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Aus: Ausgabe vom 11.06.2025, Seite 9 / Kapital & Arbeit
Staudamm von Kachowka

Urwald im Frontgebiet

Ukraine: Zwei Jahre nach Zerstörung der Staumauer von Kachowka holt sich die Natur die Region zurück
Von Reinhard Lauterbach
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Idylle mit Einschlag: Badende am 6. Juli 2023 am Dnipro nahe Saporischschja

Drohnenfilme vom Bett des Dnipro unterhalb von Saporischschja erinnern an Aufnahmen des tropischen Regenwaldes: unzählige mäandrierende Wasserläufe, dazwischen sandige Inseln mit frischem Bewuchs. Langsam austrocknende Seen in Geländesenken und irgendwo am Rande auch noch ein breiterer Flusslauf. Ukrainische Botaniker haben auf dem Grund des ausgelaufenen Stausees bereits ein europaweit angeblich einmaliges Biotop ausgemacht: einen Urwald aus Weidenbäumen. Weiden wachsen schnell: Sie sind schon übermannshoch.

Aber das Idyll täuscht. Man sieht dem Gelände nicht an, dass entlang des Flusslaufs eine der Fronten des Ukraine-Kriegs verläuft. Ein allerdings wenig umkämpfter Frontabschnitt. Denn die Entstehung der versumpften Senke, wo einst der größte Stausee Europas lag, verhindert militärische Operationen und macht den Flusslauf für beide Seiten schwierig zu passieren. Das ist auch der Grund, warum alle kühnen Planungen russischer Militärs zur Überquerung des Dnipro inzwischen nicht mehr von einem Frontalangriff auf Cherson ausgehen, sondern davon, in fernerer Zukunft eine der erhaltenen Brücken in Saporischschja oder Dnipro zu forcieren und von dort aus einen Brückenkopf auf dem rechten Flussufer zu erobern.

Wer oder was die Staumauer am 6. Juni 2023 zum Einsturz gebracht hat, ist weiterhin ungeklärt. Dass sich beide Kriegsparteien gegenseitig beschuldigen, für die »größte technogene Katastrophe seit Tschernobyl« verantwortlich zu sein, gehört zum Alltag der Propaganda. Dabei sind beide Schuldzuweisungen nicht schlüssig: weder die ukrainische These, dass Russland die Mauer gesprengt habe, um einen Angriff der Ukraine auf das linke Flussufer und in Richtung Krim zu vereiteln, noch der russische Vorwurf des spiegelbildlichen Inhalts gegen die Ukraine. Am wahrscheinlichsten scheint nach jetzigem Kenntnisstand, dass keine der beiden Kriegsparteien die Mauer absichtlich zum Einsturz gebracht hat. Wahrscheinlich ist, dass sie durch Monate des ukrainischen Beschusses – über die Dammkrone verlief bis zu deren Rückzug im November 2022 eine Nachschubroute der russischen Truppen auf dem rechten Ufer – so mürbe geworden war, dass sie dem Druck des gestauten Wassers nicht mehr standhielt. Der beste nicht spekulative Beleg für diese These sind Satellitenbilder, die eine kurz nach dem Einsturz erschienene Recherche der New York Times an die Öffentlichkeit gebracht hat. Sie zeigen, wie bereits in den Tagen vor dem Einsturz eine Bresche in der Dammkrone bestand, durch die Wasser über die Staumauer floss, und dass diese Lücke im Abstand weniger Tage immer größer wurde.

Der Vorwurf an Moskau, die Mauer gesprengt zu haben, ist auch deshalb nicht sehr plausibel, weil das russisch besetzte linke Flussufer das flache der beiden ist und hier demnach die größeren Hochwasserschäden zu erwarten waren – und auch eingetreten sind. Nicht nur hätte Russland bei einer vorsätzlichen Sprengung seine eigenen Minenfelder weggespült, auch einige hundert russische Soldaten, die in Ufernähe die vorderste Linie hielten, wurden von der Überschwemmung »nass erwischt« und kamen ums Leben. Eine vorsätzliche Sprengung hätte dies durch einen diskreten Rückzug im Schutz der Dunkelheit vermeiden können.

Aber auch ein Vorsatz der ukrainischen Seite ist nicht recht einsichtig. Denn unter anderem war Wasser aus dem Stausee von Kachowka zur Versorgung des etwa 150 Kilometer nördlich liegenden Schwerindustriegebiets um Kriwij Rig genutzt worden. Dieser Verlust fällt akut vielleicht nicht sehr ins Gewicht, weil die Hütten von Kriwij Rig derzeit sowieso nicht arbeiten können. Denn ihnen fehlt Kokskohle aus dem Donbass für ihre Hochöfen. Die letzte Kokerei nahe dem frontnahen Pokrowsk wurde zu Jahresbeginn stillgelegt und ist inzwischen zerstört. Die Einbuße für die ukrainische Wasserwirtschaft ist auch so empfindlich: Berechnungen sagen, dass die Ukraine durch den Verlust des Stausees 35 Prozent ihrer Süßwasserreserven eingebüßt habe. Die russisch besetzte Krim sogar noch mehr, denn die Bewässerungslandwirtschaft auf der Halbinsel wurde zu 80 Prozent aus dem vom Stausee von Kachowka abzweigenden Nord-Krim-Kanal gespeist. Der Kanal, dessen Eroberung ganz offenkundig eines der primären Kriegsziele Russlands 2022 war, nachdem ihn die Ukraine bereits 2014 gesperrt hatte, liegt inzwischen wieder trocken.

Ob die Staumauer jemals wieder aufgebaut werden kann, hängt natürlich davon ab, dass zunächst der Krieg beendet wird. Als Bauzeit werden fünf Jahre angesetzt – die Sowjetunion hatte vier Jahre dafür gebraucht. Am ukrai­nischen Ende der Staumauer steht noch ein Abschlussgebäude mit den Jahreszahlen 1951 und 1955.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Christoph H. (11. Juni 2025 um 00:18 Uhr)
    Und wieder ein scharfsichtiger Beitrag des unverzichtbaren Reinhard Lauterbach. Welcher Leitmedienjournalist würde gegen den flächendeckenden Konformismus aufbegehren und eine Analyse anbieten, die zu dem unerwünschten, aber hoch bedeutsamen Schluss kommt, dass im Krieg sehr vieles nicht nach Plan läuft – und dass dies im Nuklearzeitalter ein Risiko ganz eigener Art darstellt, vollkommen jenseits von primitiven Freund-Feind-Stereotypen. Die Waffen nieder!

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