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Aus: Ausgabe vom 12.06.2025, Seite 1 / Titel
Manifest für Deeskalation

Mit Frieden auf Kriegsfuß

Einige Sozialdemokraten fordern in einem Manifest Deeskalation, Diplomatie gegenüber Russland und soziale Sicherheit trotz Aufrüstung. Vor allem Grüne sind sauer
Von Niki Uhlmann
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Anschiss: Friedensbewegte in der SPD rügen den Kriegskurs von Regierung und Boris Pistorius

Glaubt man Umfragen, dann heißt das Flaggschiff der SPD Boris Pistorius. Der steht als Bundesverteidigungsminister wie kein zweiter für die Militarisierung der Bundesrepublik im Namen einer gegen Russland gerichteten »Kriegstüchtigkeit« – und ist angeblich wahnsinnig »beliebt«. Die volkswirtschaftlich ruinöse Sanktionierung Russlands und den Sozialabbau zugunsten von Aufrüstung wollen aber nicht einmal alle Sozialdemokraten mittragen. Am Mittwoch haben kritische SPDler ein Manifest mit dem Titel »Friedenssicherung in Europa durch Verteidigungsfähigkeit, Rüstungskontrolle und Verständigung« veröffentlicht.

In Deutschland und der EU hätten sich »Kräfte durchgesetzt, die die Zukunft vor allem in einer militärischen Konfrontationsstrategie und Hunderten von Milliarden Euro für Aufrüstung suchen«, heißt es darin. Unterschrieben haben unter anderen der Bundestagsabgeordnete Ralf Stegner, der ehemalige Fraktionschef Rolf Mützenich, der Exparteichef Norbert Walter-Borjans und der ehemalige Finanzminister Hans Eichel. Für Empörung sorgte das vor allem bei den Grünen. Agnieszka Brugger, ihre Vize­fraktionschefin im Bundestag, warf den Unterzeichnern vor, zu den »üblichen Verdächtigen« zu zählen, die »bei der Postenvergabe in der SPD leer ausgegangen« seien. Die SPD-Spitze müsse sich distanzieren und »dafür sorgen, dass unsere Sicherheit gewahrt bleibt«. Der EU-Parlamentsabgeordnete Sergey Lagodinsky wütete gegen den »Rückfall in sicherheitspolitische Irrtümer vergangener Jahrzehnte«.

In dem Manifest heißt es, allenthalben werde ein »angeblich drohender Krieg« beschworen und ein »Zwang zu immer mehr Rüstung« daraus abgeleitet. Erinnert wird an den Kalten Krieg und den drohenden »nuklearen Abgrund«, der nur durch das »Zusammendenken von Verteidigungs- und Abrüstungspolitik« im Rahmen der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa abgewendet worden sei. Die »Prinzipien von Helsinki« seien aber längst untergraben worden, lang vor dem Krieg in der Ukraine durch jene der NATO im Kosovo oder Irak.

Europa müsse eine »Friedenspolitik mit dem Ziel gemeinsamer Sicherheit« betreiben, schlussfolgern die Unterzeichner. Das setze aber eine »verteidigungsfähige Bundeswehr« sowie »sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit Europas« voraus. Nur solle auch »Deeskalation« und »Vertrauensbildung« betrieben werden, konkreter: mit Russland gesprochen, »defensive Ausstattung« zwar angeschafft, aber mit »Armutsbekämpfung« und »Klimaschutz« vor allem soziale Sicherheit finanziert werden. Brugger: »Wunschdenken!«

Auf dem Bundesparteitag der SPD werde das Manifest »keine Mehrheit« finden, beruhigte sofort der außenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Adis Ahmetovic, gegenüber AFP. Dort soll ein neues Grundsatzprogramm angestoßen werden, von dem die Manifestunterzeichner offenbar befürchten, dass es die wenigen verbliebenen, ernsthaft sozialen und diplomatischen Grundsätze der SPD streichen könnte. »Die SPD muss Teil der Friedensbewegung bleiben«, warnte Stegner mit Blick auch auf die Wehrpflicht im Stern. Nur fünf von 120 SPD-Bundestagsabgeordneten hätten unterzeichnet, die »außen- und sicherheitspolitische Neuausrichtung« der SPD bleibe klar, gab sich Ahmetovic siegessicher. Tatsächlich darf bezweifelt werden, dass die Sozialdemokratie künftig mehr sein wird als ein williger Juniorpartner der CDU. Dazu bräuchte es mehr als Manifeste.

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  • Leserbrief von Mirko Scharmann aus Neustadt an der Orla (12. Juni 2025 um 16:06 Uhr)
    Manifest für eine Friedenspolitik und Diplomatie! In der SPD scheint der Geist von Brandt, Bahr, Schmidt und anderen noch nicht ganz »weggeschlossen« zu sein! Die SPD sollte sich besinnen: »Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein« (W. Brandt) … Für eine Annäherung an Russland sind auch 80 % der deutschen Bevölkerung, werden die Menschen gar nicht mehr gehört oder wird leider schon wieder einmal vorgeschrieben, was man zu denken hätte!? Es fehlt eine Generation wie Helmut Schmidt: »lieber 100 Stunden verhandeln als eine Stunde schießen«! Krieg ist kein Computerspiel, wo man drei Leben hat! Waffen über alles?, kluge Militärs wie General a. D. Kujat oder Vad werden nicht gehört oder besser man will sie nicht hören! Ich bin Menschen dankbar, die begriffen haben, ohne Frieden ist nichts. Waffen alleine reichen nicht, um den Frieden herzustellen, Menschen die Angst haben und nicht ins atomare Gras beißen wollen »abwatschen« als »Putin-Knechte«, der will Diederich Heßling mäßige Befehlsempfänger, dass ist nicht mein Ding! Was sagte damals Henry Kissinger … »Wir Amerikaner haben keine Lust für euch in Europa zu sterben«! Darüber sollte man einmal nachdenken! (Kissinger war US-Außenminister unter Nixon, nicht Trump)
  • Leserbrief von Reinhold Schramm aus Berlin (12. Juni 2025 um 12:27 Uhr)
    Die SPD-Führung 1914 und 2025 in ihrer ungebrochenen kapital-faschistischen Tradition! Wiederholt sich für die SPD-Führung wie 1914 im Schlepptau zu 2025 für die ideologische und demagogische Unterwerfung ihrer Mitgliedschaft und ihrer sozialdemokratischen DGB-Gewerkschaften unter die Interessen der politischen Lobbyisten und Eigentümer und Aktionäre der westlichen und bundesdeutschen Rüstungs- und Mordindustrien? Zumal auch die Arbeiteraristokratie der Rüstungsindustrien in Deutschland und ganz Westeuropa und Nordamerika bis zum doppelten Einkommen bei der Waffenproduktion und für die technischen und elektronischen Ausrüstungen des Militärs wie auch der Bundeswehr erhalten kann. Erinnern wir uns an die Geschichte, so waren mehr als doppelt so viele Arbeiter nach 1933 in der kapital-faschistischen NSDAP für die »Volksgemeinschaft« organisiert, als wie vor 1933 in der SPD und KPD zusammengenommen (rund 40 % von 9 Millionen der NSDAP). Die Sozialdemokratie, die nicht nur die Kriegsfinanzierung 1914 bewilligte, sondern auch auf einen antifaschistischen Kampf vor und nach 1933 verzichtete. Sie setzte nach dem äußeren WK II-Kriegsende, nach 1945 und insbesondere nach Gründung der westdeutschen BRD 1949 die Ideologie der kapital-faschistischen »Volksgemeinschaft« fort, unter dem modifiziert kapital-faschistischen Label »Sozialpartnerschaft« bis heute 2025. PS: Im Gegensatz zu 1914 und 1939/1941 befördert jede aktuelle Aufrüstung und Kriegsproduktion, auch mit Unterstützung der Parlaments- und Regierungsparteien, die Gefahr eines Nuklearkrieges und damit die atomare Vernichtung Europas und der ganzen Menschheit.
    Leseempfehlung: Sebastian Haffner »Der Verrat 1918/1919 – als Deutschland wurde, wie es ist«. Verlag 1900 Berlin: »Die deutsche Revolution von 1918 war eine sozialdemokratische Revolution, die von den sozialdemokratischen Führern niedergeschlagen wurde: ein Vorgang, der in der Weltgeschichte kaum seinesgleichen hat.«
  • Leserbrief von Ulrich Sander aus Dortmund (12. Juni 2025 um 11:52 Uhr)
    Militärische Gewalt ist legitimes Mittel der Politik und 80 Jahre deutsche Zurückhaltung müssen nun vorbei sein, sagte im Februar 2022 der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil. Frieden könne es nur gegen Russland und nicht mit Russland geben. »Heute geht es darum, Sicherheit vor Russland zu organisieren« und Deutschland müsse militärische Führungsmacht werden. Wusste er wirklich nicht, was 80 Jahre zuvor los war? Stalingrad! Warum gibt es keinen Aufschrei bei den Sozialdemokraten gegen ihren ultrarechten Vorsitzenden? Jetzt endlich kam er doch noch mit dem »Manifest«. Es wurde aber auch Zeit. (Quelle: https://augengeradeaus.net/2022/06/dokumentation-klingbeil-rede-militaerische-gewalt-ist legitimes-mittel-der-politik/, siehe auch RuhrNachrichten vom 19. Oktober 2022)
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (12. Juni 2025 um 08:10 Uhr)
    Es ist anerkennenswèrt, dass sich auch in der SPD Menschen finden, denen der Begriff der Entspannungspolitik noch nicht völlig entfallen ist. Dass sie jemals ein nennenswertes Gegengewicht zu der von Boris Pistorius vertretenen Kriegsbesoffenheit bilden können, ist nicht erkennbar. Aber dass sich auch in der SPD Widerstand gegen eine von Wahnwitz und Kriegslüsternheit geprägte Politik regt, ist von großer Bedeutung. Vorerst aber regieren die weiter, die scheinbar gramgebeugt Mitleid mit den Todesopfern von Graz heucheln und denen der unsinnige Tod von mehr als tausend jungen ukrainischen Männern pro Kriegstag schnurzpiepegal ist.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Manfred G. aus Manni Guerth (12. Juni 2025 um 07:44 Uhr)
    Ein echtes Friedensmanifest wäre es, wenn sie das Grundgesetz ändern würden und die Parteien vom Regieren ausschließen würden und das Regieren dem Volk übergeben. Denn das Volk will keinen Krieg. Weil dies nicht geschieht, ist es nur »Ich rette meinen Arsch«-Manifest und deshalb völlig bedeutungslos. Zitat: »… durch Aufkündigung oder Missachtung wichtiger Rüstungskontrollvereinbarungen zumeist durch die USA«. Richtig müsste es heißen, ausschließlich durch die USA. Zitat: »Keine Stationierung neuer amerikanischer Mittelstreckenraketen in Deutschland. Die Stationierung von weitreichenden, hyperschnellen US-Raketen-Systemen in Deutschland würde unser Land zum Angriffsziel der ersten Stunde machen.« Das ist der Kernpunkt. Die USA werden, mit oder ohne Zustimmung der BRD, ihre Hyperschallwaffen in der BRD stationieren. Sollte dies geschehen, dann »Gute Nacht« Deutschland. Russland wird das niemals zulassen.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Burkhard I. (11. Juni 2025 um 21:27 Uhr)
    Zur Frage der »Beliebtheit« :-)) von Boris Pistorius: Ich erinnere mich, dass zu BPs Zeiten als Innenminister in Niedersachsen anlässlich eines Falles von Polizeigewalt in Göttingen in dortigen Aktivistenkreisen zynisch geätzt wurde (sinngemäße Wiedergabe, genaue Quelle unbekannt!), der Mann träume wohl von einer Berufung zum Kriegsminister. Ob die fraglichen Göttinger damals wohl geahnt haben, dass sie über seherische Fähigkeiten verfügen?
    • Leserbrief von Fred Buttkewitz aus Ulan - Ude (12. Juni 2025 um 13:27 Uhr)
      In der Liste der Unterzeichner des Manifests fällt nach der Nennung des Namens meist das Kürzel a.D. ins Auge. Wer keinen Posten mehr hat oder keinen mehr anstrebt, dessen Äußerungen kommen dann auf einmal wie mit Zauberhand der Wahrheit dann schon näher, was man auch bei ehemaligen (!) hochrangigen Militärs der NATO beobachten kann. Pech ist nur, dass nicht die Ehemaligen die Politik bestimmen, sondern die Jetzigen. Helmut Schmidt war als Bundeskanzler ein Scharfmacher gegenüber der UdSSR und befeuerte die Hochrüstung. Doch seine zahlreichen Äußerungen danach, als Altbundeskanzler, ließen durch ihren Realismus bei der Frage Russland–Ukraine auch den Russen Gerechtigkeit widerfahren, die er ihnen im Amt niemals zugebilligt hätte. Als Kanzler a. D. wurde er doch glatt zum Putinversteher. Bei den Umfragen zur wirklich nur angeblichen Beliebtheit von Boris Pistorius muss man wie bei allen Umfragen immer auch fragen, wer sie in Auftrag gegeben hat, wer sie bezahlt, nach welchen Kriterien die Befragten ausgewählt wurden, ob sie wirklich repräsentativ für die Bevölkerung sind. Jede Bevölkerung erhält allerdings immer die zu ihr passenden Politiker, wenn sie solche Parteien und deren Repräsentanten, die ja vor der Wahl bekannt sind, wählt. Die Bevölkerung der USA, mehrheitlich desinteressiert an Wahlen und an dem Leid, welches dieses Land auf der ganzen Welt angerichtet hat, verdiente die »Qualität« seiner politischen Führung. Die war immer ihr eigenes Spiegelbild. Ebenso passten die lange regierenden Bundeskanzler Merkel und Kohl zu Deutschland als Ebenbild des passiven Durchschnittswählers, der keine Veränderungen wünschte. In der jetzigen Kriegs- und Rüstungshysterie passt erneut ein Boris Pistorius am besten zur Meinung einer Mehrheit der durch die Medien entsprechend gelenkten Bevölkerung. Der Hundebesitzer und sein Liebling, der brav an der Leine läuft, sind ja in der Regel auch vom selben Typ.

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