Notfall Krankenkassen
Von Oliver Rast
Der Zustand ist akut, der Notfallpatient siecht auf der Intensivstation – passiert nichts, passiert das: Exitus, der Tod. Gleichnishaft steht das für die gesetzliche Krankenversicherung (GKV). Für die dramatische Situation der Mehrzahl der aktuell 94 GKV in Deutschland.
Der Befund mit Kennzahlen: Ende 2024 hätten die GKV ein Defizit von 6,2 Milliarden Euro eingefahren, sagte Michaela Gottfried, Sprecherin des Verbands der Ersatzkassen (VDEK), am Mittwoch der Frankfurter Rundschau. Mehr als 80 von ihnen erhöhten Anfang des Jahres ihre Zusatzbeiträge auf durchschnittlich 2,9 Prozent. Hinzu kommt – Gottfried: »Die Rücklagen der Krankenkassen sind deutlich unter die gesetzliche Mindestrücklage von 20 Prozent, also unter 5,45 Milliarden Euro, geschrumpft.« Und es gebe derzeit kein Konzept zur Stabilisierung der Finanzen. Deshalb erwartet die VDEK-Chefin höhere Beitragssätze auch im nächsten Jahr.
Ein Dauerproblem: sogenannte versicherungsfremde Leistungen. Die Krankenkassen erhalten beispielsweise für Bürgergeldempfänger von der Agentur für Arbeit nur eine Pauschale. Die ist oft nicht kostendeckend. Die Differenz gleichen die gesetzlichen Versicherungsträger aus. Diese Kostenlücke sollte statt dessen mit Mitteln aus dem Steuersäckel gestopft werden, sei Aufgabe des Staates, findet Gottfried. Würden die Extrakosten den Kassen erstattet, kämen rund zehn Milliarden Euro jährlich zusammen. Ein ordentlicher Batzen.
Ein Preistreiber für die Krankenkassen seien ferner »extrem hohe Arzneimittelpreise«, bemerkte Gottfried. Pharmakonzerne kassieren kräftig ab. Deshalb sei eine Reform der Arzneimittelpreise notwendig. Dringend. Was noch?
Einiges. Ideen hat die Bundestagsfraktion von Die Linke. Und zwar: Beitragsbemessungsgrenze (BBG) rauf. Unverzüglich auf 15.000 Euro des monatlichen Bruttoeinkommens. Mehrwertsteuer (MwSt.) runter. Unverzüglich von 19 Prozent auf sieben Prozent für apothekenpflichtige Arzneimittel. Beides Maßnahmen zur raschen Konsolidierung der Finanzsituation der GKV, betont die Linksfraktion in ihrem jüngst präsentierten Antrag im Parlamentsplenum. Durch die Erhöhung der BBG würden nicht nur mehr Einnahmen generiert, »sondern auch die Ungerechtigkeit teilweise beseitigt, dass hohe Einkommen effektiv einem geringeren Beitragssatz unterliegen als niedrige.« Und die Senkung der MwSt. bedeute nach Linke-Berechnungen Minderausgaben für die GKV von circa 5,5 Milliarden Euro jährlich. Zudem eine Entlastung der Patienten bei rezeptfreien Medikamenten von bis zu 1,9 Milliarden Euro.
Schritte in die richtige Richtung, bekräftigen Vertreter aus der partizipativen Gesundheitsbewegung – etwa Mitglieder des Vereins demokratischer Ärztinnen und Ärzte (VdÄÄ). Seit das GKV-Finanzloch bekannt sei, würden fast nur Leistungsstreichungen oder Eigenbeteiligungen vorgeschlagen. »Diese treffen grundsätzlich die Menschen mit niedrigen Einkommen sehr viel stärker und sind deshalb unsolidarisch«, kritisierte Nadja Rakowitz, VdÄÄ-Pressesprecherin, am Mittwoch in einem Statement. Bloß, wohin mit der Kritik?
Hierin: Auf den Tisch der zweitägigen Gesundheitsministerkonferenz (GMK) in Weimar unter dem Vorsitz der thüringischen Ressortchefin Katharina Schenk (SPD). Die GMK endet an diesem Donnerstag. Eine prima Gelegenheit, um über die Misere der GKV zu beratschlagen. Denkste! Die Kassen stehen nicht auf der Tagesordnung, die jW vorliegt. Dafür: kostenfreie Abgabe von Verhütungsmitteln, Finanzierung der Weiterbildung von Psychotherapeuten, Gutachtenstelle für Gesundheitsberufe oder Crack in Druckräumen. Sicher, alles wichtig.
Aber: Zentrale Themen wie die GKV gehörten auf die Agenda, so die Präsidentin des Sozialverbands VdK, Verena Bentele, bereits am Dienstag in einer Mitteilung. Zumal »tiefgreifende Reformen« Zeit brauchten. Die Devise aus der Diagnose kann nur lauten: schneller Reformstart, »wenn die Beiträge nicht weiter steigen und Leistungen nicht reduziert werden sollen.« Sonst bleibt die GKV: ein akuter Notfallpatient.
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