»Es gibt einen realen Notstand der Versorgung«
Interview: Gitta Düperthal
Der Deutsche Ärztetag hat bei seiner Tagung in Leipzig am vergangenen Freitag gefordert, die Bedingungen für fristgerechte Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland außerhalb des Strafgesetzbuchs zu regeln. Der Paragraph 218 solle gestrichen werden, die Beratungspflicht mit einer dreitägigen Bedenkzeit aber bleiben. Wie bewerten Sie das?
Der Beschluss des Ärztetages ist ein Meilenstein für Frauengesundheit. Abtreibung ist medizinische Grundversorgung und gehört endlich entkriminalisiert.
Kritikerinnen sehen im Ärztetag-Beschluss weiterhin eine Bevormundung von Frauen sowie eine Selbstunterwerfung der Ärztinnen und Ärzte. Teilen Sie diese Auffassung?
Selbstverständlich wäre es notwendig, die sexuelle, körperliche und reproduktive Selbstbestimmung komplett zu realisieren. Wir werten den Beschluss dennoch als Erfolg auf dem Weg zum Ziel, nachdem die Ampelregierung es nicht geschafft hatte, den Paragraphen 218 StGB zu reformieren. Dabei hatte die von ihr eingesetzte Kommission eine klare Empfehlung dazu abgegeben; allerdings auch unter Beibehaltung der Beratungspflicht. Trotzdem wäre es ein historischer Schritt gewesen.
Vielen dürfte nicht klar sein, dass der Paragraph 218 immer noch Abtreibung unter Strafe stellt …
Das Beenden ungewollter Schwangerschaften ist seit mehr als 150 Jahren hierzulande rechtswidrig (1972 legalisierte die Volkskammer der DDR den Abbruch der Schwangerschaft bis zum dritten Monat, jW). In der Nazizeit war ein Abbruch sogar mit der Todesstrafe belegt. Es bleibt heutzutage straffrei, sofern zuvor die Pflichtberatung stattfindet, und der Abbruch bis zur 14. Woche nach der letzten Menstruation erfolgt.
Bislang hatten CDU und CSU alles getan, um die Streichung des Paragraphen zu verhindern. Hat der Ärztetag den Unionsparteien mit dem Beschluss ein Stöckchen hinhalten wollen, über das selbst diese springen können?
Die CDU war stets dagegen – mit wenigen Ausnahmen wie etwa Rita Süssmuth, die 1990 als Bundestagspräsidentin dafür plädierte, ihn aus dem Strafrecht zu entfernen. Die Regierung unter SPD, Grünen und FDP hat es aber ebenfalls nicht hinbekommen. Tatsache ist, dass es einen realen Versorgungsnotstand gibt. Und Ärztinnen und Ärzte haben die Schnauze voll davon, sich weiter kriminalisieren zu lassen.
Offenbar immer weniger von ihnen sind bereit, Schwangerschaftsabbrüche vorzunehmen, auch mit Blick auf Anfeindungen und Belästigungen durch Anhänger der »Anti-Choice«-Bewegung. Welche Faktoren spielen noch eine Rolle?
Viele der politisch denkenden Gynäkologinnen und Gynäkologen, die trotzdem Abtreibungen durchführen, gehen mittlerweile in Rente. Wer quasi mit einem Bein im Gefängnis steht, wenn er eine medizinische Leistung erbringt, tut das freilich nicht gerne. Durch die Fusionen von kirchlich geleiteten Kliniken gibt es zunehmend schlechtere Versorgung, weil die katholische Seite Abtreibungen untersagt.
Wird an den Universitäten noch als Teil des Curriculums gelehrt, Abtreibungen durchzuführen?
Es ist im Grunde kein schwieriger Eingriff, aber er muss selbstverständlich gelehrt werden. Mit sogenannten Papaya-Workshops für Medizin-Studierende haben Pro-Choice-Aktivistinnen eine Menge erreicht, so dass der Schwangerschaftsabbruch mittlerweile bei einigen Universitäten Teil des Curriculums geworden ist. Auch der medikamentöse Abbruch mit Tabletten wird noch zu wenig angewendet. Dieser ist viel schonender als ein operativer Eingriff.
Sind die Hürden für Betroffene im internationalen Vergleich besonders hoch?
Deutschland ist mit Einschränkungen durch Beratungspflichten, Wartezeiten und vergleichsweise kurzen Fristen für den Abbruch im Vergleich zu anderen Staaten rückständig. Die Weltgesundheitsorganisation vertritt hingegen eine klare Position gegen jedes Hindernis.
Kersten Artus ist stellvertretende Vorsitzende von Pro Choice Deutschland e. V. Der Verein wurde von Frauen um die Ärztin Kristina Hänel gegründet, die erfolgreich dafür kämpfte, dass der Paragraph 219 a im Strafgesetzbuch (»Werbeverbot für Schwangerschaftsabbrüche«) gestrichen wurde
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