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Aus: Ausgabe vom 19.06.2025, Seite 3 / Schwerpunkt
Pädosexualität 

Im Kollektiv

Sexualisierte Gewalt in der Jugendantifagruppe: 30 Jahre später beginnen Betroffene selbstbestimmt die Aufarbeitung
Von Ina Sembdner
Sie wollten gegen Faschisten kämpfen und gerieten an einen Pädosexuellen: Die Edelweißpiraten demonstrieren 1994 in Zittau
Nicht nur T-Shirts erinnern Daniel an seine Jugendantifazeit in den 90er Jahren

Es ist nur schwer vorstellbar: Das eigene Gewalterlebnis droht sich 30 Jahre später an anderen– zumal Kindern und Jugendlichen – zu wiederholen. Ein Eingreifen ist allerdings auch nicht ohne weiteres möglich. Unabhängig davon kommen Traumata und der Wunsch nach Aufklärung hoch. Doch konkret: In den 1990er Jahren gründete sich in der linksautonomen Szene Berlins die Jugendantifagruppe Edelweißpiraten in Anlehnung an den antifaschistischen Vorläufer in Nazideutschland. An ihrer Spitze als Quasigruppenleiter, wie ihn Daniel Groß (Name ist der Redaktion bekannt), ein damals Betroffener, im Gespräch mit jW nennt: A. K.. Er bot einer losen Gruppe hauptsächlich männlicher Jugendlicher einen Raum, in dem sie mit ihren Krisen aufgefangen werden sollten. Die Realität? Ein Täter, der sexualisierte Gewalt gegen männliche Kinder und Jugendliche als »freie schwule Liebe« verschleiert und die Betroffenen in unterschiedlicher Art und Weise ausgenutzt hat, bis hin zu Vergewaltigungen. Weibliche Jugendliche wurden aus der für die jungen Antifas offenstehenden Wohnung K.s »rausgedrängt« – sie waren weniger von Interesse für den damals Mitte 30jährigen. Auch sie sind Teil der Gruppe, die sich im vergangenen Jahr auf Initiative zweier Betroffener (wieder)gefunden hat.

Als bekannt wird, dass K. in Berlin-Wedding weiterhin im Umfeld Jugendlicher aktiv ist und auf Stickern, die zu einer von ihm betreuten Mailadresse führen, »antifaschistische Jugendliche« gesucht werden, wendet sich die Gruppe an die Öffentlichkeit und spricht im Herbst mit der Taz. Die Recherche initiiert ein Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Berlin, und einige aus der Gruppe sind nunmehr auch bereit, mit der Polizei zusammenzuarbeiten. Sie gehen allerdings davon aus, dass die Taten als verjährt eingestuft werden, und wollen diesen Schritt vor allem selbstbestimmt gehen. Auch K. äußert sich im Zusammenhang mit dem Artikel schriftlich und räumt in einer Stellungnahme »unangemessene sexuelle Beziehungen zu Jugendlichen« ein. Er habe lange kein Bewusstsein dafür gehabt, »dass das falsch war«. Die wichtigste Konsequenz sei für ihn gewesen, »dass ich danach keinen sexuellen oder Beziehungskontakt zu Jugendlichen mehr aufbaute«. In der jW vorliegenden Antwort auf eine Nachfrage der Taz zu dem Sticker erklärt er, nichts mit dieser entsprechenden Vereinsarbeit zu tun zu haben. Zudem lebe er in einer festen Beziehung mit einem 29jährigen. Am Ende versteigt sich K. in Geraune zu den mutmaßlichen Hintergründen der Veröffentlichung – einige »sind ja bis heute politisch sehr extremistisch«.

Angesichts dieser von den Betroffenen so empfundenen potentiellen Gefährdung weiterer Jugendlicher wird der Zusammenschluss um so wichtiger. Neben den Überlegungen, wie eventuell zu intervenieren sei, wird klar, dass sie die sexualisierte Gewalt auch »inhaltlich thematisch behandeln wollen«, erzählt Groß. Was folgte, war zunächst ein Erkenntnisprozess über das Ausmaß – vergleichbare Gewalt in Kirche, Sport, in Familien. Menschen, die das erleiden mussten, finden zusammen und erarbeiten sich gemeinsam einen Weg aus den Traumatisierungen, die oft lange unterdrückt blieben. So auch bei Groß und den anderen. Sie sind nun Teil davon. Und sie wollen das Erlebte aus dem privaten Bereich herausholen und bewusst die Öffentlichkeit suchen. Die intensive Zusammenarbeit im Vorfeld des Taz-Artikels führte dazu, dass die Vorwürfe gegen K. und das Umfeld, in dem er sich bewegte, detailliert dargestellt wurden. Die Hoffnung der Gruppe liegt darin, dass andere – Erwachsene – ihn damit konfrontieren.

Für die Gruppe Betroffener ist darüber hinaus Selbstermächtigung zum zentralen Momentum geworden. Die wenigsten hatten bis zum ersten Zusammentreffen im vergangenen Jahr das Erlebte aufgearbeitet, die meisten 30 Jahre lang keinen Kontakt zueinander. Viele empfanden »Unsicherheit, Vorsicht und Skepsis«, erzählt Groß. Während sich die zehn, 15, manchmal 20 Personen auf den Prozess der Aufarbeitung »sowohl auf individueller Ebene als auch als Kollektiv« einlassen, müssen sie erst einmal realisieren, »wie wenig Freiwilligkeit damals mit im Spiel war«. Auch die Bereitstellung seiner Wohnung für die Kinder und Jugendlichen sei eine »typische Täterstrategie«. Nicht nur Groß sah das damals als »Ort der Freiheit«, der in Wirklichkeit jedoch ein »Ort des Missbrauchs« gewesen sei. Denn es war ganz klar: »Dort findet sexualisierte Gewalt statt, und das wussten auch alle. Aber durch die Manipulation der Freiwilligkeit hat man das damals nicht kritisiert.« Groß gehörte dann zu einigen Jugendlichen, die mit 16, 17 unabhängig voneinander »ein mulmiges Gefühl« gegenüber dieser »freiwilligen« Sexualität entwickelten und sich einander vorsichtig anvertrauten. Im Wissen, dass die Gedanken, sollten sie ausgesprochen werden, »zum Ausschluss aus der Gruppe geführt hätten«.

Sie selbst waren so weit, weil sie sich zu diesem Zeitpunkt aus der »Manipulation weitgehend selbst herausgearbeitet« hatten. Mit der notwendigen emotionalen Distanz forderten sie K. auf, aus der gemeinsamen Wohnung zu ziehen, und warfen ihn aus der Gruppe. Mit der Folge, dass die Edelweißpiraten »in einem riesigen Knall auseinanderflogen«, K. innerhalb der linksautonomen Szene »unter Druck« geriet und sich daraufhin zurückzog. »Es ist uns tatsächlich gelungen, den Täter weitgehend von anderen Jugendlichen zu isolieren«, fasst Groß diesen »wichtigen Prozess der Selbstermächtigung« für die kleine Gruppe Beteiligter zusammen. Andere Betroffene aus der Gruppe hätten erst später oder durch den Austausch mit anderen gemerkt, »wie krass das eigentlich war«.

Das Ziel, den Täter von Strukturen mit Kontakt zu Kindern und Jugendlichen fernzuhalten, verfolgen sie weiterhin. Und die empathischen und bestärkenden Reaktionen auf den weit zirkulierenden Artikel hätten die Gruppe in ihrer Entscheidung bestärkt, das Erlebte gemeinsam als Kollektiv aufzuarbeiten – auch mit Unterstützung der Unabhängigen Kommission für sexuellen Kindesmissbrauch, so Groß. Mit ihrer Vorstudie zu »Programmatik und Wirken pädosexueller Netzwerke in Berlin« hat sie den Kontext des selbst Erlebten geliefert. Und auch die Suche nach weiteren Betroffenen »ist uns wichtig«, betont Groß: »weil wir davon ausgehen, dass der Täter sowohl vor unserer Zeit in der Jugendantifagruppe von ungefähr 1992 bis 1997 als auch danach Kinder und Jugendliche sexuell missbraucht hat«.

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