Die Schönheit des Stoppballs
Von Jan Decker
Wer annahm, die Endrunde dieser French Open würde noch ein paar Überraschungen auf dem leuchtend roten Pariser Sand bieten, sah sich bestätigt. Sie begannen gleich in den Achtelfinals des Tennisklassikers: Jack Draper, auf Nummer fünf gesetzt, wurde vom ungesetzten Alexander Bublik mit einer irren Kaskade von Stoppbällen besiegt (7:5, 3:6, 2:6, 4:6). Gut, Jannik Sinner stellte im Viertelfinale den eben noch frohlockenden Bublik umgehend kalt (6:1, 7:5, 6:0), Carlos Alcaraz demütigte Tommy Paul (6:0, 6:1, 6:4), alles erwartbar. Doch dass Novak Đoković mit seinen 38 Jahren einen Alexander Zverev in Hochform bezwingen würde, war wieder bemerkenswert. Clever gemacht, der Serbe bot das ganze Arsenal seiner Schlagvarianten auf, lange Grundlinienduelle, kürzere Querbälle, der spontan eingestreute Bublik-Stoppball. Zverev war verunsichert und verlor (6:4, 3:6, 2:6, 4:6).
Da schlug das Wetter um, das Turnier fand nun bei untypischer Kälte und lebhaftem Wind statt. Carlos Alcaraz war das egal, er machte im ersten Halbfinale Lorenzo Musetti, einen der stärksten Sandplatzspieler derzeit, so schwindlig, dass der erschöpft aufgeben musste (4:6, 7:6, 6:0, 2:0). Aber vielleicht hätte Musetti gar nicht so weit kommen dürfen? Schließlich hatte er im Viertelfinale zwar Frances Tiafoe besiegt, doch sich zwischendurch einen Lapsus geleistet: Aus Frust über einen verlorenen Punkt hatte der Italiener einen Filzball weggekickt und damit einen Linienrichter getroffen – zum Glück nur leicht am Oberkörper und nicht am Hals wie Đokovićs Frustschuss während der US Open 2020, für den er disqualifiziert wurde. Im zweiten Halbfinale wurde der Altmeister doch entthront: Sinner ließ Đoković keine Chance auf den erträumten 25. Grand-Slam-Titel seiner Karriere. Der Serbe wehrte sich zwar tapfer, fast verzweifelt, doch die drei Sätze gingen an den Italiener, der seit seiner Dopingsperre noch beeindruckender spielt, so schwungvoll und präzise wie derzeit nur Carlos Alcaraz. Die beiden Favoriten boten sich am Sonntag im Finale ein Match auf absehbar hohem Niveau. Es wurde sogar ein Krimi: Sinner hatte während des ganzen Turniers noch keinen Satz abgegeben, doch ein überragender Alcaraz trotzte ihm nach mehreren ungenutzten Matchbällen schlussendlich den Pokal ab (4:6, 6:7, 6:4, 7:6, 7:6).
Auch bei den Damen verlief es anders als erwartet: Jasmine Paolini, Mitfavoritin in Paris (und später Mitgewinnerin des Damendoppels), schied im Achtelfinale gegen Elina Switolina aus (6:4, 6:7, 1:6). Andere lieferten ab: Aryna Sabalenka und Iga Świątek marschierten souverän durch das Achtel- und Viertelfinale, bevor sie aufeinandertrafen: Die belarussische Weltranglistenerste zermürbte die Polin mit Technik plus Kraft, Świątek brach im dritten Satz völlig ein und konnte ihren Titel nicht verteidigen (6:7, 6:4, 0:6). Inzwischen gab es auch heftige öffentliche Debatten jenseits des Platzes: Während die besten Herren an jedem Turniertag in den begehrten Abendspielzeiten gegeneinander antreten durften – große Arena, Flutlicht, volles Haus –, bestritten die Damen ihre ganzen French Open tagsüber vor teilweise erschreckend leeren Rängen. Drei statt zwei Gewinnsätze bei den Herren bringen eben auch ein Drittel mehr Werbeeinnahmen. Der Protest wurde abgeblockt.
Im anderen Halbfinale stand auf der einen Seite eine ungesetzte Französin, Nummer 361 der Welt, die Überraschung schlechthin: Loïs Boisson. Auf sie wartete eine Coco Gauff in der Form ihres Lebens. Trotz der tollen Athletik des Pariser Publikumslieblings und einer Vorhand mit einem unwiderstehlichen Spin: Das Boisson-Märchen ging zu Ende, das Gauff-Märchen hielt an (6:1, 6:2) – und erfüllte sich im Damenfinale. Nein, man bekam in ihrem Match gegen Aryna Sabalenka nicht das technisch allerfeinste Tennis geboten. Und ja, es war kalt und windig, schwierige Bedingungen auf Sand. Dennoch lieferten sie sich intensive Grundlinienduelle in allen Winkeln des Feldes, es glich einem Tauziehen mit einem durch die Luft fliegenden Ball als Seil. Es gewann die größere Kämpferin: Coco Gauff holte sich ihren ersten French-Open-Titel (6:7, 6:2, 6:4).
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