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Aus: Ausgabe vom 25.06.2025, Seite 3 / Schwerpunkt
Internationaler Seeverkehr

Kein Landgang für Russen

In Häfen von Schleswig-Holstein wird russischen Seeleuten internationales Recht verwehrt. Bundespolizei lässt Schiffspersonal während der Liegezeiten nicht von Bord
Von Burkhard Ilschner
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Auch günstiger von Land aus: Telefonieren (in der Seemannsmission Duckdalben)

In einigen Häfen Schleswig-Holsteins geschehen merkwürdige Dinge. Mehrere Diakone örtlicher Seemannsmissionen berichteten gegenüber jW, es sei in den vergangenen Monaten (und teils bis heute anhaltend) vorgekommen, dass auf mehreren Schiffen Besatzungsmitgliedern russischer Staatsangehörigkeit der sogenannte Landgang verweigert worden sei – eigentlich für Seeleute eine Art Grundrecht: Sie durften im jeweiligen Hafen ihr Schiff während dessen Liegezeit nicht verlassen. Skurrilerweise betreffen vorliegende Berichte nur Häfen des nördlichsten Bundeslandes – aus keinem anderen deutschen Seehafen zwischen Emden im Westen und Stralsund im Osten ist Vergleichbares zu hören.

Landgang: Seit etlichen Jahren ist es internationaler Standard, dass Seeleute in jedem Hafen, den ihr Schiff anläuft, das verbriefte Recht haben, dieses vorübergehend zu verlassen. Ohne dieses Recht wären weder gesundheitliche Versorgung noch angemessene Erholung vom stressigen Bordalltag möglich. Zudem bieten landseitige Stationen wie die der Seemannsmission auch Gelegenheit für Telefonate mit der fernen Familie, denn leider ist dies auf vielen Handelsschiffen noch immer teuer oder gar unmöglich.

Recht auf Landgang

Die Normen für das Recht auf Landgang sehen natürlich Ausnahmen vor, daher lohnt ein Blick aufs Detail: Seit 1965 regelt das »Übereinkommen zur Erleichterung des internationalen Seeverkehrs« (Convention on Facilitation of International Maritime Traffic – FAL) der UN-Schiffahrtsorganisation IMO die Formalitäten, um Abläufe zwischen Schiff und Hafen, zwischen Ankunft und Abfahrt, zu standardisieren. Das betrifft nötige Dokumente, das Verhalten von und gegenüber Schiffsführungen, Besatzungen oder Passagieren, den Umgang mit Gepäck und Fracht, Zollerklärungen, Sicherheitsvorschriften und vieles andere mehr. Bisher sind diesem Abkommen weltweit 130 Staaten beigetreten, dazu zählt auch Deutschland. 2018 trat eine Ergänzung in Kraft, die lokale Behörden in den Häfen verpflichtet, allen Seeleuten Landgang zu gewähren – ohne Diskriminierung aufgrund von Hautfarbe, Geschlecht, Religion, Staatsangehörigkeit, politischer Gesinnung oder der Flagge des Schiffes. Ausnahmen von dieser FAL-Norm 3.44 sind etwa bei Sicherheitsbedenken zulässig, aber nur nach Einzelfallprüfung – der betroffene Seemann und sein Kapitän sind über deren Ergebnis zu unterrichten, auf Wunsch auch schriftlich.

Ohne Begründung

Soweit die Theorie – in einigen schleswig-holsteinischen Häfen sieht die Praxis nach jW-Informationen indes anders aus. Mehrere Seemannsdiakone berichteten über Landgangsuntersagungen für russische Seeleute etwa in Lübeck, Kiel, Rendsburg oder Brunsbüttel. Mal trifft dies russische Besatzungen von Schiffen unter russischer Flagge, mal auch nur russische Seeleute auf Schiffen beliebiger Flagge mit national gemischten Besatzungen. Man muss dazu wissen, dass russische Seeleute weltweit auf vielen Schiffen beliebiger Reedereien und Flaggen tätig sind. In den geschilderten Fällen, so heißt es, sei das Landgangsrecht den Betroffenen mal pauschal, mal einzeln verweigert worden – in der Regel aber ohne jede ordnungsgemäße Begründung.

In deutschen Häfen sind solche Überprüfungen gemäß der FAL Sache der Bundespolizei. Deren für Schleswig-Holstein zuständige Direktion in Bad Bramstedt teilte auf jW-Anfrage mit, in den vergangenen Monaten sei »bei drei Schiffen für 13 Personen russischer Nationalität die Erteilung eines Passierscheines verweigert« worden, in den Häfen Brunsbüttel und Lübeck. Juristisch langwierig erläuterte die Bundespolizei unter anderem unter Hinweis auf den »Schengener Grenzkodex« oder die »Rechtsprechung des EuGH«, dass »angesichts der aktuellen Sicherheitslage« jeder Antrag von russischen Seeleuten »intensiv im Einzelfall« geprüft werde. Dies könne »in einigen Fällen (…) auch zur Versagung eines Passierscheins (gemäß der sogenannten Aufenthaltsverordnung) führen. Insbesondere bei rein oder überwiegend russischer Besatzung oder direktem Anlauf aus der Russischen Föderation erfolgt die Ausstellung von Passierscheinen gegenwärtig restriktiv.« Die Besatzungsangehörigen könnten aber »mit einem entsprechenden Visum (…) im Rahmen des Landgangs in die Bundesrepublik einreisen«.

Die Ausführungen der Bundespolizei erklären allerdings die bekanntgewordenen Sachverhalte nicht annähernd. Weder findet sich ein Hinweis auf die anderen beiden genannten Häfen noch eine Antwort auf die Frage, warum Fälle nur aus Schleswig-Holstein gemeldet worden sind. Weder geht die Behörde ein auf die ausdrücklich angefragte Einzelfallprüfung gemäß der international geltenden FAL noch berücksichtigt sie deren eindeutige Norm 3.45: »Von Besatzungsmitgliedern wird kein Visum für den Landgang verlangt.« Und vor allem sind die angegebenen Zahlen betroffener Schiffe und Seeleute deutlich zu niedrig.

Bundespolizei bricht Recht

So berichtete etwa Seemannsdiakon Marco Folchnandt aus Lübeck, es habe dort in jüngster Zeit Landgangsuntersagungen bei mehr als 20 Schiffen gegeben, betroffen waren und sind also allein in diesem Hafen mindestens 100 russische Seeleute. Sein Kollege Leon Meier aus Brunsbüttel fokussierte sich auf zwei Einzelfälle: Mitte Juni habe ein Schiff mit rund 15 russischen Besatzungsmitgliedern etwa eine Woche im Hafen gelegen – »keines dieser Crewmitglieder durfte an Land gehen«. Ein anderes Schiff laufe wöchentlich Brunsbüttel an – »der Kapitän ist Russe, die Offiziere stammen aus der Ukraine, die übrige Besatzung von den Philippinen. Während alle anderen Crewmitglieder regelmäßig an Land dürfen, wird dem russischen Kapitän der Landgang verweigert.« Aus Rendsburg, so Meier, sei berichtet worden, dass seit Februar bei rund 16 Schiffen den jeweils russischen Seeleuten ein Landgangsverbot erteilt worden sei; dabei sei es unerheblich gewesen, ob es sich um komplett russische oder um gemischte Besatzungen gehandelt habe. Allerdings: Seit Anfang Mai gebe es derartige Vorfälle nicht mehr – weder die Verbote noch deren Aufhebung seien aber begründet worden.

Matthias Ristau, der Generalsekretär der Deutschen Seemannsmission, hält Zweifel an der Haltbarkeit der bundespolizeilichen Ausführungen für gerechtfertigt: »Die FAL ist per Veröffentlichung im Bundesgesetzblatt in deutsches Recht überführt worden und somit rechtlich höherwertig als jede nationale Verordnung. Passierscheine oder Visa haben, so gesehen, in etwaigen Landgangsprüfungen überhaupt keine Rolle zu spielen – es gelten einzig die Bestimmungen der FAL.«

Was deren Missachtung für Betroffene persönlich bedeutet, schilderte exemplarisch Marco Folchnandt: Er habe Mitte Juni Maxim getroffen, »der ist Koch auf einem Schiff unter der Flagge von Antigua. Ein kleines Schiff mit acht Mann Besatzung, alles russische Staatsbürger – keiner durfte von Bord.« Vergangenen Sommer noch hatte Maxim eine Telefonkarte bekommen, damit er Kontakt nach Hause halten kann, und sei von der Mission zum Einkaufen geshuttelt worden: »Er hat sich die Stadt angesehen und war glücklich, ein wenig Zeit an Land verbringen zu können.« Jüngst traf man sich also wieder: »Schön, dich wiederzusehen, mein Freund«, so Maxim, »aber heute bin ich auf dem Schiff gefangen. Ich darf nicht von Bord. Warum ist das so?« Folchnandt erzählt: »Ich konnte ihm keine wirkliche Begründung liefern. Maxim ist eigentlich schon seit drei Jahren in Rente, aber das Geld reicht nicht, deshalb muss er weiter zur See fahren.« Immer wieder, so der Diakon weiter, sehe man in enttäuschte Augen auch der anderen Besatzungsmitglieder: »Sie liegen so nah an der Innenstadt von Lübeck, können die historischen sieben Türme sehen, aber dürfen nicht hin – ›it’s like being in prison!‹«

Hintergrund: Tag des Seefahrers

Auch wenn aktuell Diskriminierungen von Seeleuten russischer Nationalität nicht nur aus dem Norden Deutschlands, sondern beispielsweise auch aus Dänemark, Norwegen, Belgien und einzelnen britischen Häfen gemeldet werden: Der 25. Juni ist der »Day of the Seafarer«, an dem die International Maritime Organization (IMO), die Schiffahrtsorganisation der Vereinten Nationen, weltweit zu mehr »Respekt auf See« aufruft. Der 2010 von der IMO beschlossene Tag der Seeleute, von der UNO als globaler Gedenktag anerkannt, mahnt uneingeschränkt über alle Nationalitäten hinaus, »den einzigartigen Beitrag zu würdigen, den Seeleute aus aller Welt zum internationalen Seehandel, zur Weltwirtschaft und zur Zivilgesellschaft als Ganzes leisten«. In diesem Jahr steht der »Day of the Seafarer« unter dem spezifischen Motto »My Harassment-Free Ship«: Die Kampagne unter diesem Slogan soll dazu beitragen, »jedes Schiff zu einem belästigungsfreien Arbeitsplatz« zu machen. »Helft mit, eine menschlichere maritime Wirtschaft zu schaffen«, ist auf einem der Kampagnenplakate zu lesen.

Zwar verdienen sowohl das allgemeine Anliegen der jährlichen Seefahrertage als auch die aktuelle Kampagne jeden gesellschaftlichen Respekt und jede Unterstützung – aber ein schlechter Beigeschmack trübt die Sache: Eben die IMO, die diesen Tag ins Leben gerufen hat und jährlich zelebriert, ist die Organisation, in der allein aufgrund registrierter Tonnage noch immer die Billigflaggenstaaten das Sagen haben. Nach internationalem Recht gelten an Bord jedes Schiffes die Regeln und Gesetze jenes Landes, dessen Flagge am Heck weht. Indem Tausenden Reedern und Schiffseignern die freie Wahl gelassen wird, unter welcher Flagge sie ihre Schiffe fahren lassen, ist es ihnen möglich, diese in Staaten zu registrieren, die mangelhafte Vorschriften und Kontrollen dulden, oft keine eigene maritime Wirtschaft (manchmal nicht mal eine Küste) haben, niedrigste Steuern und arbeitsrechtliche Minderstandards zulassen.

Laut jüngsten Statistiken der Welthandels- und Entwicklungsorganisation UNCTAD fährt knapp ein Viertel der rund 100.000 registrierten Handelsschiffe unter den Flaggen allein der zehn größten Billigflaggenstaaten. Angeführt wird diese Liste seit langem unverändert von Liberia, Panama und den Marshallinseln, insgesamt stuft die Internationale Transportarbeiterföderation (ITF) aktuell 45 Staaten weltweit als »Billigflaggenländer« ein. Übrigens, um den Bogen zu schlagen zur Behandlung russischer Seeleute: Es ist dieses »System Billigflagge«, aus dem das skandalisierte Symptom »Schattenflotte« hervorgegangen ist. (bi)

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