Volle Dröhnung
Von Oliver Rast
Vollgepumpt mit Schlaf- und Beruhigungspillen. Ein Dämmerzustand, eine Art Wachkoma. Unterbrochen durch Panikattacken und Depressionsschübe. Viele Bewohnerinnen und Bewohner in deutschen Pflegeheimen leben nicht, sie vegetieren. Doch es gibt regional große Unterschiede bei der Dauermedikation mit »Dragées«, die plattmachen. Ein Befund aus dem sogenannten Qualitätsatlas Pflege der Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOK), der vom wissenschaftlichen Institut der AOK (WIdO) am Montag in Berlin vorgestellt wurde.
Was wird seitens der Ärzte in Pflegeheimen dauerverordnet? Etwa Benzodiazepine, Benzodiazepin-Derivate und Z-Substanzen. Arzneien, die anfangs schlaffördernd, beruhigend und angstlösend wirken – allerdings nur kurzfristig, »denn nach vier Wochen sind diese Effekte nicht mehr gegeben«, so die WIdO-Forscher gleichentags in ihrer Pressemitteilung. Statt dessen machten jene Mittel stark abhängig. Die Folgen: Angst, Schwermut, Betrübnis und nicht zuletzt eine erhöhte Sturzgefahr für die Pflegeheimbewohner.
Laut des WIdO-Qualitätsatlas erhielten hierzulande 7,14 Prozent der Heiminsassen im Jahr 2023 eine entsprechende medikamentöse Dauerverordnung. In Deutschland zählten diese Wirkstoffe »zu den häufigsten potentiell inadäquat verschriebenen Medikamenten für ältere Menschen«, wurde Susann Behrendt, Forschungsbereichsleiterin Pflege im WIdO, in der Mitteilung zitiert. Aktuelle Erkenntnisse darüber, wie viele Menschen speziell in Pflegeheimen davon betroffen seien, lägen bisher kaum vor. »Mit unserer Auswertung sorgen wir hier für mehr Transparenz.«
Zum Zahlenwerk im einzelnen: Der sogenannte Verordnungsanteil war 2023 im Saarland mit 15,88 Prozent doppelt so hoch wie im bundesweiten Schnitt. Auch Nordrhein-Westfalen (12,15 Prozent), Baden-Württemberg (9,07 Prozent) und Rheinland-Pfalz (7,69 Prozent) lagen im Spitzenfeld bei den risikoreichen Dauerverordnungen. Auffallend ist dabei das West-Ost-Gefälle. Den geringsten Wert ermittelte das WIdO für Sachsen-Anhalt – »hier lag der Verordnungsanteil bei nur 2,90 Prozent«.
Ein weiterer Befund: Die Versorgung von Diabetesbetroffenen in Heimen ist mangelhaft. Demnach hätten 79 Prozent von ihnen im Jahr 2023 keine augenärztliche Vorsorge bekommen. Fatal, zumal gerade der Erhalt der Sehkraft ein wesentlicher Faktor für Lebensqualität und Selbständigkeit sei, betont Behrendt. »Bei Verlust drohen soziale Isolation, psychische Beeinträchtigungen sowie ein erhöhtes Risiko für Verletzungen.«
Besonders fatal sind sturzbedingte Klinikaufenthalte bei zu Pflegenden. Jeder sechste Heiminsasse wird statistisch wegen eines Sturzes stationär versorgt. Damit blieb der Anteil der betroffenen betagten, multimorbiden Personen im Vergleich zu den Vorjahren konstant hoch. Wirkstoffe, die die Sturzgefahr erhöhen, teils erheblich sogar, sind: Antidepressiva, Antipsychotika, Hypnotika/Sedativa, aber auch Benzodiazepine und Anxiolytika. Wiederum ist die »regionale Varianz« auffallend: In Mecklenburg-Vorpommern waren es demnach knapp 13 Prozent der untergebrachten Pflegebedürftigen, die infolge von Stürzen ins Krankenhaus gefahren werden müssten, in Rheinland-Pfalz sogar 18,45 Prozent.
Die Auswertung für den »Qualitätsatlas Pflege« basiert auf den Abrechnungsdaten der elf AOK, die rund ein Drittel der BRD-Bevölkerung versichern. Dabei haben die WIdO-Analysten die Daten von rund 350.000 Pflegeheimbewohnenden ab 60 Jahren berücksichtigt. Das entspricht nach Institutsangaben knapp der Hälfte aller stationär versorgten Pflegebedürftigen in Deutschland.
Fazit: Prophylaxe und Prävention in den Pflegeheimen fehlen bisweilen, Schlaf- und Beruhigungsmittel werden lax und teils maßlos verabreicht, stationäre Klinikaufenthalte am Lebensende sind oftmals vermeidbar. Übersetzt: Die Pflege ist in der Krise, erträglich nur zugedröhnt und zugeknallt.
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