Man müsste zwei Leben haben
Von Wolfgang Nierlin
»Plötzlich gibt es einen gewaltigen Krach.« Als gäbe es »ein Erdbeben im Herzen von Marseille« fallen am 5. November 2018 in der Rue d’Aubagne zwei fünfstöckige Häuser in sich zusammen. So beginnt Robert Guédiguians neuer Film »Das Fest geht weiter!« (»Et la fête continue!«). Dokumentarische Aufnahmen zeigen einen Berg aus Schutt und Staub. Acht Menschen sterben bei dem Unglück, das kein zufälliges war. Denn in der Altstadt der Mittelmeermetropole sind über 200 Gebäude baufällig. Weil etliche korrupte Kommunalpolitiker als Vermieter und Spekulanten an der Misere verdienen, wurde nichts dagegen unternommen. Kurz nach der Katastrophe kommt es zu Demonstrationen, mit denen auf die Missstände aufmerksam gemacht wird. Unter der Büste des blinden Homer, die ganz in der Nähe auf einer Säule ruht, formieren sich Protest, um die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.
In diesem politischen Klima, geprägt von den gesellschaftlichen Nachwehen der Coronapandemie, hat der politische Filmemacher Robert Guédiguian seinen sozialkritischen Ensemblefilm angesiedelt. In dessen Mittelpunkt steht eine von armenischen Einwanderern abstammende Familie, die im Grunde Guédiguians langjährige Filmfamilie ist. Es geht um ihre Arbeit, ihre Beziehungen und ihr Engagement, ihre Liebe und Freundschaft, Solidarität und Zusammenhalt vor dem Hintergrund sozialer Verwerfungen und individueller Konflikte. In der Verbindung von Öffentlichem und Privatem geht es dem französischen Regisseur, der mit seinen Filmen zum Chronisten seiner Heimatstadt geworden ist, allerdings nicht um platten Sozialrealismus. Er idealisiert im Geiste des Sozialismus die Kraft des gemeinsamen Kampfes, die zugleich tröstet und ermutigt. Die Hoffnung auf eine bessere Welt ist Guédiguians Filmen eingeschrieben.
Die früh verwitwete Rosa (Ariane Ascaride), die seit vielen Jahren als Krankenschwester in einer Klinik arbeitet und jetzt vor einem neuen Lebensabschnitt steht, sagt zu Beginn aus dem Off, sie habe gegen die Zeit das Leben gefüllt. Dazu gehört neben ihrem anstrengenden Beruf auch, dass sie sich neuerdings in der Lokalpolitik engagiert. Man müsste zwei Leben haben, um erst sich und dann anderen zu helfen, heißt es ein andermal. Rosa will aus ihrem engen Alltag ausbrechen. Sie verliebt sich in den pensionierten Buchhändler Henri (Jean-Pierre Darroussin), der sie mit seiner Belesenheit und Ironie verzaubert. Seine sozial engagierte Tochter Alice (Lola Naymark) ist mit Rosas Sohn Sarkis (Robinson Stévenin) verlobt, der eine armenische Bar betreibt und sich viele Kinder wünscht. Rosas Bruder Antonio wiederum, »Taxifahrer, Kommunist und ewiger Romantiker«, ist Junggeselle und lebt mit einer jüngeren Kollegin von Rosa in einer WG.
So hängt in Robert Guédiguians heiter-melancholischem Film auf sehr selbstverständliche, undramatische und sympathische Weise alles miteinander zusammen. Im familiären Mikrokosmos verbinden sich die Figuren. Im Viertel der Marseiller Altstadt erheben die Menschen Einspruch gegen die bestehenden Verhältnisse. Einmal gerät ein Wahlplakat in den Blick. Darauf steht: »Lokal handeln, global denken.«
»Das Fest geht weiter!«, Regie: Robert Guédiguian, Frankreich/Italien 2023, 106 Min., bereits angelaufen
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