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Aus: Ausgabe vom 24.06.2025, Seite 11 / Feuilleton
Comic

Erich Kästner vor Augen

Isabel Kreitz’ Graphic Novel »Die letzte Einstellung« über einen unvollendeten Nazifilm
Von Marc Hieronimus
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In bester Gesellschaft

Der in dieser Zeitung von den verehrten Kollegen Gärtner und Roth oft beklagte Niedergang der Sprache ist nicht nur in TV und Politik, sondern auch in Literaturankündigungen zu beobachten, selbst und gerade bei heiklen Themen und renommierten Kunstschaffenden. So formuliert der programmatisch so anspruchsvolle Verlag Reprodukt über den historischen Hintergrund des neuesten graphischen Großereignisses von Isabel Kreitz: »Eines der zentralsten Elemente der vermeintlichen Volkserziehung im NS-Staat war die Traumfabrik Kino. (…) Hetzfilme wie ›Jud Süß‹ oder ›Kolberg‹ stehen synonymisch für die NS-Filmpropaganda, aber es waren auch die leichten Unterhaltungs- und später die Durchhaltefilme, die mindestens genauso zentral für die NS-Kulturpolitik waren.« Um auf das stilistisch ungeschickte Doppel-»waren« und das reichlich oft gelesene, in Wahrheit mit Produktions-, nicht mit Distributionsorten der Filmindustrie synom(isch)e »Traumfabrik« und seine schrille Dissonanz mit Volkserziehung und Hetzfilm gar nicht einzugehen – die Steigerung von Absolutadjektiven ist leider nicht der allereinzigste Lapsus hier.

Wenn die Schreibprofis schon der Sprache so wenig Sorgfalt widmen, ist es nur konsistent, dass sie auch inhaltlich schlampen. Kolberg ist kein Hetz-, sondern ein Durchhaltefilm, und zwar der einzige, der interessierten Laien namentlich bekannt ist. Leichte Unterhaltungsfilme waren daneben nicht »genauso zentral«, sondern stellten umgekehrt selbst bei einer großzügigen Propagandadefinition, die nicht nur die 44 sogenannten Vorbehaltsfilme, sondern etwa auch Dokumentationen über »Große Deutsche« darunter verbucht, den mit Abstand größten Teil aller in der NS-Zeit produzierten Kinoproduktionen dar.

»Kolberg« erschien gut drei Monate vor Kriegsende. Die Dreharbeiten zu einem monumentalen Durchhaltefilm ganz neuer Prägung hatten wenig früher erst begonnen. »Die letzte Einstellung« sollte erstmals die bis dahin sorgsam ausgeblendete Realität des Bombenkriegs und, in den Worten des Propagandaministers, »den trotz allen Bombenterrors unbeugsamen Lebens- und Kampfeswillen des deutschen Volkes« darstellen. Tausende Insassen aus Konzentrationslagern wurden als Statisten für eine Szene am eigens nachgebauten Stettiner Bahnhof nach Babelsberg geschafft. Als es der Filmcrew dort zu gefährlich wurde, drehte man bis zum Einmarsch der Alliierten in der Lüneburger Heide weiter. Die meisten Filmrollen dieses Streifens sind verschollen, die eines anderen hat es nie gegeben. Bis Ende April 1945 mimten Schauspieler und Techniker in den Zillertaler Alpen Arbeiten an »Das gestohlene Gesicht«, mit Kameras ohne Zelluloid, aber in Sicherheit vor Luft- und Straßenkrieg.

All das erzählt Isabel Kreitz im meisterhaften Kohlestil, den die Leserin schon von »Die Sache mit Sorge« (Reprodukt, 2024) und »Die Entdeckung der Currywurst« (Reprodukt, 2022) kennt. Perspektive, Licht, Gestik, Mimik, aber auch Erzählstruktur, Dialoge und Recherche stimmen: Alle wesentlichen Figuren wie den Regisseur Wolfgang Liebeneiner oder den Schauspieler Viktor de Kowa gab es wirklich, nur das Protagonistenpaar Erika Harms und Heinrich Hoffmann sind zur Kenntlichkeit verfremdet. Dieser ist weder der Leibfotograf Adolf Hitlers noch der Autor des Struwwelpeters, aber Autor, ein wenig Nazikollaborateur und Erich Kästner graphisch und biographisch zum Verwechseln ähnlich.

»Natürlich hatte ich beim Schreiben und Zeichnen Erich Kästner vor Augen, seinen Sprachduktus, sein Aussehen. Nur würde ich niemals behaupten, seine tatsächlichen Motive und Gefühle wiedergeben zu können. Heinz Hoffmann ist meine Interpretation, eine Erfindung mit realem Hintergrund«, schreibt die Autorin. »Wenn der Vergleich erlaubt ist: Beim Entwurf seines ›Mephisto‹ meinte Klaus Mann nicht die tatsächliche Person, seinen Schwager Gustav Gründgens, sondern den Typus, den er repräsentiert.« Anders als dieser konnte Kästner/Hoffmann seiner Arbeit in Deutschland nur unter Pseudonym und starker Zurückhaltung nachgehen. Am Ende bereut er seine Mitarbeit an einem Film, den niemand je gesehen hat.

Isabel Kreitz: Die letzte Einstellung. Reprodukt-Verlag, Berlin 2025, 312 Seiten, 29 Euro

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