Wie frei darf’s denn sein?
Von Ulrich Schneider
Über Pfingsten kamen mehr als 1.000 Kunstinteressierte nach Kassel, um dem Festakt zum 70. Jubiläum der Documenta beizuwohnen. Hinzu kamen Hunderte via Stream. Allein diese Zahlen verdeutlichen, wie wenig von ihrer Strahlkraft die Weltausstellung zur Gegenwartskunst eingebüßt hat. Aller Aufregung um die letzte Ausgabe zum Trotz.
Der Festakt in der Documenta-Halle war weniger historische Rückschau als eine Auseinandersetzung mit der Debatte zur vergangenen Documenta und Suche nach Antworten für die Zukunft. Wie gewöhnlich äußerte sich zunächst die Politprominenz. Der Kasseler Oberbürgermeister Sven Schoeller (Bündnis 90/Die Grünen) und der hessische Kulturminister Timon Gremmels (SPD) sind auch Aufsichtsratsvorsitzende der Documenta gGmbH. Schoeller bemühte wieder einmal das Bild einer Documenta, die sich aus einem tiefen Tal zu neuen Höhen aufschwinge. Demnach ist die Documenta 15 von 2022 also ein »Absturz« gewesen – was die mehreren hunderttausend Besucher wohl nicht so gesehen haben dürften. Schoeller rühmte die Documenta als einen Ort des Denkens und des Handelns mit den Mitteln der Kunst. Als Ort des Suchens, des Streitens, der Auseinandersetzung mit der Zeit.
Gremmels nahm den Faden auf und konstatierte zumindest, die Freiheit der Kunst sei unverzichtbar. Nicht, ohne gleich eine Einschränkung nachzuschieben: Sie sei aber nicht grenzenlos. Sie ende dort, wo die Kunst zur Bühne für gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit werde. Gleichzeitig müsse die Documenta auf die politischen Rechtsentwicklungen reagieren, schließlich würden Kunstfreiheit und Wissenschaftsfreiheit dadurch als erste beeinträchtigt.
Im Zentrum der Veranstaltung stand eine Podiumsdiskussion ehemaliger Kuratoren, die, moderiert von der Monopol-Redakteurin Saskia Trebing, über Erfahrungen und Aufgaben der Documenta sprechen sollten. Gekommen waren Roger M. Buergel (Documenta 12), Carolyn Christov-Bakargiev (Documenta 13) und Adam Szymczyk (Documenta 14). Zudem saß Naomi Beckwith mit auf dem Podium, welche 2027 die Documenta 16 leiten wird.
Abgesagt hatte Catherine David (Documenta 10), die ihre Nichtteilnahme mit der Haltung der BRD zur politischen Lage im Nahen Osten begründete. Sie gehört zu den Unterzeichnerinnen des Aufrufs »Strike Germany«, der Künstler auffordert, deutsche Kultureinrichtungen und -veranstaltungen zu boykottieren – ein Protest gegen die einseitige proisraelische Politik Deutschlands und die fehlende Meinungsfreiheit für Künstler, die sich mit den Palästinensern solidarisieren. Auch Ruangrupa (Documenta 15) waren nicht vertreten. Es mutete zynisch an, als Documenta-Geschäftsführer Andreas Hoffmann erklärte, man könne über das Fernbleiben des indonesischen Künstlerkollektivs nur mutmaßen. Wer sich an den unwürdigen Umgang mit dem Kuratorenteam erinnert, wird die Gründe kennen.
Trotz der Absagen verlief die Diskussion wohl nicht zur Zufriedenheit der Initiatoren. Denn Christov-Bakargiev forderte mit Blick auf die Antisemitismusvorwürfe gegen die Documenta 15 explizit eine uneingeschränkte Kunstfreiheit. Sie kritisierte die Polemik gegen die von Ruangrupa verantwortete Ausstellung. Persönlich habe sie die Documenta 15 genossen, so die erfahrene US-amerikanisch-italienische Kuratorin. Die Ausstellung müsse als Raum der künstlerischen Freiheit erhalten bleiben. Journalisten würden mit verzerrender Berichterstattung Vorverurteilungen begünstigen. Buergel und Szymczyk wollten dieser umfassenden Kritik so nicht folgen, doch auch Szymczyk betonte – aus eigener leidvoller Erfahrung im Umgang mit der Documenta 14 –, dass diejenigen, die über Kunst schreiben, eine besondere Verantwortung hätten und nicht vorschnell Pauschalurteile fällen sollten. Die ehemaligen Documenta-Kuratoren positionieren sich deutlich gegen jede Einschränkung der künstlerischen Freiheit zugunsten einer »Staatsräson« – das wurde zweifellos deutlich.
Auffällig ist auch, wie tief die Documenta in der Kasseler Stadtgesellschaft verankert ist. In Anlehnung an Joseph Beuys berühmtes Werk »7.000 Eichen – Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung« 1982 auf der Documenta 7, zeigt die Künstlerin Cosima von Bonin unter dem Titel »7.000 Palmen« eigene Interventionen im Stadtraum. Am Jubiläumstag bildete sich eine mehrere hundert Menschen lange Schlange vor dem Museum Fridericianum, wo Girlanden und Jutebeutel mit Palmenaufdruck verteilt wurden.
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