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Aus: Ausgabe vom 05.06.2025, Seite 4 / Inland
Antisemitische Vorfälle 2024

Genozidkritik »antisemitisch«

RIAS-Bericht: Kritik an israelischer Politik unter Antisemitismus verbucht. Regierung setzt Israel mit Juden gleich – und warnt zugleich davor
Von Niki Uhlmann
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Kein Skandal: Hier wird Israel begründet ein Genozid vorgeworfen (Berlin, 8.2.2025)

Der »zivilgesellschaftliche Aufschrei« sei »verhalten« geblieben, klagte der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) am Mittwoch bei der Vorstellung seines Jahresberichts »Antisemitische Vorfälle in Deutschland 2024«. Laut Pressemitteilung hat RIAS im vergangenen Jahr 8.627 antisemitische Vorfälle dokumentiert. Das entspreche einem »Anstieg um 77 Prozent im Vergleich zum Vorjahr« und »24 Fällen pro Tag«, und zwar in »allen Lebensbereichen«.

Ein genauerer Blick in den Bericht zeigt, dass der Anstieg der Fallzahlen maßgeblich auf die Kategorie »verletzendes Verhalten« zurückzuführen ist. Zu diesen Vorfällen »alltäglicher Art«, die in »antisemitischen Äußerungen« oder »antisemitischen Symbolen« zum Ausdruck kämen, werden auch »Genozidvorwürfe« gezählt. Im Klartext: Wer die bestens dokumentierten Rufe ranghöchster israelischer Regierungsvertreter nach ethnischer Säuberung und Umsiedlung skandalisiert, gilt als Antisemit. Ähnlich verfährt der Verband mit Aussagen, die er »einem links-antiimperialistischen oder einem islamischen« Spektrum zuordnet. Das Resümee: Mit 68 Prozent aller Vorfälle habe das Gros einen »Bezug zu Israel« oder zum »anhaltenden Krieg in Nahost« aufgewiesen. Darin freilich kann so selbstverständlich nur Antisemitismus erkennen, wer Israel mit Jüdinnen und Juden gleichsetzt und gleichzeitig die Augen vor den israelischen Völkerrechtsbrüchen verschließt.

Genau diese Haltung kritisiert die Studie »Biased: Antisemitismus-Monitoring in Deutschland«, die vor zwei Wochen von der »Diaspora Alliance« herausgegeben wurde. »RIAS’ Methodik verschleiert durchweg den Gesamtkontext der registrierten Vorfälle«, heißt es da. Ferner »missbraucht RIAS Definitionen von Antisemitismus«. Selbst eine Rede eines bekannten israelischen Historikers »über die Lehren aus dem Holocaust« sei als antisemitischer Vorfall gewertet worden. Der weitgehend staatlich finanzierte Verband ziele vielmehr auf »die Delegitimierung propalästinensischen Engagements« ab, während er israelische Verbrechen umgekehrt durch Verbreitung »einseitiger« Narrative billige. Das sei gefährlich, verunglimpfe etwa Menschenrechtsorganisationen und habe vor allem eine »Unterschätzung des rechten Antisemitismus« zur Folge. Man unterlaufe damit letztlich die »präventive Arbeit gegen Antisemitismus«.

Tatsächlich nimmt die Gewalt gegen Juden zu. Das ist dem RIAS-Bericht zu entnehmen. 2024 seien demnach 186 »Angriffe«, 443 »gezielte Sachbeschädigungen« und 300 »Bedrohungen« verzeichnet worden, jeweils ein Zuwachs von mehr als 100 Fällen gegenüber 2023. Doch RIAS führt vor allem den Kampf gegen Israel-Kritik. »Dringend notwendig« sei die »Anerkennung der IHRA-Arbeitsdefinition als kleinster gemeinsamer Nenner der Antisemitismusbekämpfung«, wird Benjamin Steinitz, Geschäftsführer des Bundesverbands, in der Pressemitteilung zitiert.

Die Bundesregierung hantiert bereits mit dieser Definition und hat sie noch erweitert, so dass »der Staat Israel« als »jüdisches Kollektiv verstanden wird«. Das widerspricht allerdings der gleichentags vom Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung, Felix Klein, im ARD-»Morgenmagazin« ausgesprochenen Warnung, dass die jüdische Community Deutschlands nicht in Kollektivhaftung für Israel genommen werden dürfe. Von dieser Kritik scheint der Umstand ausgenommen zu sein, dass die BRD ebenso wie RIAS Kritik an Israel regelmäßig als Angriff auf Juden in Deutschland wertet und somit maßgeblich zu dieser fatalen Gleichsetzung beiträgt.

Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU), der für die Bekämpfung der Gefahren für jüdisches Leben in der BRD zuständig ist oder zumindest sein sollte, kommentierte jedenfalls: »Unsere Sicherheitsbehörden sind äußerst wachsam und gehen gegen antisemitische Straftaten entschlossen vor.« Die kürzlich von ihm vorgestellte Jahresbilanz politisch motivierter Kriminalität 2024 hatte abermals die Gefahr rechter Gewalt und rechter Straftaten aufgezeigt, eine gesonderte Strategie dagegen aber nicht in Aussicht gestellt.

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