Großangriff auf Kiew
Von Reinhard Lauterbach
Russland hat in der Nacht zum Freitag den oder einen der bisher stärksten Drohnen- und Raketenangriffe auf Ziele in der Ukraine durchgeführt. Nach Angaben der ukrainischen Luftabwehr waren etwa 400 Drohnen und 40 Raketen im Einsatz. Viele hätten abgeschossen werden können, aber nicht alle. In Kiew wurden mindestens drei Personen getötet. Es handelte sich bei ihnen offenbar um Angehörige der Rettungsdienste, die bei einem Nachfolgeangriff auf die bereits brennende Einschlagstelle getroffen wurden. Das russische Verteidigungsministerium erklärte, die Angriffswelle sei die Antwort auf die »Terrorhandlungen des Kiewer Regimes« der letzten Tage gewesen. Es seien verschiedene Objekte der Rüstungsindustrie, darunter Konstruktionsbüros und Drohnenproduktionsstätten, militärische Ausbildungsstätten und Materiallager, anvisiert und getroffen worden.
Ukrainische Medien berichten auch von Schäden an der ganz oder überwiegend zivilen Infrastruktur. So wurde in Kiew offenbar ein Heizkraftwerk beschädigt. Als Folge fiel auf dem ganzen linken Dnipro-Ufer der Strom aus. In der westukrainischen Gebietshauptstadt Ternopol gab es offenbar einen Einschlag in einen Chemiebetrieb. Jedenfalls rief die örtliche Verwaltung die Bewohner auf, die Häuser bis auf weiteres nicht zu verlassen und die Fenster geschlossen zu halten. Die Luft enthalte »gefährliche Schadstoffkonzentrationen«. Zu anderen Zielen waren die Informationen widersprüchlich: In der Stadt Luzk nordöstlich von Lwiw wurde nach ukrainischen Angaben ein Hotel getroffen, in dem eine Leichtathletikmannschaft einquartiert war, außerdem »einige Soldaten«. Russland sprach von einem Angriff auf das Flugzeugmotorenwerk »Lutsch«, den einzigen Hersteller von Triebwerken für die MiG-29-Jagdflugzeuge der ukrainischen Luftwaffe.
Mit einiger Wahrscheinlichkeit wurde auch die Luftabwehr in Kiew ins Visier genommen. Es wurde die überdurchschnittlich hohe Zahl von sechs der acht abgefeuerten »Iskander«-Raketen abgeschossen. Hierzu gilt nur das US-amerikanische »Patriot«-System als fähig. Wenig später aber war die Rede davon, dass auch mindestens eine »Patriot«-Stellung zerstört worden sei, und zwar durch eine Rakete des Typs Ch-31 N, die speziell zur Bekämpfung von »Patriot«-Batterien entwickelt wurde. Das lässt vermuten, dass die »Iskander« geopfert wurden, um die »Patriot«-Stellungen anhand ihrer Radarsignale zu orten und anschließend zu bekämpfen. Das wiederum deutet darauf hin, dass weitere, schwerwiegendere Angriffe auf Kiew in Vorbereitung sind und die »Vergeltung« der Nacht auf Freitag noch nicht alles gewesen sein dürfte.
Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij rief das Ausland auf, den Druck auf Russland nochmals zu erhöhen. Wer die Ukraine jetzt nicht unterstütze, mache sich mitschuldig. Der russische Präsident Wladimir Putin hatte in einer Stellungnahme bei einer Sitzung des russischen Sicherheitsrates am Mittwoch angedeutet, dass er daran zweifle, ob Verhandlungen mit der gegenwärtigen ukrainischen Regierung überhaupt sinnvoll und zweckmäßig seien. Putin ging dabei nicht auf die ukrainischen Attacken gegen strategische Luftstützpunkte vom vergangenen Sonntag ein, warf der Ukraine aber gleichwohl vor, sich in Richtung eines »terroristischen Regimes« zu entwickeln. Er illustrierte dies mit den Angriffen auf Bahnlinien, bei denen in einem Fall im Gebiet Brjansk ein vollbesetzter Personenzug durch eine gesprengte Brücke zerschmettert worden sei. Der Angriff mit sieben Toten und 70 Verletzten sei eine gezielte Aktion einzig gegen zivile Bahnreisende gewesen, so Putin.
An den Fronten erzielen die russischen Truppen weitere Geländegewinne, vor allem nördlich der Bezirkshauptstadt Sumi im Nordosten der Ukraine. Bewohner berichteten in sozialen Netzwerken, sie seien von den Behörden aufgefordert worden, die Stadt zu verlassen, ohne dass sie wüssten, wohin. Aus Cherson am Südende der Front berichteten Einwohner in sozialen Netzwerken, niemand sei mehr vor russischen Drohnenangriffen sicher, nicht einmal einzelne Fußgänger oder Radfahrer. Die Stadt sei praktisch nicht mehr bewohnbar, in den Läden gebe es nichts mehr zu kaufen.
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