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Aus: Ausgabe vom 05.06.2025, Seite 5 / Inland
Arbeitszeiten in der BRD

Merz lässt putzen

Faule Werktätige in Deutschland? Nicht schon wieder. Wie eine totgeglaubte Debatte mit null Evidenz und viel heißer Luft befeuert wird
Von Ralf Wurzbacher
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Merksatz: Das bisschen Haushalt macht sich eben doch nicht von allein (Bremen, 17.11.2022)

Sind Deutschlands Werktätige faul? Nein! Deutsche Journalisten machen ihren Job nicht. Am 18. Mai geisterte eine Meldung durch die Medienlandschaft. Demnach leisteten hiesige Beschäftigte im Ranking der Industrienationen den drittletzten Platz bei den geleisteten Arbeitsstunden. Selbst die hitzegeplagten Griechen rissen 135 Stunden mehr im Jahr ab. Die »Aktion gegen Arbeitsunrecht« stellte inzwischen klar: »Fake News, die Arbeitszeitstudie des IW existiert nicht.« Die Initiative hat beim Institut der deutschen Wirtschaft nachgebohrt und erfahren: »Von uns kam am Sonntag nur eine Pressemeldung. In der Berichterstattung wurde daraus eine Studie. Nun ja.«

Nun ja. Es gab nicht einmal eine »Pressemeldung«, lediglich eine »IW-Nachricht«. Die aber verbreitete die Nachrichtenagentur AFP als reine Wahrheit, und prompt titelte die Bild-Zeitung: »Exklusiv. Die internationale Fleiß-Tabelle«. So wurde aus einer Zeitungsente eine Nachrichtenbombe, deren Knall bis heute nachhallt und eine haltlose Debatte mit heißer Luft befeuert. So laufen Kampagnen ab. Am 13. Mai hatte der Bundeskanzler auf dem CDU-Wirtschaftstag das Thema gesetzt: »Wir müssen in diesem Land wieder mehr und vor allem effizienter arbeiten«, tönte da Friedrich Merz (CDU). Die sogenannte IW-Analyse kam da gerade recht, wenngleich sie nichts beweist. Grundlage ist ein Zahlensalat der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), die Daten zu Voll- und Teilzeit, Überstunden und Schwarzarbeit vermengt und daraus einen Pro-Kopf-Wert an Arbeitspensum herleitet.

Die OECD selbst weist auf die Limitierung des Materials hin. Gerade im Fall Deutschlands wirkt eine gewaltige Unwucht. Die hohe Teilzeitquote – am Montag vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) fürs erste Quartal mit knapp 40 Prozent beziffert – reißt den Durchschnitt nach unten. Svenja Flechtner, Juniorprofessorin für Plurale Ökonomik an der Universität Siegen, wittert Täuschung. Die Fokussierung auf ein sinkendes Stundenmittel sei »irreführend, denn sie suggeriert, dass die Deutschen fauler geworden seien und fleißiger werden müssten«, befand sie am Dienstag gegenüber jW. Und fügte hinzu: »Insgesamt arbeiteten die Deutschen vor zwei Jahren mit 55 Milliarden Stunden so viel wie nie zuvor.«

Trotzdem verschärfte vor zehn Tagen CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann noch einmal den Ton. Gerade jungen Menschen gehe es nicht mal mehr um Work-Life-Balance, »sondern um Life-Life-Balance«. Die Stimmungsmache hat System, und die Regierung einen Plan. Sie will laut Koalitionsvertrag den Achtstundentag kippen und durch »eine wöchentliche Höchstarbeitszeit« ersetzen – von wegen »bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf«. Tatsächlich zielt der Vorstoß darauf, Beschäftigte noch disponibler zu machen und die Löhne zu drücken. Dabei sind in dieser Hinsicht schon heute alle Dämme offen. Das IAB zählte 2023 rund 1,3 Milliarden Überstunden, davon mehr als die Hälfte, 775 Millionen, unbezahlt.

»Arbeitsscheue« Deutsche? Dumpfe Propaganda! Das ökonomische Einmaleins lehrt, dass lange Arbeitszeiten kein Maßstab für eine gesunde Wirtschaft sind, sondern für geringe Produktivität und mangelnde Effizienz. Etliche Studien belegen eine Kausalität zwischen Arbeitszeitverkürzung und höherer Produktivität bei mehr Wohlbefinden und besserer Gesundheit der Betroffenen. Nach Erkenntnissen der Arbeitssoziologie sind Menschen an einem Achtstundentag zumeist nur 3,5 bis vier Stunden konzentriert bei der Sache. Die »Aktion gegen Arbeitsunrecht« verweist auf die finanzmarktgesteuerte englische Volkswirtschaft, wo sogenannte Bullshitjobs mit »sinnlosen und völlig unproduktiven Arbeitstagen« 40 Prozent der lohnabhängigen Beschäftigung ausmachten.

»Angesichts des bereits hohen Arbeitspensums insbesondere von Menschen mit Betreuungs- und Pflegeverantwortung kann Mehrarbeit nur zu Lasten von Gesundheit, Kindern und Familien, partnerschaftlicher Arbeitsteilung und gesellschaftlichem Engagement gehen«, gab Flechtner von der Uni Siegen zu bedenken. Feline Tecklenburg, Kovorstandsmitglied der Initiative »Wirtschaft ist Care« (WiC), griff den Punkt gestern im jW-Gespräch auf. »Nur durch Unmengen unbezahlt geleisteter Sorgearbeit kann in Deutschland überhaupt gewirtschaftet werden«, bemerkte sie. »Das anzuerkennen, wäre angebracht – aber nicht die arrogante Herablassung eines männlichen Millionärs, der im Zweifel noch nie viele Wochen am Bett einer Angehörigen verbracht hat und sicher nicht die eigene Wohnung putzt.«

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Manfred G. aus Manni Guerth (5. Juni 2025 um 14:08 Uhr)
    Seit 70 Jahren immer wieder die gleichen Sprechblasen: Die Arbeiter sind zu faul, der Gürtel muss enger geschnallt werden, das Wetter ist für die Arbeitslosigkeit verantwortlich, der Arbeitgeber bezahlt Steuern, der Arbeitgeber bezahlt Sozialabgaben, Deutschland ist ein Rechtsstaat und hat eine Demokratie, die Medien berichten Faktenbasiert usw. König der Sprechblasen und der Dummheit ist im Augenblick Merz. Alle Fürsten der Faulheit und des Nichtwissens sitzen im Parlament.
  • Leserbrief von Eberhard Licht Benharmonia aus Berlin - Mitte (5. Juni 2025 um 09:06 Uhr)
    Mehr arbeiten fürs Wegwerfen – ein Fortschrittsmodell? Die Regierung sorgt sich: Die Menschen wollen nicht mehr rund um die Uhr schuften, sondern reden neuerdings von »Work-Life-Balance«. Wie faul ist das denn? Offenbar reicht es nicht mehr, jeden Morgen mit Kaffee und Augenringen ins Büro zu taumeln und sich am Feierabend gerade noch zum Discounter zu schleppen, um dann auf Netflix einzuschlafen. Nein, jetzt will man auch noch leben – eine Frechheit! Dabei könnten wir so viel mehr leisten: Noch mehr Produkte produzieren, die nach halber Nutzungsdauer auf dem Müll landen. Noch schneller Kleidung wegwerfen, weil sich die Mode inzwischen wöchentlich ändert. Noch öfter das neueste Handy kaufen, das exakt das gleiche kann wie das alte – nur mit größerer Kamera für das Burnout-Selfie. Und wer eignet sich besser als Vorbild für dieses Verhalten als der Hamster? Der ist zwar klein und süß, hat aber das große Talent, Körner zu horten, die er nie essen wird. Ein echter Leistungsträger! Kein Wunder, dass das Image des Hamsters inzwischen leidet – vermutlich zu wenig Output pro Körnerstunde. Die Regierung will offenbar, dass wir uns alle ein bisschen mehr wie Hamster verhalten: schaffen, horten, konsumieren, entsorgen. Möglichst ohne zu fragen, ob das alles Sinn ergibt. Wer hingegen über Sinn, Nachhaltigkeit oder gar Lebensfreude nachdenkt, wird als »faul« beschimpft. Vielleicht sollten wir stattdessen mal fragen: Für wen arbeiten wir eigentlich? Und wozu? Vielleicht liegt das Problem nicht bei den »faulen« Menschen – sondern bei einer Wirtschaftspolitik, die das Wegwerfen zur Tugend gemacht hat. Aber wem dient das ganze? Je mehr gearbeitet wird, desto mehr Profit entsteht, den sich wenige unter den Nagel reißen. Das ist der Sinn des ganzen.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (4. Juni 2025 um 20:22 Uhr)
    Was, bitte, ist »eine geleistete Arbeitsstunde«? Und was schreibt das Statistische Bundesamt zum Thema? Unter »Erwerbstätige mit Arbeitsort in Deutschland, 1. Quartal 2025« das: »Erwerbstätigkeit unter dem Vorjahresniveau: Verglichen mit dem 1. Quartal 2024 sank die Zahl der Erwerbstätigen im 1. Quartal 2025 um 60 000 Personen (-0,1 %).« Weiter: »Beschäftigungszuwächse ausschließlich in Dienstleistungsbereichen: Während im 1. Quartal 2025 die Erwerbstätigenzahl gegenüber dem Vorjahresquartal in den Dienstleistungsbereichen noch wuchs (+107 000 Personen; +0,3 %), sank außerhalb der Dienstleistungsbereiche die Erwerbstätigkeit um insgesamt 167 000 Personen (-1,5 %).« Und: »Abwärtstrend im Produzierenden Gewerbe setzt sich fort: Im Produzierenden Gewerbe (ohne Baugewerbe) ging die Erwerbstätigenzahl im 1. Quartal 2025 gegenüber dem Vorjahresquartal weiter kräftig zurück (-127 000 Personen; -1,6 %). Im Baugewerbe sank die Beschäftigung im 1. Quartal 2025 ebenfalls, und zwar um 34 000 Personen (-1,3 %) und in der Land- und Forstwirtschaft, Fischerei nahm sie um 6 000 Personen (-1,1 %) ab.« (https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2025/05/PD25_174_13321.html). destatis kümmert sich bei dieser Statistik nur um bezahlte Erwerbstätigkeit. Die nichtbezahlte Sorgearbeit müsste skandalisiert werden, von den Betroffenen, aber auch und besonders von den einschlägigen Organisationen.

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