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Aus: Ausgabe vom 12.06.2025, Seite 11 / Feuilleton
Kino

Die drei Körbe

Arthur Francks unterhaltsamer Dokumentarfilm über die legendäre Helsinki-Konferenz
Von Ronald Kohl
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Der politische Körper, entspannt am Telefon: Leonid Breschnew (1982)

Wenn in der Außenpolitik jemals der sprichwörtliche Schwanz mit dem Hund gewedelt haben sollte, dann bei der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, die im Sommer 1975 in Helsinki stattfand. »Alles, was die Deutschen akzeptieren, werden wir auch akzeptieren«, hatte Henry Kissinger bei einem der vorbereitenden Gespräche, das im März 1974 in Moskau stattfand, angekündigt. Und er sollte Wort halten.

In seiner Dokumentation »Der Helsinki-Effekt« arbeitet der in der finnischen Hauptstadt geborene und aufgewachsene Autor und Regisseur Arthur Franck ausschließlich mit Archivmaterial. Zwischen die Ausschnitte der Kameraaufzeichnungen werden immer wieder mit Hilfe einer KI »vertonte« Auszüge aus Gesprächsprotokollen eingespielt. So erfahren wir nicht nur, wie es geklungen hätte, wenn Leonid Breschnew Englisch gesprochen hätte, weil nun mal Protokolle aus US-amerikanischen Archiven genutzt werden, wir erfahren auch, welche Lieblingsthemen er und der damalige Sicherheitsberater und anschließende Außenminister der USA, Henry Kissinger, hatten.

Breschnew erzählt dem Gast aus Übersee, seine Frau habe ihm ein Foto in der Zeitung gezeigt und dazu bemerkt: »Dr. Kissinger hat abgenommen.« – »Ich habe ihr gesagt: Mit dem Bild stimmt irgend etwas nicht.« Darauf Kissinger: »Ihre Frau ist der bessere Diplomat.«

Der Begriff »Helsinki-Effekt« bezieht sich jedoch nicht auf die Wirksamkeit von Diäten; gemeint sind die Folgen des sogenannten dritten Korbs. Doch beginnen wir mit dem ersten.

Der Film vertritt sehr glaubhaft die These, dass es die Konferenz ohne Breschnew nie gegeben hätte. Diese Schlussakte war sein Baby, und es kam auch ganz nach ihm, sagen wir: zu 70 Prozent.

Die Zeit Breschnews als Vorsitzender des Politbüros gilt ja bis heute als Periode der Stagnation, was nach der Kuba-Krise auch ganz bestimmt nicht das Verkehrteste war. Helsinki sollte gemäß Breschnews Wunsch und Wille dieses Einfrieren des Ost-West-Konflikts bis in alle Ewigkeit fixieren: »Wir wollen ein Dokument!« wird er immer wieder im Film zitiert. Kernpunkt des ersten Korbs, der vornehmlich die Wünsche der Sowjetunion enthielt, war denn auch die Unantastbarkeit der Grenzen, neben der garantierten Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten (die Dissidenten in Prag und Budapest werden darüber sicher herzlich gelacht haben). Auch wenn Breschnew Osteuropa mit dem ersten Korb den westlichen Gefahren und Verführungen entziehen wollte, war er doch ein Schritt in Richtung Angstabbau: Entspannung.

In Washington haben Kissinger und Präsident Richard Nixon augenblicklich die richtigen Schlüsse daraus gezogen. Das folgende, im Film deutlich herausgestellte Gespräch fand am 19. April 1972 im Weißen Haus statt. Nixon: »Die europäische Sicherheit macht mir Sorgen. Ich denke, wir werden da reingezogen.« Kissinger: »Wir sind da schon schön tief drin.« Nixon: »Ich weiß. Eins sag ich dir: Wenn es europäische Sicherheit gibt, kannst du verdammt noch mal diese NATO vergessen.« Kissinger: »Davon bin ich auch überzeugt.« Nixon: »Ich bin ziemlich davon überzeugt, dass die NATO ohnehin erledigt ist, unter uns gesagt.«

Warum haben sie sich dann nicht quergelegt? – Weil alle europäischen Regierungschefs die Konferenz wollten, so lautet jedenfalls Kissingers aufgezeichnete Begründung. Außerdem gab es auch noch besagten dritten Korb: Familienzusammenführung, Reisefreiheit, Zugang zu Informationen usw. Und es gab den Extrawunsch »der Deutschen«, also den der BRD.

Der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt und Henry Kissinger waren Vertraute, höchstwahrscheinlich sogar echte Freunde. Und nicht sie wollten etwas von Breschnew. Leonid Breschnew, dem allmählich die Zeit davonlief, wollte etwas von ihnen: ein Dokument eben. Also stimmte er der zusätzlichen Formulierung zu, dass Grenzen »durch friedliche Mittel und durch Vereinbarung« geändert werden können. Die deutsche Frage blieb somit offen.

Zum Schluss vielleicht noch eine Bemerkung zu der in dem sehr unterhaltsamen und auf Kurzweiligkeit bedachten Film nicht angesprochenen, eher speziellen Problematik der unmittelbaren Auswirkungen der Konferenz auf die hiesige Politik.

Helmut Schmidt, zeitlebens stark beeinflusst von Kissingers 1957 erschienenem Buch »Nuclear Weapons and Foreign Policy«, bedankte sich, indem er sich exponiert für die sogenannte Doppelstrategie einsetzte, die da hieß: Abschreckung und Entspannung.

Erich Honecker wiederum hatte aus der Sache mit den Körben gelernt: Jeder DDR-Bürger, der im Delikatladen eine Dose Ananas erstehen wollte, musste immer gleich einen ganzen Präsentkorb für schlappe 50 Mark kaufen, in der Hauptsache gefüllt mit Salatsauce von Kühne und Halberstädter Würstchen. Das war unsere Schlussakte.

»Der Helsinki-Effekt«, Regie: Arthur Franck, Finnland 2025, 89 Min., Kinostart: heute

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