»Einiges lässt sich nicht ohne Staat machen«
Interview: Gitta Düperthal
Die Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, CDU, durch einen Neonazi jährte sich in dieser Woche zum sechsten Mal. Welche Konsequenzen hat Hessens Landesregierung aus CDU und SPD bislang aus dem Attentat gezogen?
Sie führt jedenfalls nicht den Kampf gegen rechte Ideologie und Gewalt. Noch immer gibt es ständig Probleme mit illegalem und legalem Waffenbesitz von Rechtsradikalen in Hessen. Im Kreis Limburg-Weilburg wurden Ende April ein Vater und ein Sohn festgenommen, die Waffen und Sprengstoff gehortet sowie im Internet rechtsradikale Hetze geteilt haben. Wer aus der Neonaziszene im Besitz einer Waffe ist, scheut bekanntermaßen nicht davor zurück, sie auch einzusetzen. Bis heute sind kaum Maßnahmen erkennbar, obwohl der Abschlussbericht vom Untersuchungsausschuss des Landtags zum Lübcke-Mord 2023 konkrete Handlungsempfehlungen enthielt.
Was hätte die Regierung bis heute tun müssen?
Zum Beispiel endlich konsequent den Waffenbestand bei Rechtsradikalen reduzieren. Und: Wir brauchen Antworten zum Umgang mit Opfern rechter Gewalt, zur Beobachtung der rechtsextremistischen Szene; Forschung und politische Bildung in dem Zusammenhang gilt es zu stärken.
Walter Lübcke hatte in der Zeit vor seiner Ermordung wegen seiner Haltung gegenüber Geflüchteten und deren Unterbringung Morddrohungen erhalten. Gehen Sie davon aus, dass die CDU das Gedenken klein hält, weil Lübckes damalige Haltung der aktuellen Unionspolitik widerspricht?
Es gibt auch in der Union Menschen, die ernsthaft und ehrlich betroffen sind. Aber Bundeskanzler Friedrich Merz und die Parteispitze handeln nicht so. Etwa als sie Ende Januar die Brandmauer zur AfD fallen ließen, um eine Mehrheit für ihren Entschließungsantrag im Bundestag für Verschärfungen in der Migrationspolitik zu bekommen. Die Union schafft auf die Weise ein Klima, in dem sich Rechtsextremisten als »Vollstrecker des Volkswillens« sehen, wenn sie Angriffe starten.
Infam ist die Instrumentalisierung des Todes von Walter Lübcke durch Merz, der erst jüngst in einer Rede die Frage formulierte: »Wo war die Antifa, als Lübcke von einem Rechtsradikalen ermordet wurde?« – Wir waren solidarisch, genau wie viele Antifaschistinnen und Antifaschisten. Auch Lübckes Familie widersprach: Es habe »ein starkes, gesellschaftlich breites Bekenntnis zu unserer Demokratie und ihren Werten« gegeben.
Neonazis treten wieder offener auf, tödliche rechte Gewalt hat offenbar Konjunktur – bedingt durch multiple Krisen, allen voran der ökonomischen. Weshalb appelliert Die Linke Hessen vor diesem Hintergrund an den Staat?
Der Staat kann keine Lösungen bieten. Aber einiges lässt sich auch nicht ganz ohne Staat machen, wie etwa die Entwaffnung von Neonazis. Deshalb müssen wir Druck machen, dass er nicht die Augen vor Verbrechen verschließt, sondern statt dessen rechter Hetze gezielt entgegentritt. Und wir müssen uns für eine antifaschistische Wirtschaftspolitik einsetzen: Denn wirtschaftliche Krisen, das Zusammenschmelzen des Sozialstaats und rechte Ideologie, der nicht aktiv entgegengetreten wird, bestärken rechte Denkmuster und Aggressivität. Das führt zu einer Ellenbogengesellschaft. Eine rein ökonomische Lösung wird uns aber nicht weiterbringen, wir müssen dazu auch das Herz ansprechen und klar gegen rechts aufstehen.
So verständlich die Forderung nach dem Verhindern rechter Gewalttaten ist: Wie soll das ohne komplette Überwachung und Polizeistaat versucht werden?
Der Verfassungsschutz war nie in der Lage oder willens, rechte Gefahren zu erkennen und rechte Gewalttaten zu verhindern. Beim NSU-Mord an Halit Yozgat in Kassel am 6. April 2006 saß ein Mitarbeiter des Verfassungsschutzes zur Tatzeit im Internetcafé, wo Yozgat getötet wurde. Der Mörder von Lübcke wurde vom Verfassungsschutz als »abgekühlt« betrachtet, weil er nicht mehr in Kameradschaften, sondern als vermeintlich besorgter Bürger bei »Kagida« und im AfD-Umfeld unterwegs war. Wichtige Erkenntnisse, was in der Neonaziszene los ist, kamen stets von antifaschistischen Strukturen, die gut recherchieren. Der Staat muss diese Arbeit ernst nehmen. Verharrt er im Nichtstun, wird es eine weitere Radikalisierung bürgerlicher Schichten nach rechts geben.
Jakob Migenda ist Landesvorsitzender der Partei Die Linke in Hessen
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