Mit doppeltem Boden
Von Kai Köhler
Im Frühjahr 2022 schien es für einige Wochen so, als würde russische und sowjetische Kultur in Deutschland gecancelt. Das Konzerthaus Berlin hielt nach der Ausweitung der Kämpfe in der Ukraine zwar an einem geplanten kleinen Schostakowitsch-Festival fest, ersetzte aber vorsichtshalber die siebte (die »Leningrader«) Sinfonie durch die in der Vorkriegszeit entstandene fünfte. Nun, drei Jahre später, gab es in Leipzig im Vorgriff auf den 50. Todestag des Komponisten im August ein großes Schostakowitsch-Festival, in dessen Zentrum mit drei Aufführungen ausgerechnet die »Leningrader« stand. Warum, das erklärte Dirigent Andris Nelsons in einem kurzen Video. Entstanden sei die Sinfonie zwar 1941 als Reaktion auf Hitlers Blockade der Stadt, doch habe sie ebenso die Unterdrückung ihrer Bewohner durch Stalin zum Thema. Als Protest gegen jeden Krieg sei sie aktuell, weil sich die historischen Ereignisse in der Gegenwart wiederholten.
Das mag man als Warnung vor Putin oder vor deutscher Kriegstüchtigkeit verstehen, ermöglichte jedenfalls eine Werkschau, wie es sie im Westen vermutlich seit 1984/85 in Nordrhein-Westfalen, in Zusammenarbeit mit sowjetischen Institutionen, nicht mehr gab. Was damals über mehrere Monate und viele Städte verteilt stattfand, war nun in Leipzig auf gut zwei Wochen konzentriert. Es gab alle 15 Sinfonien zu hören. Teils spielten die beiden Klangkörper, die Nelsons leitet, nämlich das Boston Symphony Orchestra und das Gewandhausorchester Leipzig; die Mehrzahl aber wurde durch ein eigens zusammengestelltes Festivalorchester aufgeführt, das aus jungen Musikern aus den Nachwuchsakademien von Leipzig und Boston sowie Studierenden der Leipziger Hochschule für Musik und Theater bestand. Das Quatuor Danel brachte alle 15 Streichquartette. Auf dem Programm standen zudem die sechs Solokonzerte, alle wichtigen Kammermusikkompositionen und mehrere Liederzyklen. Die Leipziger Oper nahm ihre Inszenierung der »Lady Macbeth von Mzensk« wieder auf. Das Salonorchester Cappuccino stellte Bühnen- und Unterhaltungsmusik von Schostakowitsch vor. Die Deutsche Schostakowitsch-Gesellschaft veranstaltete eine Tagung zum Thema »Schostakowitschs komponierende Kollegen« und zeigte so, wie Schostakowitsch in Zusammenhängen zu verstehen ist.
Man vermisste allein die Filmmusiken. Zu sehen gab es an Filmen lediglich »Fünf Tage, fünf Nächte« (1961) von Leo Arnstam, keineswegs eine von Schostakowitschs besten Arbeiten in diesem Genre, eher eine Pflichtübung. Zentral hingegen ist die Zusammenarbeit mit den Regisseuren Grigori Kosinzew und Leonid Trautwein, die von »Das neue Babylon« (1929), der von der Pariser Commune handelt, bis zu Kosinzews »König Lear« (1971) reicht.
Abgesehen davon gab es viele Möglichkeiten, im zeitlich konzentrierten Programm neue Verbindungslinien zu entdecken. Dabei ist natürlich die Dramaturgie einzelner Konzerte wichtig. Wer alles bringen will, bringt auch das, was man normalerweise nicht bringt. Unter den Sinfonien betrifft dies die Nummern zwei (»An den Oktober«), drei (»Der 1. Mai«) und zwölf (»Das Jahr 1917«).
In den meisten Konzertprogrammen nimmt das gewichtigste Werk die Schlussposition ein. Hier war das jeweils nicht der Fall. Die zweite und dritte Sinfonie hört man fast nie, weil Schostakowitsch hier avantgardistische Mittel nutzt, die in der Stalin-Zeit abgeräumt wurden und auch das gegenwärtige Publikum nicht begeistern, und man jeweils einen Schlusschor aufbieten muss, der unmissverständlich kommunistische Texte zu singen hat. Der entsprechende Beitrag im Programmheft hat Seltenheitswert. Während sonst Autoren zu begründen versuchen, weshalb kaum je gespielte Werke ab sofort in die Konzertsäle der Welt gehören, ist hier die Rede von »Heldenlärm in der Mottenkiste«, mit Texten von »lausigem Niveau«. Aber Musiker wollen vor allem gut Musik machen, und so feuerte Andris Nelsons das Festivalorchester und den MDR-Rundfunkchor zu Aufführungen an, die den Elan und revolutionären Optimismus der Frühwerke von 1927 und 1930 vermitteln. Die viel beliebtere erste Sinfonie, die der Chronologie entgegen Anna Rakitina nach der Pause leitete, wirkte dagegen blass. Dies lag nicht an der Interpretation: Die Entwicklung von neoklassischer Spielerei am Sinfoniebeginn zum Ernst der späteren Teile hat man kaum je so deutlich gehört. Doch experimentiert Schostakowitsch in diesem leichteren Werk noch mit Mitteln, die er später souverän einsetzt.
Ein Motiv aus der Schlusspassage der zweiten Sinfonie griff Schostakowitsch viel später in der zwölften auf, die ebenfalls die Oktoberrevolution zum Stoff hat. 1961 schrieb er aber ein vergleichsweise konventionelles Werk, das die Entwicklung von Kampf (1. Satz: »Das revolutionäre Petrograd«) zum Sieg (4. Satz: »Morgenröte der Menschheit«) nachvollzieht. Auch hier verdeutlichten Nelsons und das Festivalorchester mit straffen Tempi und voller Klangmacht die kompositorische Qualität. Nach der Pause folgten weniger pathetische Werke, nämlich das erste Klavierkonzert und die neunte Sinfonie.
Pianist Daniil Trifonow gewann, weil er weder vorm Sentimentalen noch vorm Halsbrecherisch-Virtuosen zurückscheute und damit zeigte, wieviel das Klavierkonzert von 1933 mit Zirkus und Stummfilmkomödie gemeinsam hat. Doppelbödig sind bereits Schostakowitschs frühe Werke. Das sollte Warnung genug davor sein, dieselben Mittel in späteren Kompositionen als Stalin-Kritik aufzufassen. 1945 sorgte die neunte Sinfonie für Irritationen: Den gewichtigen Kriegssinfonien sieben und acht folgte keine gleichermaßen pathetische Feier des Sieges, sondern ein schlankes Werk, das Erinnerungen an die vergangenen Schrecken nur zitiert und mit einem völlig überdrehten Geschwindmarsch endet. Damit nahm Schostakowitsch seine früheren utopischen Muster wieder auf, die aber im neuen Zusammenhang schwer verständlich waren. Eine Qualität des Leipziger Festivals bestand – über das Musikalische hinaus – darin, solche Verbindungen hörbar zu machen.
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Leserbrief von Fred Buttkewitz aus Ulan - Ude (4. Juni 2025 um 10:23 Uhr)»Das (....) ermöglichte jedenfalls eine Werkschau, wie es sie im Westen vermutlich seit 1984/85 in Nordrhein-Westfalen (...) nicht mehr gab. Was damals über mehrere Monate und viele Städte verteilt stattfand, war nun in Leipzig auf gut zwei Wochen konzentriert.« Statt die ungeheure Menge der genannten Werke von Schostakowitsch in einen Zeitraum von nur zwei Wochen in Aufführungen einer einzigen Stadt hinein zu drängen, wäre es weit klüger gewesen, auch in Sachsen dem Beispiel von Nordrhein - Westfalen zu folgen. Ansonsten kann weder der Konzertbesucher eine solche Fülle des Angebotes wahrnehmen, noch können die einzelnen Ensembles dem einzelnen Meisterwerk probentechnisch in jedem Fall die nötige Zeit und Gründlichkeit zukommen lassen. Es mag noch angehen, wenn ein Pianist alle 32 Klaviersonaten Beethovens verteilt über eine ganze Konzertsaison spielt. Jedoch alle 15 Streichquartette von Schostakowitsch von einem Ensemble in zwei Wochen zur Aufführung zu bringen zeugt nur davon, dass man sich diesen Werken allzu überlegen fühlt. Die Leningrader Philharmonie unter Mravinsky konnte natürlich als Uraufführungsorchester der Werke Schostakowitschs auf einem reichen Erfahrungsschatz aufbauen und sich zudem mit dem Komponisten persönlich beraten. In den letzten Jahren seines Lebens dirigierte Mravinsky dennoch nur noch zwei Hauptwerke: Beethoven, 5. Sinfonie und Schostakowitsch, 5. Sinfonie. In der nächsten Konzertsaison ebenfalls. Für jedes dieser Werke setzte er jedes Mal acht Proben an. Solche Probenzeiten sind bei dem heutigen Niveau der Orchester zwar nicht mehr nötig, wären aber bei einem Jugendorchester - wie im hier aufgeführten Fall - durchaus nicht überflüssig gewesen, wenn man statt dreier Sinfonien nur eine gespielt hätte. Es geht nicht um WerkSCHAU oder um unbedingte Vollständigkeit, sondern immer um Qualität. Ein mit äußerster Sorgfalt behandeltes Einzelwerk wird dann einen bleibenderen Eindruck hinterlassen, als manch Festival.
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