Entfesselt auf See
Von Christian Bunke
Am 18. Juni 1935 erfuhr die Weltöffentlichkeit erstmals vom sogenannten deutsch-britischen Flottenabkommen. Es handelte sich dabei um eine bilaterale Übereinkunft, die es dem faschistischen Deutschen Reich erlaubte, die Größe der Kriegsmarine auf 35 Prozent der Flottenstärke der Royal Navy des Vereinigten Königreichs anzupassen, und zwar auf permanenter Basis. Großbritannien akzeptierte damit das Aufrüstungsprogramm des Deutschen Reichs und die damit verbundenen Verstöße gegen den Versailler Vertrag als Fakt, was zu Verstimmungen unter anderem in Frankreich führte. Paris hatte immer auf eine genaue Einhaltung des Versailler Vertrags gepocht, welcher der deutschen Aufrüstung enge Grenzen gesetzt hatte. Großbritannien war dagegen schon in den frühen 1930er Jahren bereit, den Versailler Vertrag aufzuweichen, in der Hoffnung, die ohnehin stattfindende deutsche Aufrüstung so besser kontrollieren zu können.
Das faschistische Regime sah das Flottenabkommen als Erfolg. Vor allem Adolf Hitler erkannte darin ein positives Signal für ein mögliches Bündnis mit Großbritannien für den kommenden, von den Nazis immer offener vorbereiteten Weltkrieg. Diese Hoffnungen sollten sich in den kommenden Jahren allerdings zerschlagen, da Großbritannien als Garantiemacht für Polen auftrat und nach dem Einmarsch deutscher Truppen in das Nachbarland im September 1939 dem Deutschen Reich den Krieg erklärte. Bereits zuvor, am 28. April 1939, hatte Hitler das Abkommen aufgekündigt, um auch die 35-Prozent-Beschränkung loszuwerden. Es gelang dem »Dritten Reich« allerdings nicht mehr, eine Kriegsmarine aufzubauen, die der britischen Royal Navy ernsthaft hätte Paroli bieten können. Insofern war die britische Verzögerungstaktik erfolgreich.
Das Gleichgewicht halten
Aus britischer Perspektive wird das Flottenabkommen heute oft als wichtiges Beispiel einer »Appeasement«-Politik bezeichnet, mit welcher das Vereinigte Königreich damals versuchte, einen neuen Krieg mit dem deutschen Reich zu verhindern, oder zumindest so lange wie möglich herauszuzögern. Tatsächlich spiegelt das Flottenabkommen das sehr fragile und instabile Kräfteverhältnis zwischen den rivalisierenden Großmächten der damaligen Zeit wider. Der Wettlauf um Zugang zu neuen Märkten, Handelsrouten und Kolonien, welcher maßgeblich zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs beigetragen hatte, existierte auch nach dessen Ende weiter und verschärfte sich sogar.
Konkret sah sich London in den 1930er Jahren nicht nur durch das Deutsche Reich, sondern auch durch das ebenfalls faschistische Japan herausgefordert. Großbritannien war zu diesem Zeitpunkt noch eine global agierende Großmacht mit Kolonien in allen Weltteilen, für deren Beherrschung das Vereinigte Königreich vor allem auf seine Rolle als führende Seemacht setzte. Aber auch Japan rüstete seine Flotte auf, mit der klaren Intention, zu einem späteren Zeitpunkt auch die Briten herausfordern zu können.
London konnte sich in den 1930er Jahren ein Wettrüsten auf See aber kaum leisten, da die entsprechenden heimischen Industrien noch stark unter der Weltwirtschaftskrise litten. Deswegen war die internationale Diplomatie Großbritanniens darauf ausgerichtet, ein globales Wettrüsten im Bereich der Marine über die Festlegung von Tonnagequoten zu verhindern. So sollte ein Gleichgewicht der Kräfte gewährleistet werden, wobei Großbritannien die mit Abstand größte Kriegsflotte behalten sollte. Zusätzlich versuchte der Inselstaat, eine für sich günstige Balance der Waffengattungen auf See zu erreichen. Das bilaterale Flottenabkommen zwischen den Nazis und Großbritannien sorgte auch deshalb in Italien und Frankreich für Unmut, weil das Abkommen die maritime Dominanz Großbritanniens zwar absicherte, es Deutschland aber ermöglichte, eine stärkere Kriegsmarine als jene Frankreichs und Italiens aufzubauen.
Primat der Luftwaffe
Innenpolitisch hatte der britische Staat in den 1930er Jahren noch mit den Spätfolgen des Ersten Weltkriegs zu kämpfen. Vor allem war Westminster mit einer anhaltenden starken Antikriegshaltung in der Bevölkerung konfrontiert. Die 1935 regierenden Konservativen wollten daher alles vermeiden, was den Anschein einer Aufrüstung erwecken konnte. Insbesondere das Wettrüsten im Flottenbereich zwischen Großbritannien und dem deutschen Kaiserreich seit Ende des 19. Jahrhunderts hatte Spuren hinterlassen: Völlig zu Recht erkannten große Bevölkerungsteile in einer möglichen neuen Aufrüstung der Marine der kapitalistischen Großmächte die Gefahr eines neuen Weltkriegs. Während die britische Regierung mit Nazideutschland verhandelte, konnten unter anderem in London sozialdemokratische Kandidaten Nachwahlen zum Unterhaus mit überzeugend vorgetragenen pazifistischen Positionen gewinnen. Im Unterhaus selbst sah sich die Regierung mit Forderungen der Opposition nach einer parlamentarischen Untersuchung der Machenschaften und Profite der privaten britischen Rüstungsindustrie konfrontiert.
In diesem Kontext war Großbritannien bereit, eine begrenzte Aufrüstung der Flotte des Deutschen Reichs samt Produktion neuer U-Boote zu tolerieren. Innerhalb des britischen Staatsapparats herrschte ohnehin die Auffassung vor, dass die eigentliche Bedrohung durch Deutschland in dessen rapider Ausweitung der Luftwaffe bestand. Strategen des britischen Militärs gingen davon aus, dass Nazideutschland – sollte es zu einem erneuten Krieg kommen – den offenen Kampf mit der britischen Flotte vermeiden und eher alles daransetzen würde, Großbritannien im Luftkrieg zu bezwingen. Diese Auffassung bestätigte sich im Verlauf des Zweiten Weltkriegs. Im »Battle of Britain« im Jahr 1940 flog Hermann Görings Luftwaffe massive, aber letztlich erfolglose Angriffswellen gegen Großbritannien. Im Jahr 1935 lag all dies noch in weiter Ferne. Es herrschte innerhalb des britischen Staatsapparats jedoch schon zu diesem Zeitpunkt große Besorgnis über das deutsche Rüstungsprogramm – vor allem, als das Deutsche Reich verkündete, es habe nun Parität mit der britischen Luftwaffe erreicht, und plane sogar, diese in den kommenden Jahren zu überflügeln.
Ausnahmen für U-Boote
Die Regierung Seiner Majestät im Vereinigten Königreich stimmt auch mit den Erklärungen überein, die von den deutschen Vertretern bei den jüngsten Gesprächen in London über die Art der Anwendung dieses Grundsatzes abgegeben wurden. Diese Erklärungen lassen sich wie folgt zusammenfassen:
1. Das Verhältnis 35:100 soll ein dauerhaftes Verhältnis sein, d. h. die Gesamttonnage der deutschen Flotte darf niemals den Prozentsatz von 35 der Gesamttonnage der Seestreitkräfte, wie sie vertraglich festgelegt sind, der Mitglieder des britischen Commonwealth of Nations überschreiten, oder, falls es in Zukunft keine vertragliche Begrenzung dieser Tonnage geben sollte, den Prozentsatz von 35 der Gesamttonnage der Mitglieder des britischen Commonwealth of Nations.
(…)
6. Auf dem Gebiet der Unterseeboote hat Deutschland jedoch das Recht, eine Unterseetonnage zu besitzen, die der gesamten Unterseetonnage der Mitglieder des britischen Commonwealth of Nations entspricht, wobei das Gesamtverhältnis 35:100 nicht überschritten werden darf. Die deutsche Regierung verpflichtet sich jedoch, dass die deutsche U-Boot-Tonnage, außer unter den im unmittelbar folgenden Satz genannten Umständen, 45 Prozent der Gesamttonnage der Mitglieder des Britischen Commonwealth of Nations nicht überschreiten wird. Die deutsche Regierung behält sich das Recht vor, für den Fall, dass eine Situation eintritt, die es ihrer Meinung nach erforderlich macht, dass Deutschland von seinem Recht auf einen Prozentsatz der U-Boot-Tonnage Gebrauch macht, der die oben genannten 45 Prozent übersteigt, dies der Regierung Seiner Majestät im Vereinigten Königreich mitzuteilen, und kommt überein, dass die Angelegenheit Gegenstand freundschaftlicher Erörterungen sein soll, bevor die deutsche Regierung von diesem Recht Gebrauch macht. (…)
links & bündig gegen rechte Bünde
Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.
Ähnliche:
- CPOA(Phot) Tam McDonald/Crown copyright 2010/Open Government Licence v3.017.09.2021
Militärpakt gegen China
- imago/United Archives International03.07.2020
Bewaffnete Neutralität
- United Archives/picture alliance08.11.2017
Keine zweite Front
Regio:
Mehr aus: Geschichte
-
Anno … 25. Woche
vom 14.06.2025