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Aus: Ausgabe vom 25.06.2025, Seite 10 / Feuilleton
Queerness

Welch ein Vergnügen

Dino Heickers lesenswertes Buch »Weltgeschichte der Queerness«
Von Michael Sollorz
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Gay Pride in Paris (1998)

Die Ankündigung ließ Arges ahnen. Allein der größenwahnsinnige Titel! So stellt der Verfasser auch gleich klar: »Als der Bebra-Verlag dieses Buchprojekt an mich herantrug, war eine meiner ersten Fragen, auf wie viele Bände wir eine Geschichte der Queerness anlegen und wie viele Mitarbeiter*innen mir zur Verfügung stünden. Es wurde dann doch bloß ein Ein-Mann-ein-Buch-Projekt. Natürlich kann dabei lediglich ein kleiner Ausschnitt aus der großen Mannigfaltigkeit des Vorhandenen dargestellt werden, sozusagen als Schneeflocke auf der Spitze des Eisbergs.« Schon vorweg: Der »kleine Ausschnitt« ist ein großer Wurf und kann nur wärmstens empfohlen werden!

Von den griechischen Göttern ins Indien des Kamasutras und zu den arabischen Märchen von Tausendundeiner Nacht – Dino Heicker nimmt uns mit auf eine große Reise. Wo immer er Halt macht, gibt es Ereignisse und Personen, die aus den Normen ihrer Zeit fielen, in der Antike wie im kaiserlichen China, im Mittelalter wie im 20. Jahrhundert. Die essayistischen Schlaglichter sind eine wahre Fundgrube, erfrischend geschrieben, ergänzt durch ein ehrfurchtgebietendes Literaturverzeichnis und eine Vielzahl von Abbildungen.

Liest man das Buch von vorne nach hinten, spannt sich ein weiter Erzählbogen über den wandelbaren Umgang mit Sexualität und Geschlecht. Vom tollen Treiben der alten Römer hörte man ja schon, und für den freien Bürger mag es stimmen. Was der mit seinen Sklaven trieb, kümmerte keinen, und die Neigung zum Jüngling war durchaus statthaft. Doch als Kaiser Konstantin 313 Religionsfreiheit gewährte, was zunächst als Fortschritt gelten mag, krochen die Christen aus den Katakomben. Lange verfolgt, erlangten sie noch im selben Jahrhundert den Rang als Staatsreligion. In ihrer rigiden Moralvorstellung hatte die schönste Sache der Welt nur der Fortpflanzung zu dienen. Grausame Gesetze gegen die widernatürliche Unzucht wurden ersonnen und mit Feuer und Schwert in die Welt getragen. Die Missionierung infizierte auch tolerantere Kulturen mit dem Gift. Verbieten und verfolgen. Steinigen. Verbrennen. Henken. Ertränken. Was ist der Mensch? Wozu ist er imstande?

Nebenher verhilft die ungemein abwechslungsreiche Lektüre zu einer Vielzahl unerwarteter Überlegungen. Zum Beispiel verortet man im Westen die Homophobie ja gern im Islam und staunt dann über die Verse des berühmten Abu Nawas, 757 am Persischen Golf geboren. »Oh, welch ein Vergnügen ist die Sodomie! Also lasst uns Sodomiten sein, ihr Araber! / Schnappt euch einen scheuen Jungen mit Schmachtlocken an den Schläfen, der dasteht wie eine Gazelle, und reitet ihn!« Aber Achtung, liegst du nicht oben, bist du schnell unten durch! Das Dogma gilt ja fort bei vielen Deppen zwischen Döbeln und Damaskus. Gleichsam am Wegesrand die bittere Einsicht in Rückschläge, die uns besonders angesichts des Rollbacks der Vernunft gemahnen sollte, dass Errungenes nicht unumkehrbar ist. Etwa ließ schon 1794 ein »Allgemeines Landrecht für die preußischen Staaten« des schwulen Königs Friedrich II. intergeschlechtlichen Menschen die Wahl, als Mann oder Frau zu leben. Damit brach dann 1900 das »Bürgerliche Gesetzbuch«.

So gelangt die Weltgeschichte auch zu den frühen Helden dessen, was wir heute Homosexuellenbewegung nennen, voran der Jurist Karl Heinrich Ulrichs. Trotz Bedrohung durch die Strafgesetzgebung bekannte er sich zu seiner Veranlagung und forderte auf dem Deutschen Juristentag 1867 in einer Rede die Straffreiheit gleichgeschlechtlicher Handlungen. Er wurde niedergeschrien. Die Abneigung wurzelte tief, selbst bei fortschrittlichen Zeitgenossen. So schrieb etwa Friedrich Engels im Jahre 1869 seinem Freund Marx: »Die Päderasten fangen an, sich zu zählen und finden, daß sie eine Macht im Staate bilden.« Und auf Ulrich gemünzt fügt er hinzu, es sei »auch nur in Deutschland möglich, daß so ein Bursche auftritt und die Schweinerei in Theorie umsetzt«.

Noch »so ein Bursche« war dann um die Jahrhundertwende der Arzt Magnus Hirschfeld. Dass sein bahnbrechendes Institut für Sexualwissenschaft 1933 in Berlin von den Nazis geplündert und verwüstet wurde, ist allgemein bekannt. Doch sie hatten ihn schon länger auf dem Kieker. 1920 wurde er nach einem Vortrag in München auf offener Straße zusammengeschlagen, worauf Adolf Hitler notierte: »Da muss sich das Volk selbst helfen und Volksjustiz üben. Wäre ich hier in München gewesen, so hätte ich ihm einige Ohrfeigen gegeben, denn das, was dieser Schweinejude feilbietet, bedeutet gemeinste Verhöhnung des Volkes.«

Die dunkelsten Zeiten scheinen vorüber, zumindest in unseren Breiten. Niemand weiß, ob es so bleibt. Einstweilen leisten wir uns den Luxus wütenden Gezänks über Sinn und Unsinn des Queerness-Begriffs. Wer gehört hinein? Wo läuft die Grenze im Kampf um Entgrenzung? Unter dem starken Eindruck von Dino Heickers Buch und all der Schicksale, die es uns nahebringt, lässt sich vielleicht ein gemeinsames Fernziel in einfache Worte fassen: dass ich dich nicht mehr frage, was du bist, sondern wer.

Dino Heicker: Weltgeschichte der Queerness. Bebra-Verlag, Berlin 2025, 336 Seiten, 30 Euro

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Klaus W. aus Leipzig (25. Juni 2025 um 08:29 Uhr)
    Die ersten Christen, die verfolgt wurden, waren die Donatisten Nordafrikas. Sie wurden von den Christen Italiens abgeschlachtet. Nicht immer diese Märchen der katholischen Kirche wiederkäuen. Die Christen haben die römischen Tempel geschliffen und römische Priester umgebracht, alles andere sind Lügen der katholischen Kirche.

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