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Aus: Ausgabe vom 20.06.2025, Seite 3 / Schwerpunkt
Debatte über SPD-Manifest

»Es gibt eine Hegemonie der Aufrüstungsbefürworter«

Über die Debatte um das sozialdemokratische Manifest zur Friedenssicherung. Ein Gespräch mit Peter Brandt
Von Nico Popp
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Peter Brandt, Mitglied des Vorstands der Friedrich-Ebert-Stiftung und des Kuratoriums der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung, bei einer Kranzniederlegung zum Gedenken an seinen Vater Willy Brandt (Berlin, 6.10.2023)

Die Debatte um das von SPD-Mitgliedern vorgelegte Manifest »Friedenssicherung in Europa durch Verteidigungsfähigkeit, Rüstungskontrolle und Verständigung« dauert an. Die Ablehnung im publizistischen Mainstream ist relativ einhellig und geht bis hin zur schrillen Skandalisierung. Die SPD-Führung weist das Papier ebenfalls zurück. Hubertus Heil hat gerade erklärt, dass die Positionen in dem Manifest »sympathisch klingen« mögen, aber »unrealistisch« sind. Die »Mehrheitsposition der Sozialdemokraten« sei eine andere, nämlich die von Boris Pistorius. Wie sehen Sie das als einer der Erstunterzeichner des Manifests?

Mein Eindruck war in den letzten Jahren immer, dass die Mehrheitsverhältnisse in der Partei andere sind, als es nach außen erscheint. Damit behaupte ich nicht, dass Positionen, wie sie in dem Manifest vertreten werden, von der Mehrheit der Mitglieder geteilt werden. Das kann ich nicht wissen. Mindestens aber ist es eine große Minderheit. Das ist schwierig zu bestimmen, weil es weiterhin eine Art Grundloyalität gegenüber der Parteiführung gibt, und für viele ist der Schritt, sich womöglich sogar öffentlich gegen die offizielle Linie zu stellen, eine große Hürde. Ich bin gespannt auf den Bundesparteitag. Da wird natürlich nicht das Manifest zur Abstimmung stehen, aber es gibt Anträge, in denen Einzelpositionen aufgegriffen werden.

Ein Faktor der von dem Manifest ausgelösten Unruhe scheint in der Tat der Bundesparteitag zu sein. Woher kommt diese Nervosität? Die Parteitagsregie bei SPD-Parteitagen funktioniert ja in aller Regel sehr zuverlässig im Sinne der jeweiligen Parteispitze.

Von vielen Medien und auch den Vertretern der offiziellen Linie wurde vor allem auf den Aspekt des Vertrauensentzugs abgehoben. Und dann kommt natürlich schnell die bedrohlich wirkende Frage, was nun mit der Regierung oder mit der Regierungsbeteiligung passiert. Aber Sie haben recht: Es gibt – nicht nur bei der SPD – eine sehr zuverlässige Parteitagsregie. Allerdings sind in der Geschichte der Partei die Parteitage der Ort gewesen, wo die großen Diskussionen stattfanden. Das ist allerdings ein bisschen aus der Mode gekommen. Leider werden die Inhalte des Manifests derzeit nicht nur selektiv, sondern zum Teil auch verfälschend wiedergegeben. Das fördert solche Diskussionen natürlich auch nicht. Aber es zeigt, dass dieses Manifest einen wunden Punkt getroffen hat.

Bezeichnend ist ja, dass das Manifest inhaltlich gar nicht, wie hier und da behauptet, an die Positionen der Friedensbewegung der alten Bundesrepublik anknüpft, sondern an den Staatsstandpunkt der 70er und 80er Jahre: Die »Verteidigungsfähigkeit« wird bejaht, aber mit einem Bekenntnis zu Rüstungskontrolle und diplomatischer Annäherung verbunden. Und diese Position, die bis in die Union hinein mal Konsens war, sorgt im Jahr 2025 für gewaltige Aufregung.

Genau. Aber es ist meines Erachtens immer noch so, dass der in dem Manifest vertretene Ansatz in fast allen im Bundestag vertretenen Parteien Anhänger hat. Am eindeutigsten im BSW, aber die haben es nicht in den Bundestag geschafft. In der SPD wird jetzt offen darüber diskutiert. Bei den Grünen sind es nicht viele, aber da gibt es solche Auffassungen auch. Und in der CDU sowieso. Aber diese Leute halten still, weil es dort ganz besonders riskant ist, den Kopf hochzuheben. Aber der vielerorts erweckte Eindruck, als sei das eine spezifisch sozialdemokratische Diskussion, ist falsch.

Stichwort Kopf hochheben: Auffallend an dem Manifest ist, dass es bei den Erstunterzeichnern einen sehr hohen Anteil an »Ehemaligen« gibt: ehemalige MdBs, ehemalige Funktionäre, ehemalige Minister. Also im Durchschnitt Leute, die ihre politischen Karrieren hinter sich haben. Muss man daraus schließen, dass auch in der SPD jüngere Abgeordnete und Funktionäre den Kopf nicht hochheben, weil sie die Konsequenzen für ihr weiteres Fortkommen fürchten? Oder bedeutet das, dass die Zustimmung unter den »Alten« tatsächlich sehr viel größer ist als bei jüngeren Parteimitgliedern?

Beide Deutungen könnten zutreffen. Es kann sein, dass Leute aus der jüngeren Generation, die ihre Karriere noch vor sich haben, sich in dem Punkt zurückhalten. Gerade dann, wenn sie nicht auf dem Feld der Außen- und Rüstungspolitik arbeiten. Und auch wenn Umfragen zeigen, dass in der jüngeren Generation viel Zustimmung für solche Positionen wie im Manifest vorhanden ist, sollte man die Generationenfrage nicht vom Tisch wischen. Einfach, weil der Erfahrungshintergrund ein anderer ist. Ich bin Jahrgang 1948. Der Zweite Weltkrieg war für meine Altersgruppe noch sehr nah. Und ganz bewusst haben wir den Höhepunkt des Kalten Kriegs um 1960 erlebt. Das macht schon einen Unterschied.

Was die Umfragen angeht: Vielleicht gibt es einfach einen großen Unterschied zwischen dem Durchschnitt der jüngeren Generation und dem angepassten Durchschnitt der Nachwuchspolitiker in den großen Parteien.

Da stimme ich Ihnen vollkommen zu. Das ist auch meine Erfahrung aus den innerparteilichen Diskussionen, an denen ich 2022 und 2023 nach dem Beginn des Krieges teilgenommen haben.

Warum gibt es das Manifest erst jetzt? Seit 2022 hat sich ja so etwas wie eine publizistische Hegemonie der Akteure eingestellt, gegen deren Positionen sich das Papier richtet. Und die hat es letztlich auch möglich gemacht, dass so etwas wie die Stationierung von US-Mittelstreckenraketen in Deutschland gleichsam im Handstreich beschlossen werden konnte.

Es gibt inzwischen eine fast atemberaubende Hegemonie der Befürworter von Aufrüstung und Konfrontationspolitik. Nicht nur in diesen Talkshowrunden. Aber dennoch ist es mein deutlicher Eindruck, dass es heute einfacher ist als noch vor zwei Jahren, kritische Ansätze zu formulieren und damit Gehör zu finden.

Das Manifest vermeidet es in recht auffallender Weise, die Akteure zu benennen, die die Aufrüstungsagenda und die Konfrontationspolitik vorantreiben. Einmal ist von »Kräften« die Rede, die sich durchgesetzt haben. Müsste man da nicht deutlicher werden und sich zum Beispiel auch zur Rolle der Regierungspartei SPD äußern?

Ich denke, dass die Autoren da ganz bewusst unkonkret geblieben sind. Der ganze Irrweg der Osterweiterung der NATO und dann sogar der Option des Beitritts der Ukraine gehört, ohne dass das den russischen Angriff rechtfertigt, zur Vorgeschichte dieses Krieges. Ich gehe davon aus, dass das von einem großen Teil der Sozialdemokratie so gesehen, aber nicht formuliert wird. Und wenn, dann sehr vorsichtig.

Das ist doch erklärungsbedürftig. In dem Manifest werden unbestreitbare Tatsachen festgestellt. Zum Beispiel, dass die Aufkündigung wichtiger Rüstungskontrollvereinbarungen zumeist durch die USA erfolgte. Oder dass die europäischen NATO-Staaten auch ohne die USA Russland konventionell militärisch deutlich überlegen sind. Das ist aber der deutschen Öffentlichkeit überwiegend gar nicht bekannt. Auch, weil derlei in der sozialdemokratischen Debatte kaum noch ausgesprochen wird. Warum ist das eigentlich so?

Das Problem hat ältere Wurzeln. Ich erinnere daran – weil das heute weitgehend vergessen ist –, dass die SPD in den 60er Jahren die am stärksten transatlantisch orientierte Partei in der Bundesrepublik war. Mit einer sehr positiven Einschätzung der weltpolitischen Rolle der USA bei völliger Fixierung auf den Ost-West-Konflikt. In der Zeit der sogenannten neuen Ostpolitik hat man die Kritik der Union, dass man sich damit vom »Westen« entferne, immer energisch zurückgewiesen. Und dieses Erbe wirkt sogar bei kritischen Sozialdemokraten immer noch fort bzw. konnte seit 2022 wieder reaktiviert werden.

In der politischen Kommentierung nach 2022 wurde das ganz anders dargestellt. Da war die SPD auf einmal eine Partei, die immer irgendwie »nach Moskau« geschielt hat. Das ging bis hin zu Forderungen, sich nun aber mal von der Ostpolitik vergangener Jahrzehnte zu distanzieren.

Das ging und geht allerdings komplett an der Realität der sozialdemokratischen Politiktradition vorbei. Die hatte immer eine im weiteren Sinne prowestliche Tendenz: Die Vorstellung einer westlichen Wertegemeinschaft, eines gemeinsamen Grundinteresses der Demokratien – das war, bei allen Differenzen zum Beispiel in den 70er Jahren, immer da. Und das spielt bis heute eine Rolle und erklärt bis zu einem gewissen Grad, warum gewisse Tatsachen gar nicht oder nur sehr verhalten benannt werden.

Können die Positionen des Manifests, die wie gesagt nicht einfach mit den Positionen der alten Friedensbewegung zu identifizieren sind, dennoch ein Ansatzpunkt dafür sein, die nicht erst sei 2022 offensichtliche Schwäche der Friedensbewegung in der Bundesrepublik zu überwinden?

Das sind tatsächlich zwei Paar Schuhe. Aber das heißt nicht, dass das eine völlig unabhängig vom anderen stattfindet. Es gibt in dem Manifest unabhängig vom innerparteilichen Zweck Forderungen, die für die Friedensbewegung unmittelbar anschlussfähig sind und ja dort auch vertreten werden. Ich war Anfang der 80er Jahre in der Friedensbewegung aktiv und sehe natürlich die Unterschiede zur Gegenwart. Zum Beispiel wird die Bedrohung heute vielfach noch nicht wieder als so existentiell empfunden wie damals. Und teilweise gibt es eine gewisse Ratlosigkeit, die zum Teil daraus entsteht, dass auf Forderungen nach diplomatischen Initiativen und Rüstungskontrolle sofort mit dem Vorwurf geantwortet wird, das sei irgendwie im Interesse »der Russen«. Diese Verunsicherung spielt eine große Rolle.

Peter Brandt, Jahrgang 1948, ist Historiker und war bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand Professor an der Fernuniversität Hagen. Er ist Erstunterzeichner des Manifests zur »Friedenssicherung in Europa«

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