Liberale auf der Kippe
Von Reinhard Lauterbach, Poznań
Im polnischen Parlament geht es an diesem Mittwoch um die politische Zukunft von Regierungschef Donald Tusk und seiner Koalition. Tusk hat vergangene Woche einen Antrag auf die Vertrauensfrage gestellt. Über ihn soll nach einer Regierungserklärung debattiert und am frühen Nachmittag abgestimmt werden. Formal ist für die Koalition alles in trockenen Tüchern: Sie liegt 14 Stimmen über der für die absolute Mehrheit notwendigen Anzahl; und sie braucht, weil die Vertrauensfrage in diesem Fall »von oben« gestellt wird, nur eine einfache Mehrheit, um die Abstimmung zu gewinnen.
Aber die öffentlich vorgetragene Selbstsicherheit Tusks steht auf etwas tönernen Füßen. Er hat seinen drei Koalitionspartnern – der liberalkonservativen Partei »Polen 2050« von Parlamentspräsident Szymon Hołownia, der ins Konservative spielenden Bauernpartei PSL und dem Linksbündnis von Włodzimierz Czarzasty – versprechen müssen, seine Regierungserklärung nicht nur zum Werben für die eigene Partei, die christdemokratische Bürgerplattform (PO), zu nutzen, sondern auch Programmpunkte anzukündigen, die den Koalitionspartnern am Herzen liegen. Und hier ist ein Gemischtwarenladen zu erwarten: PSL-Chef Władysław Kosiniak-Kamysz hat Tusk öffentlich gefragt, wie es mit dem »Schutz konservativer Werte« weitergehen solle, Hołownia verlangt eine Regierungsumbildung, und die Linke will drei Gesetze bis zum Jahresende verabschiedet sehen: eines zur Förderung des sozialen Wohnungsbaus, eines, das man als Rückkauf früher privatisierter Wohnungen durch die Kommunen auf Basis einer Art von Leibrentenmodell für Senioren beschreiben könnte, und eine Reihe von Reformen auf dem Arbeitsmarkt, zum Beispiel das Verbot unbezahlter Praktika und die Anrechnung von Zeiten der Scheinselbständigkeit auf die bis zur Rente erforderliche Berufserfahrung.
Tusks Problem ist dabei, dass die Koalitionspartner von gegensätzlichen Seiten an ihm zerren: Was den Konservativen wichtig ist, muss den Linken nicht gefallen – und umgekehrt. Tusk setzt mit dem Vertrauensvotum darauf, die auseinanderstrebenden Partner zu disziplinieren und sie an ihr gemeinsames Interesse zu erinnern, die laufende Legislaturperiode (bis Herbst 2027)gemeinsam durchzustehen und sich nicht vorher aus der Koalition abzusetzen. Stärkster Klebstoff dürften die vielen Posten sein, die bei einer vorgezogenen Neuwahl verlorengehen könnten. Sie sind aber auch eines der größten Hindernisse für eine der Reformen, die Tusk bereits angekündigt hat: die Verkleinerung und Umbildung der Regierung. Das Kabinett umfasst heute beinahe 100 Minister und Vizeminister, und jeder Versuch, die Regierung zu verkleinern, würde gerade auf seiten der kleineren Koalitionspartner schnell die Frage aufbringen, warum sie eigentlich diesem Bündnis angehören, wenn für sie keine Minister- oder Staatssekretärsposten dabei herausspringen.
Genau auf diese zentrifugalen Tendenzen, besonders bei der PSL, setzt die rechtskonservative Opposition aus PiS und »Konföderation«. Politiker beider Parteien haben PSL-Chef Kosiniak-Kamysz schon mit dem Posten des Chefs einer »technischen Regierung« gewinkt, wenn er der Tuskschen Koalition untreu werden sollte. Bisher hat die PSL diese Avancen zurückgewiesen. Aber Politiker aus der zweiten Reihe der Partei haben seit der Wahlniederlage von Rafał Trzaskowski gegen Karol Nawrocki am 1. Juni begonnen, an Tusks Führungsqualitäten herumzunörgeln. Der Premier kämpft mit der Vertrauensabstimmung also auch um seinen eigenen Führungsanspruch. In PO-nahen Medien wird bereits spekuliert, ob sich Tusk womöglich rechtzeitig vor dem nächsten Wahltermin zurückziehen und Platz etwa für Außenminister Radosław Sikorski machen sollte. Der hat bisher allerdings alle Ambitionen auf eine Nachfolge bestritten – was sicher auch klug ist, denn Kapitän auf einem sinkenden Schiff zu sein, mag niemand gern, der noch mehr werden will. Aktuell hätte die Tusk-Koalition nach den Umfragen jedenfalls keine Mehrheit mehr.
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