Berlin tritt die Europäische Menschenrechtskonvention mit Füßen
Von Fréderike Geerdink, Sania Mahyou, Carmela Negrete, Gouri Sharma, Tom Wills (Berlin, Madrid, Paris und Amsterdam)
An jedem Wochenende protestieren Hunderttausende Menschen europaweit gegen den israelischen Völkermord in Gaza. Immer wieder werden Aktivisten mit Geldstrafen und Polizeigewalt konfrontiert. Eine grenzüberschreitende Untersuchung in vier europäischen Städten zeigt dabei ein sehr unterschiedliches Ausmaß an Repression – mit Berlin an erster Stelle. Der deutsche Staat hat Tausende von Ermittlungsverfahren gegen Demonstranten eingeleitet.
Am 6. Juni hat deswegen sogar der EU-Kommissar für Menschenrechte Michael O’Flaherty Bundesinnenminister Alexander Dobrindt zur Respektierung von Meinungs- und Versammlungsfreiheit aufgefordert. »Ich bin besorgt über Berichte über übermäßige Gewaltanwendung durch die Polizei gegen Demonstrierende, darunter auch Minderjährige, die mitunter zu Verletzungen geführt haben«, schreibt der Kommissar, und kritisiert die Einschränkungen der Meinungsfreiheit in »Universitäten, Kultur- und Kunstinstitutionen sowie Schulen« sowie die Versuche, ausländische Staatsangehörige abzuschieben, weil sie protestieren. Die IHRA-Arbeitsdefinition für Antisemitismus werde »von einigen deutschen Behörden in einer Weise ausgelegt, die Kritik an Israel pauschal als antisemitisch einstuft«.
Madrid
In Madrid war die Teilnahme von Regierungsmitgliedern der Partei Sumar an den Pro-Palästina-Protesten einmalig. Während bei anderen Protesten in Spanien das sogenannte Maulkorbgesetz knallhart angewendet wird, hat die Polizei propalästinensische Demonstrationen in der Regel nicht behindert. In Barcelona und Sevilla gab es vereinzelt Gewalt, und in Madrid nahm die Polizei die Personalien von 91 Personen auf, die an einer Straßensperre teilgenommen hatten, sie wurden aber nicht belangt.
Anwalt Juan aus Madrid war bei fast allen Großdemonstrationen dabei. Starke Repression hätte der Regierung geschadet, so seine Einschätzung gegenüber jW. »Deren soziale Basis steht dem palästinensischen Volk mit großer Empathie gegenüber.« Pablo, Professor an der Autonomen Universität und Teilnehmer des Protestcamps der Universidad Complutense, verweist darauf, dass die Regierung den Staat Palästina anerkannt hat. »Trotzdem wurden weiterhin Waffen gekauft und Schiffe passierten weiterhin unsere Häfen«, kritisiert der Aktivist. Für ihn zeigen sich an »der Palästina-Frage viele der Widersprüche Europas in bezug auf die Werte, die es zu verteidigen vorgibt«. Man sei hier »offen rassistisch und kolonialistisch«. Das sei keine Bekämpfung von Antisemitismus, sondern »die Förderung von Islamophobie«.
Amsterdam und Paris
In Paris und Amsterdam beobachten wir eine uneindeutige Situation. In Amsterdam ist mit der politisch maßgeblichen Figur Geert Wilders, der seine Verbundenheit mit Israel gezeigt hat, und der Ungewissheit über die Zusammensetzung der neuen Regierung die Gefahr weiterer repressiver Maßnahmen groß. Die Polizei hat allerdings bislang bei großen Protesten nicht eingegriffen. Im Oktober 2024 fanden sowohl propalästinensische als auch proisraelische Demonstrationen statt; die Polizei trennte die Kontrahenten und ging gewaltsam gegen propalästinensische Demonstranten vor. Im November letzten Jahres wurden mehrere Aktivisten festgenommen, an den Stadtrand gebracht, wieder freigelassen und dann von Polizeibeamten gejagt und angegriffen.
In Paris waren die Proteste zunächst verboten, dennoch kam es zu Demonstrationen. Es gab Verhaftungen und Dutzende von Geldstrafen. Bei propalästinensischen Studentencamps an der Sciences Po (der politikwissenschaftleich Fakultät der Universität Paris) und später auch an der Universität Sorbonne wurden 86 Personen festgenommen, und am selben Tag zwei weitere an der Sciences Po. In Paris fanden auch Kundgebungen zur Unterstützung Israels statt, ohne dass es zu Festnahmen kam. Am 8. März letzten Jahres wurden bei einer Frauendemonstration mehrere Pro-Palästina-Demonstrantinnen festgenommen.
In Frankreich gibt es zahlreiche Berichte über Polizeigewalt bei propalästinensischen Demonstrationen, insbesondere wenn sie nicht genehmigt waren. Das pauschale Verbot wurde jedoch für rechtswidrig erklärt, und die lokalen Behörden müssen nun jeden Fall einzeln prüfen. Hier muss der Kontext der wachsenden Repression bei sozialen Mobilisierungen in den letzten zehn Jahren berücksichtig werden. Zu den auffälligsten Aspekten der Unterdrückung palästinensischer Proteste in Paris gehören die Anschuldigung »Apologie des Terrorismus« und die Kriminalisierung von Kufijas und Flaggen im öffentlichen Raum, außerdem das Verbot der Solidaritätsgruppe Urgence Palestine.
Frankreichs Regierung beginnt dennoch, ihre Unterstützung für Israel zu verringern – und auch in Deutschland gibt es inzwischen von Regierungsseite leise Kritik am israelischen Vorgehen in Gaza, während Spaniens Premierminister sogar soweit ging, Israel als einen »völkermörderischen Staat« zu bezeichnen. Doch bleibt abzuwarten, ob diese politischen Verschiebungen zu einer Lockerung der Beschränkungen von Protesten und der Einstellung offener Strafverfahren führen werden. Besonders jetzt, nach der Aussage von Bundeskanzler Merz, wonach Israel im Iran »die Drecksarbeit für uns« übernehme, ist noch nichts klar.
Berlin
In Berlin wurde am 18. Oktober 2023 eine Demonstration im Bezirk Neukölln verboten, die Menschen gingen dennoch auf die Straße. Mehreren Zeugen zufolge war die Reaktion der Polizei unverhältnismäßig. Auch das Verbot des Palästina-Kongresses in April 2024 verletzte das Recht auf freie Meinungsäußerung. Bei einer Sitzblockade am 3. Mai jenes Jahres an der Humboldt-Universität kam es zu einem gewaltsamen Polizeieinsatz. Im September veröffentlichte die Aktivistengruppe »Palästina spricht« einen Bericht über Polizeigewalt. Dass diese Organisation nun zusammen mit dem Verein »Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost« im aktuellen Verfassungsschutzbericht als extremistisch kriminalisiert wird, muss im Licht dieser Gesamtrepression betrachtet werden.
Videoaufnahmen und Zeugenaussagen zeigen: An mehreren Protesttagen, darunter auch am 15. Mai 2025 – dem Nakba-Tag – gingen Polizeibeamte erneut gewalttätig vor: Tritte, Schläge, schmerzhafte Griffe, das Abdecken von Augen und Mund der Festgenommenen und der maßlose Einsatz von Pfefferspray. Demonstranten erzählten, dass sie eingekesselt wurden, dass die Beamten selbst bei kleinen Protesten in voller Montur auftraten. Auf einem Video ist zu sehen, wie eine blutende Person von den Beamten über die Straße gezerrt wird.
Staatsräson als Ausrede
Die deutsche Regierung hat Slogans, die auf propalästinensischen Demonstrationen gerufen wurden, kriminalisiert und als antisemitisch erklärt, insbesondere den Slogan »From the river to the sea – Palestine will be free« (Vom Fluss bis zum Meer – Palästina wird frei sein). Das sei ein »Symbol verfassungswidriger und terroristischer Organisationen«, was »im Bundesland Berlin einen Straftatbestand darstellt«, erklärt die Polizei gegenüber dem Rechercheteam und verhält sich entsprechend. Ein solches Vorgehen findet sich in keiner der anderen untersuchen europäischen Städte. Hinzu kommt das Verbot von Reden oder Liedern in arabischer Sprache bei bestimmten Demonstrationen; nur Englisch oder Deutsch ist dort zulässig. Auf die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen antwortete die Berliner Polizei, dass sie »als neutraler Garant des Rechtsstaates und Inhaber des staatlichen Gewaltmonopols gesetzlich befugt« sei. Rechtliche Grundlage ist das »Allgemeine Gesetz zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in Berlin«.
Clemens Arzt, Professor für Öffentliches Recht an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin und Direktor des Berliner Instituts für Sicherheitsforschung (FÖPS Berlin), erklärte gegenüber jW, dass er seit Oktober 2023 auf vielen Demonstrationen war und schockiert gewesen sei. Er nimmt an, dass der Polizeieinsatz am 15. Mai illegal war. »Dieses Ausmaß an Polizeigewalt war nicht notwendig. Es war einfach brutale Gewalt, mehr nicht, und ich habe so etwas noch nie erlebt.«
Arzt erklärt das Dilemma des deutschen Staates: »Im Großen und Ganzen ist es so, dass die sogenannte Staatsräson in Deutschland darin besteht, die israelische Regierung um jeden Preis zu unterstützen«, was aus der Schuld und der historischen Verantwortung Deutschlands für den Holocaust resultiert, und dass deshalb »die deutsche Regierung keine ›negativen‹ Bilder von Menschen haben möchte, die gegen Israel oder für die palästinensische Sache demonstrieren«. Er erinnert jedoch daran, dass Deutschland sich an die völkerrechtlichen Standards der Versammlungsfreiheit zu halten habe, was derzeit allerdings nicht geschieht.
Menschenrechtsverstöße
Marjolein Kuijers, Expertin für europäische Menschenrechte bei Amnesty International in den Niederlanden, antwortet auf die Anfrage von jW, dass sie besorgt über den unverhältnismäßigen Einsatz von Polizeigewalt bei propalästinensischen Protesten sei. Kuijers erinnert daran, dass die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) den Staaten einen Ermessensspielraum bei der Auslegung der Grundrechte lässt, aber die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) bindend seien.
Sie erinnert an Artikel 11 der EMRK, der das Recht auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit garantiert. Einige Regierungen gaben »Sicherheit« als Grund an, um diese Rechte zu beschränken, doch es müsse Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit geben. »Die Verwendung von Slogans von vornherein zu verbieten, ist schlicht und einfach Zensur, das ist durch die EMRK absolut verboten.« Das Recht dürfe nur in Fällen wie Aufstachelung zu Hass, Gewalt oder Diskriminierung eingeschränkt werden und »das gilt sicher nicht für den Slogan ›From the river to the sea …«, ist sie überzeugt.
Der Rechtsweg kann dennoch mühsam sein sein, denn Richter und Anwälte sehen sich eher gezwungen, nationales Recht anzuwenden, wenn Sicherheitskräfte auf politische Anordnungen hin handeln, die dem europäischen Recht zuwiderlaufen. Dann bleibt nur die Möglichkeit, beim EGMR zu klagen. »Das kann zehn oder elf Jahre dauern«.
Diese Recherche wurde ermöglicht durch Journalismfund Europe.
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