Kontinent im Aufbruch
Von Michaela BindernagelNeulich traf ich in Ukunda, an der kenianischen Küste, eine Geschäftsfrau mittleren Alters. Sie lebte 17 Jahre in Österreich und der Schweiz. Dann kehrte sie zurück und sagte im Gespräch: »Hier fühle ich mich frei. Ich will nie wieder in Europa leben.«
Ein Satz, der nachhallt. Nicht, weil er spektakulär klingt. Eher ist er im Kenia von heute kein Einzelfall mehr. Dieser Satz bringt ein erneutes afrikanisches Erwachen zum Ausdruck, radikal neu positioniert. Freiheit versteht gerade die »Generation Z« nicht mehr als westlichen Export, sondern als eigenes Narrativ.
In der Schule der westlichen Demokratien hat Afrika Jahrzehnte verbracht; ein Prüfungsbogen, den kaum ein Staat bestanden hat.
Viele Länder führten formale Wahlen durch bei Ein- oder Mehrparteiensystemen, erließen Verfassungen nach westlichem Muster. Doch was folgte, war nicht Mitbestimmung, sondern Kompromisse mit alten Eliten, Dauerwahlkampf ohne Entwicklung und eine Idee, die in der Realität zerbricht.
Kenia, das afrikanische Vorzeigeland für den westlichen Demokratieexport und Entwicklung schlechthin, verabschiedete auf Druck von unten 2010 eine neue Verfassung, die eine Bürgerbeteiligung vorsieht, von der das Grundgesetz nur träumen kann. Doch wurde sie niemals in der Praxis umgesetzt. Auch deshalb ging im Frühjahr und Sommer 2024 die »Generation Z« friedlich landesweit auf die Straße und machte trotz brutaler Polizeigewalt, bezahlter Provokationen, Todesschüssen und Verfolgungen, Verschleppung von Personen klar: »Demokratie ist mehr als ein Kreuz alle paar Jahre.«
Eine 26jährige junge Kenianerin sagte zu mir: »Demokratie ja; aber nicht wie bei euch im Westen!«
Die mit am Tisch sitzenden jungen Menschen nickten alle mit dem Kopf. Sie trauen der Parteiendemokratie nicht mehr, die in den Jahren nach der Unabhängigkeit bis heute eine gewaltige Korruption befördert und den Reichtum der alten und neuen Eliten vergrößert, während das Volk weiter verarmt.
Als die Armeeführung in Nairobi den Befehl verweigerte, gegen die Protestierenden mit Waffengewalt vorzugehen, lag selbst in Kenia ein Militärputsch in der Luft.
In Mali, Burkina Faso, Niger, Guinea stürzten in den vergangenen Jahren Militärs die demokratisch gewählten Präsidenten. Westliche Medien sprechen reflexhaft von Rückschritt, von Autoritarismus. Doch in den Straßen Conakrys, Ouagadougous, Bamakos und Niameys wird getanzt. Es sind junge Menschen – und darunter vor allem junge Frauen und Mädchen. Ohne die Unterstützung der »Generation Z« hätten die Militärs gar keine Chance gehabt, die Herrschaft zu übernehmen.
Warum? Weil viele Menschen den Putsch als Resettaste sehen. Nicht gegen Demokratie, sondern gegen deren Simulation.
Die Militärs, vor allem in Burkina Faso unter Ibrahim Traoré, versprechen einen radikal neuen Weg, losgelöst von den alten Seilschaften und ihren Pariser oder Washingtoner Drahtziehern. »Wir sind nicht gegen Demokratie. Wir sind gegen eine Demokratie, die uns versklavt«, sagte ein Jugendlicher in Bamako.
Ibrahim Traoré, einer der jüngsten Staatschefs aller Zeiten, erklärte in einer öffentlichen Rede: »Wir sind derzeit keine Demokratie. Wir machen eine Revolution.« Er erhält Zustimmung aus ganz Afrika und von Schwarzen in den USA und Lateinamerika. Inzwischen ist er das neue Idol nicht nur der afrikanischen »Generation Z«, sondern auch von Eltern und Großeltern.
Die westliche Parteiendemokratie wird zur leeren Hülle, zur Maskerade. Die Putsche werden als Chance gesehen, endlich echte Souveränität zu gewinnen. Das Militär? Ein Notarzt, nicht der neue König.
Was die Militärs im großen Maßstab artikulieren, berichten viele Rückkehrer im Persönlichen. In Europa fühlten sie sich oft reduziert auf die Hautfarbe, bevormundet im Denken, entfremdet von sich selbst, nicht anerkannt. Sie sehen die Freiheit dort als das, was gesagt werden darf, aber nicht, was gesagt werden sollte.
Zurück in Kenia oder Westafrika, entdecken sie ein anderes Freiheitsverständnis: Verantwortung statt Reaktion; Nähe statt Funktion; Gemeinschaft statt Vereinzelung. Der Putsch von oben trifft so auf einen Bewusstseinswandel von unten.
Afrika lernte in den vergangenen Jahrzehnten, dass das Volk nicht herrscht, sondern ständig durch NGO-Eliten, Kreditauflagen und von außen finanzierte Oppositionsparteien verwaltet wird.
Im Afrika von heute gibt es eine Diskussion, die tief in die politische Philosophie eingreift: Muss Demokratie immer Parteien haben? Muss sie den westlichen Normen folgen? Darf sie Gemeinschaften, Stämme, Ältestenräte und Militärs einbinden, solange sie dem Volk dienen?
Die Rückkehr der Militärregierungen ist kein nostalgischer Griff nach Uniform und Gehorsam. Es ist der Ausdruck eines Kontinents, der sich befreien will vom Westen und von den westlich geprägten Illusionen.
Was Afrika derzeit lebt, ist eine Art von Aufklärung: nicht über das Denken, sondern über das Fühlen der Freiheit; ein Erdbeben für unsere politischen Kategorien; eine Einladung, zuzuhören, statt zu belehren.
»Hier fühle ich mich frei.«
Dieser Satz fasst den Paradigmenwechsel zusammen: nicht die Freiheit, alles zu sagen, sondern die Freiheit, nicht alles gesagt zu bekommen. Nicht die Freiheit, sich überall aufzuhalten, sondern die, sich selbst zu finden.
Afrikas »Generation Z« kennt Tik Tok, kennt westliche Debatten und wählt bewusst einen neuen Weg: nicht zurück ins Alte, vorwärts in die eigene Demokratie.
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