aus der türkischen Opposition, insbesondere aus dem Umfeld der kemalistischen CHP, kommt der Vorwurf, die kurdische Bewegung wolle mit der Friedensinitiative Präsident Recep Tayyip Erdoğan unterstützen. Gibt es dennoch die Möglichkeit einer Annäherung an die CHP für einen gemeinsamen Kampf gegen Autoritarismus und Unterdrückung?
Es ist nicht unser Ziel, irgendeine Partei oder eine politische Kraft zu unterstützen. Wir haben unsere eigene Methode, unseren Stand und unsere Kampfpraxis. Es gibt aktuell Gespräche zwischen dem Staat und der kurdischen Freiheitsbewegung. Zwei Seiten, die jahrelang im Konflikt standen, befinden sich jetzt in Verhandlungen für den Frieden.
Wir sehen, dass auch die CHP diesen Prozess unterstützt und einige Vorschläge eingebracht hat. Von Anfang an haben wir betont, dass wir einen dritten Weg jenseits dieser beiden Seiten vertreten. Wir verteidigen das Prinzip »weniger Staat, mehr Gesellschaft«. Wir bestehen auf dem dritten Weg, einer horizontalen Organisationsform gegen Bürokratismus, Status quo, Elitismus und Hierarchie. Mit jeder Kraft, die diese Prinzipien annimmt, können selbstverständlich kämpferische Allianzen entwickelt werden.
Das Ziel des Prozesses für Frieden und eine demokratische Gesellschaft ist es ja, die Macht und den Staat auf demokratische Normen zu verpflichten, sie auf rechtliche Grundlagen zu stellen. Solange die Regierung Gerechtigkeit, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte nicht achtet, ist eine Lösung des kurdischen Problems nicht möglich. Wir beobachten, dass die CHP in diesem Punkt nicht anders denkt als wir. Wenn wir einen gemeinsamen Kampf gegen Repression führen wollen, müssen wir den Prozess für Frieden und eine demokratische Gesellschaft unterstützen. Es ist die Pflicht jeder Partei, die das Land regieren will, bei den Problemen des Landes Initiative zu ergreifen, Lösungsvorschläge zu machen und die Regierung zu Lösungen zu zwingen. Die Gesellschaft lässt sich nicht mit Worten überzeugen – sie schaut auf die Praxis. Kurz gesagt: Wir unterstützen jede positive Herangehensweise.
Bis heute wurde jede Organisation der Kurden kriminalisiert. Haben Sie in den letzten Monaten Veränderungen festgestellt oder agiert der Repressionsapparat weiterhin mit der gleichen Härte?
Natürlich befinden wir uns erst am Anfang dieses Prozesses. Doch nach dem Aufruf Öcalans vom 27. Februar herrscht in der Gesellschaft – basierend auf früheren Erfahrungen – eine vorsichtige Zuversicht. Allerdings lässt sich bisher keine Veränderung in Sprache, Ton, rechtlicher Grundlage oder praktischer Umsetzung feststellen. Es gibt viele Versprechen, aber auch eine Verzögerungstaktik.
Wir beobachten, dass einige Figuren aus dem Regierungslager diesen Prozess unterstützen. Zum Beispiel sagte der Berater des Präsidenten, Mehmet Uçum, nach der Veröffentlichung des Kongressbeschlusses der Arbeiterpartei Kurdistans PKK über ihre Auflösung: »Die Kurden sind ein konstitutiver Bestandteil der türkischen Nation. Sie sind ein untrennbarer Teil und somit Mitbegründer und dauerhafte Eigentümer der Republik Türkei.« Diese Aussage ist de facto ein Eingeständnis der hundertjährigen Verleugnungspolitik. Es ist klar, dass Uçums Worte nicht unabhängig von Erdoğan oder der Regierung erfolgt sind.
Dass auch der Vorsitzende der MHP (zur Regierungsallianz gehörende faschistische Partei, jW) Devlet Bahçeli das Wort »Frieden« nutzt, ist ein Hinweis auf einen veränderten Tonfall. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es auch in der Rhetorik der Staatsvertreter gewisse Veränderungen gibt. Das allein reicht aber nicht. Es müssen tiefgreifende, konkrete und konstruktive Schritte folgen. Wenn keine anderen Absichten dahinterstecken, ist das eine positive Entwicklung. Wie gesagt, Vorsicht ist geboten. Absichten werden nur durch praktische Schritte zur Realität. Das wird sich mit der Zeit zeigen.
Der türkische Staat ergreift kaum Maßnahmen gegen Frauenmorde und patriarchale Gewalt. Mit dem Austritt aus der Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen 2021 wird diese Gewalt sogar gefördert. Wie ist die Perspektive der kurdischen Frauenbewegung in diesem Kontext?
Wir betonen bei jeder Gelegenheit, wie wichtig die Istanbul-Konvention ist. Sie ist von entscheidender Bedeutung, sowohl um Gewalt gegen Frauen zu verhindern, Frauen zu schützen als auch Täter zu bestrafen. Es geht nicht nur um Strafen, sondern auch darum, Frauen ein sicheres Leben zu garantieren. Wenn eine Regierung zuerst ein Abkommen unterzeichnet und sich dann davon zurückzieht, dann sagt sie im Grunde, dass sie Frauen nicht schützen wird, dass sie eine patriarchale Denkweise aufrechterhält und Gewalt gegen Frauen unterstützt. Die Zahlen sprechen eine klare Sprache. Allein im Mai wurden 21 Frauen ermordet – und das sind nur die Fälle, die dokumentiert wurden. Frauenmorde gehen also weiter.
Die kurdische Frauenbewegung hat eine starke theoretische und praktische Kampflinie gegen alle Zumutungen und Angriffe des patriarchalen Systems aufgebaut und ist zu einem Anziehungspunkt geworden. Mit dem Wissen, dass ohne die Freiheit der Frau keine Freiheit der Gesellschaft möglich ist, hat sie Räume geschaffen, in denen Frauen in allen Lebensbereichen als Subjekte auftreten und in ihrer eigenen Identität existieren können. Die Kovorsitzendenstruktur, gleichberechtigte Repräsentation, die Frauenrevolution in Rojava und die Arbeiten zur Jineolojî – einer Wissenschaft aus der Perspektive der Frau – haben die demokratische Qualität der Politik gestärkt und sind zur Stimme der unterdrückten Wahrheit der weiblichen Identität geworden. All diese Erfahrungen und Errungenschaften fließen heute in unseren Kampf für Frieden und Demokratie ein.
Wie bewerten Sie die in diesem Monat erfolgte Verabschiedung des 10. Justizpakets durch die türkische Nationalversammlung – besonders im Kontext eines möglichen Friedensprozesses?
Die Regierung hat das 10. Justizpaket in rosigen Farben dargestellt und so Erwartung geschürt. Doch im Kern handelt es sich um eine Überarbeitung von Gesetzen, die zuvor vom Verfassungsgericht für ungültig erklärt wurden. Es wurde jedoch der Eindruck erweckt, als würde damit mehr erreicht. Dabei war es eigentlich eine gute Gelegenheit, etwa hinsichtlich der Lage kranker Gefangener Schritte in Richtung Demokratisierung und Gerechtigkeit zu gehen. Diese Chance wurde jedoch nicht genutzt – statt dessen wurde die Gesellschaft manipuliert.
Die Haltung der Regierung ist menschenrechts- und justizfeindlich. Mindestens hätte eine Regelung in das Paket aufgenommen werden müssen, die – ähnlich wie in der COVID- 19-Pandemie – eine Entlassung auch politischer Gefangener umfasst. Dies ist nicht geschehen.
Ein möglicher Friedensprozess darf nicht nur anhand von Gesetzen bewertet werden, denn wir sprechen von einem umfassenderen Prozess. Doch das Verhalten der Regierung zeigt, dass sie weit hinter dem Nötigen zurückbleibt.
Sehen Sie eine Perspektive für eine neue, demokratische Verfassung der Türkei? Gibt es in diese Richtung ernsthafte Initiativen?
Von der Regierung und ihren Partnern hören wir einige Erklärungen zu einer neuen Verfassung. Zuletzt rief Bahçeli dazu auf, eine »konstituierende Verfassung« zu erarbeiten – und kritisierte sogar die bisherigen Militärverfassungen. Auch Erdoğan sagte, die Arbeiten für eine neue Verfassung würden beschleunigt. Wie der kurdische Repräsentant Abdullah Öcalan betont, brauchen die Gesellschaften der Türkei und Kurdistans eine neue »gesellschaftliche Übereinkunft«.
Denn die Türkei wurde nicht auf der Grundlage einer solchen Übereinkunft gegründet. Seit 100 Jahren gibt es auf diesem Boden Diskriminierung, Rassismus, Einheitsdenken und Autoritarismus. Völker, Glaubensgemeinschaften und Kulturen brauchen hier ein neues Paradigma. Vor allem müssen sie sich aus der Enge des Nationalstaats befreien. Der Nationalstaat verdankt seine Existenz der Polarisierung, der Lagerbildung und dem Militarismus. Das zu überwinden ist nur durch eine demokratische, pluralistische und moderne Verfassung möglich, der die ganze Gesellschaft zustimmt.
Aktuell ist es noch zu früh, um über die Haltung der Regierung zu sprechen. Es gibt positive Absichtserklärungen, aber noch keine konkreten Schritte. Der wichtigste Schritt wird sein, die Gesellschaft und deren Forderungen aktiv in den Verfassungsprozess einzubinden.
Çiğdem Kılıçgün Uçar (geb. 1978 in Erzincan) gehört seit 2023 als Abgeordnete der linksgerichteten, vor allem unter Kurden verankerten Partei für Emanzipation und Demokratie der Völker (Dem-Partei) dem türkischen Parlament an. Sie hat in Istanbul Literaturgeschichte studiert. Seit 1999 ist sie in verschiedenen prokurdischen Parteien aktiv. 2022 wurde sie zur Ko-Sprecherin der Grüne Linkspartei (YSP) gewählt, aus der die Dem-Partei hervorging.
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