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Aus: Ausgabe vom 16.06.2025, Seite 16 / Sport
Fußballrealität

Die Kurve als Komplize

Warum deutsche Ultras so selten gegen den Gazakrieg protestieren
Von Raphael Molter und Mathias Dehne
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Fußball ist mehr oder weniger unser Leben

Wenn linke Ultras in Deutschland heute schweigen, wo sie sprechen müssten, dann nicht aus Zufall. Es ist die Folge einer politischen Regression, die den eigenen Antifaschismus längst im bürokratischen Opportunismus eines »Zivilisationsprinzips« versenkt hat – der deutschen Staatsräson. Wer Solidarität predigt, aber beim Völkermord in Gaza stumm bleibt, weil er fürchtet, dass Israel-Bild der deutschen Öffentlichkeit zu stören, verrät den eigenen Anspruch.

Ein gutes Beispiel ist der sich als links verstehende israelisch-deutsche Journalist Felix Tamsut. Nach dem Mord an israelischen Botschaftsmitarbeitern in Washington teilte er ein Plakat mit dem Bild des getöteten Deutsch-Israelis Yaron Lischinskys, rotem Dreieck und der Aufschrift »Make Zionists afraid«. Sein Kommentar: Das hätte er sein können. Eine persönliche Identifikation mit dem Opfer. Solche Bilder wie Tamsut bloß »verabscheuungswürdig und ekelhaft« zu finden, greift jedoch zu kurz. Wenn er wie Hanna Veiler, Igor Levit oder der israelische Botschafter Ron Prosor von einem »Antisemitismus in neuem Gewand« spricht, schweigt er von der verständlichen Wut auf eine rassistische, koloniale Besatzungsstruktur, die seit Jahrzehnten Palästinenser entrechtet, vertreibt, tötet und im politischen Mainstream Israels nicht hinterfragt wird. Dass diese Wut auch verbrecherischen Ausdruck findet, ändert nichts daran, dass sie nicht bloßer Ausdruck einer mörderischen Ideologie ist, sondern eine Reaktion auf anhaltendes Unrecht.

Tamsut beklagte vor einiger Zeit im Tagesspiegel (27.2.2025) eine angebliche Spaltung in den Fanszenen hinsichtlich des Krieges gegen Gaza. Er verweist auf den Verein Altona 93, wo Fans nach dem 7. Oktober 2023 eine Fahne mit der Aufschrift »Gegen jeden Antisemitismus. Gegen jede Entmenschlichung« zeigten. Damit will er sagen: Die Solidarität mit Israel ist ein Mindestanspruch an jede propalästinensische Solidaritätsbekundung. In vielen Kurven wird dieser Weg hierzulande bereits begangen. Statt antikoloniale Kämpfe zu unterstützen, distanzieren sich viele deutsche Ultras von allem, was sie in Konflikt mit dem dominanten Nahostnarrativ bringen könnte.

Ultras, die gegen Kommerzialisierung, Verbandsautorität und Repression aufbegehren, müssten wissen, dass Antikolonialismus kein Sahnehäubchen ist, sondern Teil des Fundaments ihrer Rebellion. Es ist keine Nebensache, dass palästinensische Fans wegen der israelischen Besatzung ihr Leben verlieren, von ihren Stadien und Mannschaften ganz zu schweigen. Es ist der Kern, wogegen man kämpft.

Nach eineinhalb Jahren Krieg und Zehntausenden toten Zivilisten übt nun selbst der Kanzler ein wenig Kritik. Bloß Worte. Praktisch wird in Deutschland Israel der Rücken freigehalten. Auch linke Kurven ducken sich weg, sobald der Antisemitismusvorwurf in Anschlag gebracht wird. Vielen gelten etwa israelische Hapoel-Vereine als solidarische Partner – verklärt durch den historischen Bezug zur Arbeiterbewegung. Doch der palästinensische Jugendnationalspieler Rami Shaweesh ist kein Einzelfall. Obwohl er einen israelischen Pass hat, wollte ihn kein Verein des Landes mehr unter Vertrag nehmen, nachdem er sich für das palästinensische Nationalteam entschieden hatte. Er musste sich einen neuen Klub außerhalb Israels suchen. Vor die Tür gesetzt hatte ihn: »­Hapoel« Umm Al-Fahm. Auch vermeintlich liberale Ausprägungen des Zionismus sollten nicht verklärt werden.

Vielerorts hat die Sprache der Staatsräson Einzug in die Kurven gehalten: Es gibt Opfer erster und zweiter Klasse – und wer das nicht akzeptiert, ist Antisemit. In dieser Logik sind die Mordopfer aus Washington und des 7. Oktobers schlimmer als die aus Gaza oder die der Unterdrückung seit 1948.

Linke Ultras, die diese Logik teilen, haben sich entschieden: für ein Bündnis mit einem Staat, der sich demokratisch nennt und das internationale Völkerrecht missachtet. Für die Verklärung militärischer Gewalt zu Selbstverteidigung und für die Delegitimierung von Widerstand gegen eine brutale Besatzung. Für eine Abkehr von jeder emanzipatorischen Perspektive. In Wahrheit haben sie längst ihren Platz auf der Seite der Ordnung gefunden. Sie sind die taktische Reserve der Repression.

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