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Aus: Ausgabe vom 13.06.2025, Seite 16 / Sport
Fußball

Die Sprache des Fußballs

Anmut der Imperfektion: Thomas Müller geht bei der Klub-WM auf Abschiedstournee
Von Jürgen Roth
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Es müllert

Nach vierhundert Jahren im Profikader des FC Bayern München, in denen er einen Rekord nach dem anderen aufstellte und zentnerweise Titel einheimste, nach achtzigtausend Pflichtspielen, in denen er allezeit den »modernen Gladiator« (Selbstbezeichnung) gab, hat Thomas Müller keinen neuen Kontrakt mehr erhalten. Das ist mindestens ärgerlich, wenigstens für jene, die im Fußball – und sei das naiv – immer noch etwas anderes sehen als lediglich ein Gefilde rücksichtsloser und nicht selten korrupter Akkumulation.

Müller war stets ein Realist, geerdet, bodenständig, ein Anti-Ronaldo, bei aller Inklination zum Unterhaltungstamtam – stets gegen die Überhöhung der populärsten aller Sportarten durch die Medien, gegen das feuilletonistische Geschwafel und das Bedeutungsgehubere, und die Idioten vom Fernsehen führte er in den grenzenlos behämmerten Field-Interviews und auf hanebüchen überflüssigen Pressekonferenzen schelmisch, sarkastisch und normverletzend vor. Ein paar seiner Antworten auf Fragen, die keinem Grundschüler einfielen, sind zu Klassikern avanciert: »Das ist jetzt schon sehr viel Konjunktiv«; »Wir Fußballer denken nur von heute bis gestern«; »Unser Ziel war immer, im Halbfinale auszuscheiden, und dementsprechend wer’n mer auch mit ’ner laschen Einstellung reingehen«; »Du bist doch einer, der da in der vordersten Reihe trommelt, wenn’s drum geht, Musik zu machen. Also, ihr seid’s ja schon immer ganz schön lustig zu euch selbst«; und nach dem Titelgewinn 2014: »Des interessiert mi’ ois net, der Scheißdreck! (…) Den Scheißdreck-Gold’na-Schuh konnst da hintern Ohr’n schmier’n!«

Müller, der Filou, ist unermesslich. Dass der Zeit kürzlich, in der Ausgabe 20/2025, nichts anderes einkam, denn den »lustigen« Fünfunddreißigjährigen als »Entertainer« zu preisen, der gefälligst eine Zweitkarriere im nichtigen TV-Expertenwesen anzustreben oder -treten habe – immerhin überlieferte das Hamburger Blatt in diesem Zusammenhang Müllers unsterblichen Satz: »Langsam habe ich das Gefühl, dass ich mit meinem linken Fuß mehr anfangen kann, als nur Bier zu holen« –, sagt einiges über den Zustand der von der Nummer 25 beständig verspotteten Presse. Dito die FAZ versammelte nur fade, phrasentriefende Statements zu »Radio Müller« und zum »Raumdeuter«, etwa vom verklemmten Ehrgeizling Philipp Lahm (der, notabene, der beste Außenverteidiger aller Zeiten war) oder vom Pressesprecher des FCB und Fernsehfuzzi Dieter Nickles (Taxifahren mit dem »weltberühmten Fußballer« – »ein herrlicher Trip«).

Mein Kumpel Steve, Sohn der Nürnberger Legende Dieter Eckstein, meint, Thomas Müller, den er bei einem Hallenturnier kennengelernt hat, sei tatsächlich ein nicht verbogener, ein »gerader Typ«. »Menschlich und charakterlich ist er einer der geilsten Fußballer aller Zeiten«, sagt er – in der Kabine habe Müller, hört man allenthalben, segensreich auf die Mannschaftskameraden eingewirkt –, und Steve ergänzt: »Natürlich muss ich bei ihm an Gerd Müller denken. Beide konnten nicht Fußball spielen und schossen die schönsten Tore aus dem Nichts.«

Der göttlich dissolute Diego Maradona, damals argentinischer Nationaltrainer, schmähte Thomas Müller mit den Worten: »Wer ist Müller? Der hat überhaupt keine Muskeln. Der sieht aus wie ein Hosenverkäufer.« Der Hosenverkäufer spendierte der Albiceleste im WM-Viertelfinale 2010 als Gegenleistung in der 3. Minute das 1:0 und stach alsdann im Fallen den Ball auf Podolski durch, der ihn zwecks 2:0 bloß noch Klose servieren musste (Endstand, Herr Maradona: 4:0), und erklärte später, warum er nie verletzt sei: »Wo keine Muskeln sind, kannst du dir auch nicht weh tun.«

Gegen die überirdischen Spanier war hernach kein Kraut gewachsen, aber Müller wurde Torschützenkönig. Niemand weiß, warum. »Chance für Thomas Müller – fast immer Tor«, stammelte der Zwangsneurotiker Joachim Löw, der ihn 2019 auf ekligste Weise, weil er selber Scheiße gebaut hatte, vorerst abservieren sollte. Der aufrechte Kommandant und Leninist Louis van Gaal hatte zehn Jahre zuvor, da er eine Ahnung davon hatte, was für eine unorthodoxe Erscheinung, was für ein geniales krummes Gebilde dieser Bub aus Oberbayern war und ist, dekretiert: »Müller spielt immer« – der Beißer, der Wühler, der schleichende, sich davonstehlende Laufwegemeister, der die Vorlagen »in den Rücken des Gegners« schob (was dem Kontrahenten keineswegs »schmeckte«), auf dass zum Beispiel Klose die Brasilianer ausknockte.

Instinkt, Intuition – diese Begriffe fallen einem leicht ein. Robert Lewandowski erläuterte, es gebe sehr, sehr wenige, »die Fußball verstehen wie Thomas Müller«. Da kommt keine KI mit. Die spürt nichts. Hermeneutik. Auslegung, Gefühl.

Und: das Stakselige und Hakelige. Das Schmucklose. Die verknoteten Fallrückzieher. Die Spreizsprünge. Das Köpfeln im Stürzen. Das tänzelnde Tasten nach der Balance bei der suboptimalen Ballannahme. Stolpern, die Suche nach dem Weg zum Kasten, Pike, abstauben. Rübe reinhalten. Oder mit dem Innenrist ins kurze Eck. Oder mit dem Außenrist die Kugel ins lange zirkeln. »Through the eye of a needle!« jubelte der BBC-Kommentator nach Thomas Müllers 1:0 im Gruppenspiel gegen die USA beim Championat 2014.

Thomas Müller hat eine Erkenntnis von Wilhelm von Humboldt auf den Rasen gekrakelt: mit endlichen Mitteln Unendliches, immerzu Neues gestalten. Das ist die Sprache des Fußballs. Müllers vorgebliche Unbeholfenheit gebar Kunstwerke – ungelenk erzielte Schlunztore, die der Eigensinn, sich seiner selbst nicht bewusst, ermöglichte, kleistische Grazie im Zeichen der Imperfektion.

In der 11. Minute markierte er beim 7:1 in Belo Horizonte nach einer Ecke humorlos das 1:0, den zweitausendsten Treffer in der Geschichte der deutschen Nationalmannschaft. Vor dem 3:0 durch Kroos ließ er das Leder passieren, weil er über es geschlagen hatte – unwillentliche Willentlichkeit. Im Finale gegen die Gauchos war Thomas Müller anfänglich der auffälligste Akteur (den Titel gewonnen haben Neuer, Schweinsteiger und Schürrle, um der Wahrheit die Ehre zu erweisen). Müller, das zähe, vom Ethos der Arbeit erfüllte Zahnstochermännchen, palaverte und nervte (»Freund, so nicht!«), bolzte herum, reklamierte (manchmal: schlechtes Theater). Die Geste, die ihm eigen war: sich nach einem misslungenen Abschluss mit beiden Händen an den Kopf zu langen.

Es ist so leicht, über den gebenedeiten Thomas Müller zu schreiben. Wie könnte man ihn, den Unvorhergesehenen, nicht lieben? Und sollte diese dumme Sau nicht FIFA-Präsident werden, um die Welt zu retten?

In einem halbstündigen Interview mit Sky äußerte der hochreflektierte Kerl neulich in seinem originären, elaborierten Tonfall, er wolle nicht »irgendeine Cinderella-Hülle um dieses Erlebte« legen. Und der konkrete, natürliche, habituell unsentimentale Mensch Thomas Müller sagte: »Ich bin nicht der Typ, der mehr draus macht, als es eigentlich ist.«

Er habe gerne gespielt, »weil Fußball die Menschen erhellt«. Darf man ihn ein Geschenk nennen?

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