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Aus: Ausgabe vom 04.06.2025, Seite 3 / Schwerpunkt
Polen

Liberale Dolchstoßvorwürfe

Präsidentschaftswahlen in Polen: Auch »Razem«-Anhänger stimmten für PiS-Kandidaten
Von Reinhard Lauterbach, Poznań
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Bei der ersten Runde war noch klar, für wen sie stimmen sollten: Vor der Stichwahl gab Zandberg seinen Anhängern jedoch keine Empfehlung (Warschau, 18.5.2025)

Formal gesehen hatte Adrian Zandberg, Kovorsitzender der ursprünglich linkssozialdemokratischen Partei »Razem«, natürlich recht, als er nach dem ersten Wahlgang zur polnischen Präsidentschaft ablehnte, eine Abstimmungsempfehlung für den Regierungskandidaten Rafał Trzaskowski abzugeben. Seine Wähler hätten ihren eigenen Kopf und wüssten selbst, was sie für richtig hielten. Aus Nachwahlbefragungen ergibt sich, dass von den 922.685 Wählern, die am 18. Mai Zandberg gewählt hatten, 84 Prozent für Trzaskowski gestimmt haben müssen – aber eben auch 16 Prozent, jeder sechste, für den PiS-Kandidaten Karol Nawrocki.

Das wären knapp 148.000 Stimmen von »Razem«-Anhängern aus der ersten Runde für Nawrocki in der zweiten. Dessen Vorsprung gegenüber Trzaskowski in der Stichwahl hatte nach offiziellen Angaben vom Montag 369.591 Stimmen betragen. Die Zahl der »abtrünnigen« »Razem«-Wähler hätte also das Verhältnis beider Kandidaten rein rechnerisch nicht umkehren können. Der Sieg Nawrockis wäre im hypothetischen Fall, dass die »Razem«-Wählerschaft geschlossen für Trzaskowski gestimmt hätte, nur noch knapper geworden, als er sowieso ausgefallen ist. Somit entbehren alle Dolchstoßvorwürfe gegen »Razem«, die jetzt im liberalen Lager kursieren, der rechnerischen Grundlage.

Gleichwohl bleibt es ein politisch auffälliges Phänomen, dass ein relevanter Teil des Publikums einer Partei, die die politische Bühne mit basisdemokratischen und beschäftigtenfreundlichen Positionen betreten hat, jetzt für jemanden gestimmt hat, der auf den ersten Blick für gesellschaftspolitischen Rückschritt auf der ganzen Linie eintritt. Aber das trifft nur für die kulturell-symbolische Ebene zu. Im Bereich der Sozialpolitik ist es nicht ganz so eindeutig. So hat Nawrocki am Montag auf die Frage, ob er auch auf die Wähler seines Gegenspielers zugehen werde, geantwortet: selbstverständlich. Zum Beispiel, indem er einen Gesetzentwurf gegen den Anstieg der Energiepreise einbringen werde.

Auch wenn man das noch als billigen Populismus einschätzt – dass es in der PiS eine sozialpaternalistisch orientierte Strömung gibt, ist bekannt. Was von ihr in einer eventuellen künftigen Koalition mit der marktradikalen »Konföderation« übrigbleiben würde, ist eine andere Frage; aber einstweilen hält sie sich noch. Und auf diesem Gebiet haben sich schon in den letzten Jahren Parallelen zwischen PiS und »Razem« ergeben. So machte die »Razem«-Abgeordnete Paulina Matysiak im Sommer 2024 Furore, als sie gemeinsam mit dem PiS-Politiker Marcin Horała einen Appell für den Weiterbau – genaugenommen den Baubeginn, denn noch ist in der Sache wenig passiert – eines polnischen Zentralflughafens zwischen Warschau und Łódź unterzeichnete. Das Papier trägt den Titel »Ja zur Entwicklung«. Ähnliche Appelle haben »Razem«-Politiker bis hinauf zu Zandberg auch schon für den Bau von Atomkraftwerken und für andere staatliche Investitionen veröffentlicht.

Insofern war der der parteiinterne Sturm gegen Matysiak nach dieser Äußerung eher Schaumschlägerei. Er ist inzwischen auch abgeflaut. Von dem 2024 angestrengten Ausschlussverfahren gegen die Politikerin ist nichts mehr zu hören. Der eine Grund ist, dass die Abgeordnete für »Razem« plötzlich politisch wertvoll wurde, als sich die Linksfraktion im Oktober 2024 gespalten hat und fünf »Razem«-Abgeordnete eine eigene Gruppe im Parlament gebildet haben. Fünf Mitglieder sind nämlich die Mindestanzahl, die die Geschäftsordnung des Sejm dafür fordert.

Doch der eigentliche Grund für die Flirts zwischen »Razem« und der PiS ist ein anderer. Und er ist lange formuliert: »Es ist dies würdig der Einbildung Lassalles, dass man mit Staatsanlehn ebensogut eine neue Gesellschaft bauen kann wie eine neue Eisenbahn«. (Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms). Im Zeichen des Etatismus scheint jetzt auch in Polen zusammenzufinden, was zusammengehört.

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