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Aus: Ausgabe vom 03.06.2025, Seite 16 / Sport
Radsport

Wider alle Vernunft

Vornehme Zurückhaltung: Simon Yates gewinnt den 108. Giro d’Italia
Von Holger Römers
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Auf und davon: Simon Yates (r.) und Kollege Wout van Aert (Rom, 1.6.2025)

Am Sonntag gipfelte der 108. Giro d’Italia im zweiten Sprintsieg des 23jährigen Niederländers Olav Kooij (Team Visma – Lease a Bike). Doch schon vor Beginn der 21. Etappe war die Punktewertung, auf die der Schlusssprint noch zusätzlich hätte Einfluss nehmen können, längst entschieden: Nachdem Mads Pedersen (Lidl – Trek) als Sieger der Auftaktetappe erstmals die Maglia Ciclamino übergestreift hatte, hatte der 29jährige Däne in dieser Kategorie bald einen uneinholbaren Vorsprung. Ähnliches galt für den gleichaltrigen Italiener Lorenzo Fortunato (XDS Astana Team), der das Blaue Trikot der Bergwertung nach dem dritten Tag nicht mehr aus der Hand gab. Dass der 21jährige Mexikaner Isaac Del Toro (UAE Team Emirates – XRG) das Weiße Trikot des besten U26-Fahrers gewinnen würde, schien wiederum seit Dienstag klar, als der ein Jahr ältere Kollege Juan Ayuso viel Zeit verlor, woraufhin der Spanier zwei Tage später mit Bienenstich am Auge aufgab. Aber noch am Sonnabend mittag hätte kaum jemand für möglich gehalten, dass Simon Yates (Team Visma – Lease a Bike) sich wenige Stunden später mit einem herrlichen Parforceritt das Rosa Trikot sichern würde – und zwar ausgerechnet an jenem Berg, an dem er als scheinbar souveräner Gesamtführender 2018 ein Fiasko erlebt hatte.

Seit der Brite im selben Jahr die Vuelta a España gewonnen hatte, hatte er bei Grand Tours dreimal die Top ten erreicht. Doch 2025 hatte der 32jährige vorm Giro nichts vorzuweisen. In den ersten zweieinhalb Wochen dieses aufregenden Rennens schlich Yates auf einen Podiumsplatz, einfach indem er Fehler und Pech vermied. Für seine Vorsicht war bezeichnend, dass er sich nach der freitäglichen Bergetappe, die dem 28jährigen Franzosen Nicolas Prodhomme (Decathlon AG2R La Mondiale Team) als Ausreißer einen Solosieg bescherte, über die Taktik seiner Mannschaft beschwerte. Die hatte ihn offenbar zum Angriff animieren wollen, indem sie mehrere Kollegen in die Fluchtgruppe schickte und später das Peloton durch Tempoarbeit unter Druck setzte. Doch Yates hielt sich zurück – im Gegensatz zum wagemutigen Richard Carapaz (EF Education – Easypost): Der 32jährige Gesamtzweite attackierte jeweils kurz vor der Kuppe der letzten beiden Anstiege, was der Gesamtführende Del Toro beide Male parierte, um schließlich vorm Ecuadorianer Etappenzweiter zu werden und seinen Vorsprung gegenüber diesem auf 43 Sekunden auszubauen.

Am Sonnabend tat Carapaz dem Publikum den Gefallen, schon am Fuß des Colle delle Finestre seine spektakuläre Offensive zu beginnen. Del Toro konnte als einziger folgen, wollte aber bremsen, indem er am 18 Kilometer langen, von Schotterpassagen geprägten Anstieg beharrlich am Hinterrad des Konkurrenten blieb. Das ermöglichte Yates das Aufschließen – und das Davonfahren. Dass Carapaz den Drittplazierten ziehen ließ, machte klar, dass er als Giro-Sieger von 2019 alles auf einen erneuten Gesamtsieg setzte. Um die Chancen eines finalen Angriffs zu erhöhen, wollte er den Gesamtführenden zur Führungsarbeit nötigen, wobei er freilich zum eigenen Nachteil dessen taktische Unerfahrenheit unterschätzte.

Selbst als Yates seine 81 Sekunden Rückstand im Gesamtklassement ausglich, verweigerte Del Toro nämlich weiterhin die Führung – obwohl der Brite am Schlussanstieg nach Sestriere auf Wout van Aert rechnen konnte. Dank perfekter Mannschaftstaktik war der Kollege aus der Fluchtgruppe des Tages übrig, aus der derweil der 30jährige Australier Chris Harper (Team Jayco AlUla) solo zum Tageserfolg fuhr. Wider alle Vernunft wartete der Mexikaner nun seinerseits auf abgehängte Kollegen, nur um von ihnen – sowie von Carapaz und einigen herangefahrenen Klassementfahrern – fünf Minuten nach Yates ins Ziel begleitet zu werden. Dass Del Toros Niederlage einer kolossalen Fehlkalkulation geschuldet war, unterstrich sein zweckloser Schlussspurt, der Kraftreserven offenbarte.

Am Dienstag noch hatte er sich sichtlich verausgabt: Auf der vom 27jährigen italienischen Ausreißer Christian Scaroni (XDS Astana Team) gewonnenen Bergetappe, auf der der anfängliche Topfavorit Primož Roglič (Red Bull – Bora-Hansgrohe) nach einem weiteren Sturz entnervt aufgab, war Del Toro durch einen Angriff von Carapaz erstmals dramatisch ins Hintertreffen geraten. Tags darauf schlug das mexikanische Supertalent allerdings mit einem Etappensieg zurück, so dass seine Giro-Bilanz denn auch sehr gemischt ausfallen dürfte. Ungetrübte Freude sollte indes beim 31jährigen Deutschen Nico Denz (Red Bull – Bora-Hansgrohe) herrschen, der am Mittwoch mit sicherem Instinkt als Ausreißer zu einem Solosieg fuhr.

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