Von Tłuste nach Toulouse
Von Barbara Eder, Wien
Jenseits der Donau beginnt eine andere Geschichte: Im Februar 1934 wurden die transdanubisch genannten Bezirke Wiens zu Brennpunkten des Arbeiteraufstandes gegen das austrofaschistische Regime. Binnen weniger Tage griffen die bewaffneten Kämpfe auch auf das Gebiet zwischen Donau und Donaukanal über. Der Kommunist Koppel Fiderer, wohnhaft in der Brigittenauer Denisgasse, schloss sich dem Republikanischen Schutzbund an. Bei einer Flugblattaktion wurde er verhaftet, kurz darauf sollte seine Ausweisung erfolgen – mit der Begründung, er sei kein Österreicher, sondern Pole.
Fiderer wurde per Dekret zum »Fremden« erklärt – verfolgt nicht nur als Kommunist, sondern auch als jüdischer Migrant. »Mein Vater hat in Wien als Lithograph gearbeitet – und ein Angestellter einer Druckerei gehört zur Arbeiterklasse«, erzählte seine Tochter Regine Fiderer am 31. Mai in den Räumlichkeiten des Bundes Demokratischer Frauen Österreichs (BDFÖ) in Wien. 1909 im ostgalizischen Schtetl Tłuste geboren – einem Ort, der nach dem Ersten Weltkrieg Polen zugeschlagen wurde und heute unter dem Namen Towste zur Ukraine gehört –, hatte Koppel Fiderer zwar ein Aufenthaltsrecht, doch kein Bürgerrecht. Der Eintrag »Jude« in der Geburtsurkunde genügte, um ihn staatenlos zu machen – und seine Anwesenheit in Wien zur bloßen Duldung. Er sollte nach Polen abgeschoben werden, sprang jedoch aus dem fahrenden Zug. Er blieb zwei Jahre im tschechischen Brno und wartete auf die Erlaubnis der Kommunistischen Partei, nach Frankreich auszureisen.
Mit Irma Schwager, Résistance-Kämpferin und langjährige Vorsitzende des BDFÖ, war Regine Fiderer zeitlebens eng befreundet. »Jedes Mal, wenn ich in Wien war, habe ich Irma besucht«, sagt sie von den seltenen Zusammentreffen. Irmas Mann und Regines Vater kannten einander gut – sie waren Mitglieder der 1913 in Galizien gegründeten sozialistisch-zionistischen Jugendorganisation »Hashomer Hatzair« gewesen, bevor sie sich der kommunistischen Bewegung verschrieben hatten. Beide kämpften in den Internationalen Brigaden in Spanien, Seite an Seite im Thälmann-Bataillon – ein Schritt, der sie nicht nur ins Exil, sondern mitten in die Geschichte trug. Nach der Niederlage der Spanischen Republik floh Koppel Fiderer über die Pyrenäen nach Frankreich, wo er in einem nazistischen Anhaltelager interniert wurde; ab 1945 leitete er von Toulouse aus die Österreichische Freiheitsfront.
Regine Fiderer gehört zu jener Generation von Nachgeborenen, deren Eltern bereits unter dem Dollfuß-Regime aus Österreich vertrieben wurden – und nie zurückkehrten. 1950 in Toulouse geboren, lebt sie heute in Marseille. Bis zur Rente unterrichtete sie Deutsch am Gymnasium. »Mein Großvater durfte für Kaiser Franz Josef im Ersten Weltkrieg in der österreichischen Armee kämpfen und sterben. Aber dann hieß es, dass mein Vater kein Österreicher ist«, erzählt sie und bringt damit die Logik nationaler Ausgrenzung auf den Punkt.
Das Leben im Exil war für ihre Eltern kein leichtes. Regines Mutter Elisabeth »Lisl« Kapeller fand in Toulouse schnell Anschluss, leitete zeitweise das Büro der BDFÖ-Schwesterorganisation »Union des Femmes Françaises« und war in der Kommunistischen Partei Frankreichs aktiv. Auch ihr Vater blieb zeitlebens Kommunist – doch der Gedanke an eine Rückkehr nach Wien ließ ihn nie los. Sein nach Kriegsende an den Wiener Kulturstadtrat Viktor Matejka gerichtetes Schreiben – eine Bitte um Rückkehrhilfe – war nicht nur ein persönliches Gesuch an jenes Land, das ihn einst vertrieben hatte. Es war auch eine Erinnerung daran, dass die Geschichten von Emigration und antifaschistischem Widerstand zur Geschichte Österreichs gehören.
Koppel Fiderers letztem Wunsch konnte seine Tochter nicht mehr nachkommen. Als sie sich beim »Jewish Welcome Service Vienna« vor Jahrzehnten nach einer rückwirkenden Zuerkennung der österreichischen Staatsbürgerschaft für ihre verstorbenen Eltern erkundigte, bekam sie dasselbe zu hören wie ihr Vater im Februar 1934: Migrant. Im Fall ihrer Mutter, aufgewachsen in Wien-Leopoldstadt, fiel die Antwort noch drastischer aus: »Da hat diese Frau vom Ministerium mit einer sanften Stimme – so wie man zu Sterbenden spricht – zu mir gesagt: Wissen Sie, bei uns ist es nicht wie bei Ihnen. Wir richten uns nicht nach der Mutter.«
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