NATO will dich!
Von Philip Tassev
Die NATO will mehr. Viel mehr. Auf dem Treffen der Verteidigungsminister der Mitgliedstaaten des Nordatlantikpakts an diesem Donnerstag wird voraussichtlich eine Erhöhung der bisher gültigen Zielvorgaben für die militärischen Fähigkeiten um etwa 30 Prozent beschlossen werden. »Diese Ziele legen fest, welche Streitkräfte und konkreten Fähigkeiten jeder Verbündete bereitstellen muss, um unsere Abschreckung und Verteidigung zu stärken«, erklärte der Generalsekretär der Militärallianz, Mark Rutte, am Mittwoch in Brüssel. »Wir benötigen mehr Ressourcen, Truppen und Fähigkeiten, um auf jede Bedrohung vorbereitet zu sein und unsere kollektiven Verteidigungspläne vollständig umzusetzen.«
Die Zustimmung der 32 Minister zu der Erhöhung dürfte reine Formsache sein. Der Oberbefehlshaber des Allied Command Transformation (ACT), der französische Admiral Pierre Vandier, hatte bereits im März verkündet, dass die geplante Erhöhung vom Großteil der Verbündeten akzeptiert worden sei.
Um welche »Fähigkeiten« geht es? Laut Rutte haben »Luft- und Raketenabwehr, weitreichende Waffen, Logistik und große Landmanöverformationen« höchste Priorität. Auch hochrangige Militärs wie Vandier hatten sich dazu bereits in der Vergangenheit mehrfach geäußert. Das ACT drängt darauf, dass die NATO-Mitglieder vorrangig ein Arsenal von Offensivwaffen aufbauen – alles natürlich nur zur »Abschreckung«. Besonders im Fokus der Strategen stehen dabei Waffensysteme wie Raketenartillerie und Langstreckenraketen, außerdem Bereiche wie elektronische Kriegführung, Luftbetankung, Flugabwehr, satellitengestützte Spionage und Aufklärung – also militärische Kompetenzen, bei denen bisher die USA eine führende Rolle spielen, die aber im Rahmen einer »Arbeitsteilung« nach und nach von den europäischen Mitgliedern der Kriegsallianz übernommen werden sollen, da sich Washington auf seinen Hauptkonkurrenten, die Volksrepublik China, konzentrieren möchte und dafür perspektivisch Truppen und Gerät aus Europa abziehen wird.
Für die europäischen NATO-Staaten bedeutet die Erhöhung der Anforderungen auch eine Erhöhung des Militärbudgets. Es darf davon ausgegangen werden, dass die Staats- und Regierungschefs der transatlantischen Allianz am 24. und 25. Juni beim NATO-Gipfel in Den Haag eine solche abnicken werden. Bisher gilt die Vorgabe, zwei Prozent der Wirtschaftsleistung für die Rüstung auszugeben. Wahrscheinlich ist eine Erhöhung auf fünf Prozent, wobei nach einer von Rutte ins Gespräch gebrachten »Kompromisslösung« davon 3,5 Prozent direkt auf Aufrüstung in Form von neuem Kriegsgerät und weitere 1,5 Prozent auf den Ausbau von militärisch nutzbarer Infrastruktur entfallen können. Der deutsche Außenminister Johann Wadephul (CDU) zeigte sich am Mittwoch zuversichtlich, dass der Gipfel diese Pläne absegnen wird. »Er wird zeigen: Europa ist bereit, mehr Lasten zu übernehmen«, sagte er bei der Regierungsbefragung im Bundestag.
Natürlich wird nicht »Europa« die Lasten der Aufrüstung tragen, sondern die Werktätigen. Militärs rechnen damit, dass allein die Bundeswehr um bis zu 60.000 Soldaten vergrößert werden muss, um den neuen NATO-Vorgaben zu entsprechen. Angesichts des Unwillens der Jugend, sich freiwillig zum »Dienst fürs Vaterland« zu melden, trommeln Politiker und Militärlobby seit einiger Zeit dafür, die Wiedereinführung einer Wehrpflicht zumindest schon einmal gesetzlich vorzubereiten.
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Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (4. Juni 2025 um 22:03 Uhr)Zum Glück betrifft mich das altersbedingt nicht mehr direkt. Doch gerade deshalb empfinde ich tiefe Dankbarkeit dafür, das seltene Glück gehabt zu haben, über achtzig Jahre lang in Mitteleuropa ohne Krieg leben zu dürfen. Kaum ein Vorfahr von mir konnte das von sich behaupten. Wir Europäer blicken auf eine lange, blutige Geschichte voller Kriege zurück – und doch scheint es, als hätten wir erschreckend wenig daraus gelernt. Es ist höchste Zeit, aufzuwachen und unsere Vergangenheit endlich ernsthaft und selbstkritisch zu reflektieren – nicht oberflächlich, sondern mit Tiefgang und Verantwortung. Apropos Geschichte: Was will uns eigentlich ein niederländischer NATO-Generalsekretär wie Mark Rutte sagen, wenn er nun nach mehr Aufrüstung und militärischer Stärke ruft? Ausgerechnet ein Holländer – dessen Land nur schon bei einem gezielten Raketenangriff auf die Deiche zur Hälfte im Meer versinken und wörtlich absaufen könnte – spricht von »Abschreckung« und »Verteidigungsfähigkeit«? Er fordert massive Aufrüstung, mehr Waffen, mehr Soldaten. Doch wozu? Welches Ziel wird hier wirklich verfolgt – außer einem neuen Wettrüsten auf dem Rücken der Bevölkerung? Ich kann es nicht erkennen. Vielleicht sollte man Herrn Rutte direkt fragen – und auch gleich, wer am Ende den Preis dafür bezahlt.
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